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Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
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Biodiversität: Mensch und Natur als ko-konstruktives Ganzes

Die wissenschaftliche Ökologie wird durch magisches Denken instrumentalisiert

Von Christian Lévêque

Christian Lévêque ist emeritierter Forschungsdirektor am Institut de Recherche pour le Développement (IRD) und Spezialist für aquatische Ökosysteme, Ehrenpräsident der Académie d'Agriculture de France und Mitglied der Académie Sciences d'Outre Mer. Er übermittelte den folgenden Videobeitrag für den fünften Abschnitt der Straßburger Konferenz des Schiller-Instituts. (Übersetzung aus dem Französischen, Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion hinzugefügt.)

Hallo zusammen, ich werde versuchen, Ihnen in wenigen Minuten zu erklären, warum die wissenschaftliche Ökologie derzeit durch magisches Denken instrumentalisiert wird.

Wir im Westen haben aus der Heiligen Schrift die Vorstellung übernommen, daß Gott eine perfekte, harmonische und ausgewogene Welt geschaffen hat. Das ist unser theologisches Erbe, das es in anderen Kulturen nicht unbedingt gibt, das aber zur tragenden Säule militanter Umweltbewegungen geworden ist, zum Beispiel der großen internationalen Naturschutz-NGOs, wie dem WWF, die alle westlich dominiert sind. Die Hauptaussage dieser Bewegungen ist, daß der Mensch die herrliche unberührte Wildnis zerstört, die uns von Gott hinterlassen wurde, und daß wir damit die Zukunft der Menschheit gefährden. Deswegen sei die schöne Natur eine Natur ohne den Menschen. Das ist die amerikanische Wildnis oder die europäische Natürlichkeit: Schöne Natur ist Natur ohne den Menschen. Wenn wir an Naturschutzgebiete denken: Sie wurden alle irgendwann einmal „vor dem Menschen geschützt“.

Das ist das große internationale Geschäft des Naturschutzes, das vor allem von den großen internationalen Konzernen betrieben wird und das wohl auch in etlichen tropischen Ländern, vor allem in Afrika und auch in Asien, Einzug gehalten hat. Die Absicht ist, Gebiete auszuweisen, in denen die Bevölkerung aus ihrem natürlichen Lebensraum entfernt werden soll, um unbesiedelte Zonen zu schaffen, in denen sich die Natur frei entfalten kann.

Ein interessantes Buch auf diesem Gebiet heißt „Die Erfindung des grünen Kolonialismus“ von Guillaume Blanc, einem Historiker, der aufzeigt, wie der WWF in Afrika vorgegangen ist, um Nationalparks einzurichten.

Die Politik dieser NGOs ist immer noch aktuell, denn auf der COP15-Konferenz zur Konvention über die Artenvielfalt, die 2022 in Montreal stattfand, verpflichteten sich 180 Länder, 30% der Erde bis 2030 unter Naturschutz zu stellen! 30% des Planeten sind kein Pappenstiel, und es stellt sich die Frage: Wenn wir tatsächlich 30% schützen – selbst unter dem Vorbehalt, daß die Bevölkerung vor Ort vielleicht an diesem Schutz beteiligt wird –, was machen wir dann mit den Menschen, die abgesondert werden? Schließlich geht es bei diesen Schutzgebieten darum, die Natur vor menschlichen Eingriffen zu bewahren!

Woher kommt diese Vorstellung, daß die Natur schön und reichhaltig ist – und nur das? Das Argument, daß die Natur dem Menