„Risikominderung?“ Mehr Handel mit China!
Von Helga Zepp-LaRouche
Die Vorsitzende des Schiller-Instituts eröffnete am 7. Juni mit
dem folgenden Vortrag ein Symposium mit China-Experten über die gefährlichen
Folgen der Bestrebungen, die wirtschaftlichen Beziehungen zu China
abzubrechen.
Mit diesem Seminar wollen wir Alarm schlagen, die gegenwärtige
Wirtschaftspolitik dringend zu überprüfen und grundsätzlich zu überdenken, wo
die existentiellen wirtschaftlichen, politischen, sozialen und
sicherheitspolitischen Interessen Deutschlands und der anderen europäischen
Nationen liegen. Es geht um weit mehr als die wirtschaftlichen Beziehungen
zwischen Europa und China, es geht um die Existenz des Industriestaates
Deutschland und damit, wegen der Blockade der deutschen Wirtschaft, um ganz
Europa. Und es geht um die Frage von Krieg und Frieden.
Denn letztlich gibt es keinen nennenswerten Unterschied zwischen der
„Entkopplung“ (de-coupling) von China, die von den Vereinigten Staaten
und Großbritannien vorangetrieben wird, und der „Risikominderung“
(de-risking) – eine schreckliche Orwellsche Doppelzüngigkeit –, die von
der EU, der deutschen Regierung und der G7 propagiert wird. Beides würde im
wesentlichen zum gleichen Ergebnis führen, nämlich dem Versuch des „Nordens“,
nicht nur gegen China vorzugehen, sondern auch gegen die BRICS, deren
Mitgliedschaft weit mehr als 30 Länder beantragt haben, und faktisch gegen den
gesamten Globalen Süden.
Der ehemalige Präsident Malaysias, Dr. Mahatir Mohamad, äußerte kürzlich
die Einschätzung, daß eine Aufteilung der Welt in zwei getrennte
Wirtschaftsblöcke die bereits schreckliche Sicherheitskrise auf jeden Fall
weiter verschärfen und ziemlich sicher zu einem dritten Weltkrieg führen
würde. Ich stimme dieser Einschätzung zu.
Der endgültige Schlag für die deutsche Wirtschaft
Für die deutsche Wirtschaft würde das sogenannte „De-Risking“, das
eigentlich ein Codewort für die geopolitische Konfrontation ist, den Todesstoß
bedeuten. Die Sanktionspolitik gegen Rußland hat Rußland nicht besonders
geschadet, es hat im wesentlichen Marken wie VW, Conti, Miele etc. durch die
chinesischen Marken Chery, Great Wall Motors, Geely, Xiaomi etc. ersetzt.
Durch die Unterbrechung der Versorgung mit billigem russischem Gas – eine
Folge der Sanktionen gegen Rußland sowie der Sabotage der
Nord-Stream-Pipelines und des erstaunlichen Desinteresses der deutschen
Regierung, die Hintergründe dieses Verbrechens aufzuklären – hat die deutsche
Industrie die jahrzehntelangen Milliarden-Subventionen für billige russische
Energie verloren und muß nun für teures US-Flüssiggas zahlen.
Das amerikanische Inflationsbekämpfungs-Gesetz ist ein weiteres Element der
Schaffung eines für die deutsche Industrie unfreundlichen Umfelds.
BDI-Präsident Siegfried Russwurm zufolge haben bereits 16% der deutschen
Unternehmen mit einer Verlagerung in andere Länder begonnen, allen voran in
die USA und nach China, und weitere 30% denken konkret darüber nach. Das
bedeutet, daß 46% und möglicherweise noch mehr erwägen, den Standort zu
verlassen – die Hälfte der deutschen Industrie! Das ist der Beginn einer
völligen De-Industrialisierung Deutschlands!
Zudem ist das „Made in Germany“ wegen der jahrzehntelangen Konzentration
auf „grüne“ Technologien mit geringer Energieflußdichte keine Werbung mehr für
Spitzenleistung; selbst die deutsche Photovoltaik-Industrie, die lange Zeit
als potentieller Weltmeister gepriesen wurde, wurde inzwischen von China
abgelöst. 2022 lag die Inflationsrate bei 7,9%, und die Reallöhne sind zum
dritten Mal in Folge eingebrochen, seit Jahresbeginn um etwa 4%. Deutschland
befindet sich offiziell in einer Rezession, die u.a. auf einen einbrechenden
Konsum und sinkende Kaufkraft der Bevölkerung zurückzuführen ist. Der Verkauf
von Lebensmitteln schrumpfte im März um 13,4%, der von Möbeln und
Baumaterialien um 10,9%.
Die Deutsche Bank hat soeben einen Bericht veröffentlicht, wonach in den
USA und im Bereich der Unternehmensanleihen, aber auch bei europäischen
Hochzinsanleihen eine „Ausfallwelle“ bevorsteht. Und das ist nur die Spitze
des Eisbergs. Die jüngsten Insolvenzen von US-Banken und der Schweizer Credit
Suisse sowie das Schwanken der Zentralbanken zwischen Quantitativer Lockerung
(QE) und Quantitativer Drosselung (QT) sind Anzeichen für eine drohende Krise
des Systems der frei schwankenden Wechselkurse, die 2008 nicht gelöst wurde.
Dieses System hat eine Spekulationsblase von zwei Billionen Dollar angehäuft,
die prinzipiell unhaltbar ist.
Die neue Realität
Wenn Deutschland und andere europäische Staaten fordern, sich von China zu
lösen, ist das selbstmörderisch, ganz gleich, welches Wort man dafür
verwendet. Vor allem wird bei solchen Plänen völlig die Realität ignoriert,
daß die Welt derzeit tektonische Veränderungen durchläuft, die es notwendig
machen, daß jedes Land über seine wahren Interessen in dieser sich rasch
verändernden Welt nachdenkt.
Erstens wurde schon seit einiger Zeit, besonders aber seit Präsident Xi
Jinping vor zehn Jahren die Gürtel- und Straßen-Initiative (BRI) initiierte,
mit diesem größten Infrastruktur- und Entwicklungsprojekt der
Menschheitsgeschichte die Dynamik auf der Welt völlig verändert. 150 Länder
und 30 große internationale Organisationen arbeiten mit der BRI zusammen, und
eine enorme Anzahl von Projekten, Entwicklungskorridoren, Industrieparks,
Schnellbahnen, Autobahnen, Häfen, Energie- und Landwirtschaftsprojekten etc.
bieten diesen Entwicklungsländern zum ersten Mal die Chance, Armut und
Unterentwicklung zu überwinden. Entgegen den in den Medien verbreiteten
Erzählungen über „Schuldenfallen“ haben diese Länder China als verläßlichen
Freund kennengelernt, der seinen Win-Win-Ansatz ernst meint.
Während das transatlantische System am Rande des Zusammenbruchs steht,
haben sich die Wachstumszahlen in China und in Asien allgemein durch die
Pandemie nur geringfügig reduziert, was die Tatsache widerspiegelt, daß die
chinesische Wirtschaft der wahre Wachstumsmotor der Weltwirtschaft bleibt.
Zweitens: Anstatt Chinas Aufstieg als Chance zu ergreifen und Chinas
Angebote zur Zusammenarbeit beim Aufbau der BRI als Weg zur Transformation der
Länder des Globalen Südens anzunehmen, beschreiben die Vereinigten Staaten,
Großbritannien und zunehmend auch die EU China nicht mehr als „Partner“,
sondern mehr und mehr als „Konkurrenten“ und „Rivalen“, mit der Konsequenz,
daß sie versuchen, Chinas Wirtschaftswachstum zu unterdrücken.
In Verbindung mit dem Versuch, das Entstehen einer multipolaren Welt zu
verhindern, ist der allgemeine Eindruck entstanden, daß der Dollar als Waffe
mißbraucht wird. Das Ergebnis ist ein weitreichender Prozeß der
„Entdollarisierung“, des Handels in nationalen Währungen zwischen vielen
Ländern des Globalen Südens, und das Bestreben, eine neue, vom Dollar
unabhängige internationale Währung einzuführen. Das Hauptziel dieser
Bemühungen ist die Schaffung unabhängiger Mittel zur Kreditschöpfung für
Investitionen in die Entwicklung, die bisher unter dem Regime der Weltbank und
der IWF-Konditionalitäten unmöglich sind. Der brasilianische Präsident Lula da
Silva hat die Neue Entwicklungsbank (NDB) mit Sitz in Shanghai als künftige
„Großbank des Globalen Südens“ angekündigt.
Es liegt auf der Hand, daß die 150 Länder, die mit der BRI, den BRICS-Plus
und vielen anderen Organisationen des Globalen Südens zusammenarbeiten, die
große Mehrheit der Menschheit bilden. Diese Länder haben den Geist von Bandung
der Blockfreien-Bewegung wiederbelebt und sind fest entschlossen, alle
Überreste des kolonialen Systems zu überwinden und ihr angeborenes Recht zu
verwirklichen, vollentwickelte Nationen zu werden, die ihren Bevölkerungen die
Chance bieten, ihr Potential als menschliche Wesen zu entfalten.
Angesichts dieser epochalen Entwicklungen liegt es im natürlichen
Eigeninteresse Deutschlands und der anderen europäischen Nationen, nicht nur
mit China, sondern mit diesem gesamten neu entstehenden System zu kooperieren
und das Blockdenken, das nur in die allgemeine Zerstörung führen kann, zu
überwinden. Im Zuge von Präsident Xis Ankündigung haben wir vom
Schiller-Institut 2014 unsere umfassende Studie „Die Neue Seidenstraße wird
zur Weltlandbrücke“ veröffentlicht – eine Blaupause für die infrastrukturelle
Integration unseres Planeten durch Brücken und Tunnel zwischen den Kontinenten
und die generelle infrastrukturelle Erschließung der Binnengebiete durch
sogenannte Entwicklungskorridore. Dies wird letztendlich die Standortnachteile
der landeingeschlossenen Gebiete der Welt beseitigen und Entwicklung in alle
Länder der Erde bringen. Mehrere solche Projekte werden inzwischen von China
realisiert, wie z.B. der Wirtschaftskorridor China-Pakistan oder die
Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnlinie Bandung-Jakarta, die Eisenbahnlinie
Dschibuti-Äthiopien und viele andere. Aber es ist auch klar, daß es viel Raum
und sogar die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit aller Nationen gibt, um die
dringendsten Entwicklungsanforderungen zu erfüllen.
Für Deutschland und andere europäische Länder ist eine positive Zukunft
ohne die Zusammenarbeit mit dem Globalen Süden unmöglich. Es ist also nicht
nur das Verhältnis zu China, das neu definiert werden muß, sondern auch die
Zusammenarbeit mit dem entstehenden Neuen Paradigma in den internationalen
Beziehungen. Es ist dringend notwendig, daß wir den Weg zum Frieden
zurückfinden, ohne den wir die Auslöschung unserer Gattung riskieren. Und auch
wenn dies angesichts der gegenwärtigen strategischen Lage schwierig erscheint,
so ist es doch der größte Gefallen, den die europäischen Länder sich selbst
und ihrem amerikanischen Verbündeten tun können, daß sie durch mehr
Zusammenarbeit und Handel mit China ihr Risiko mindern.
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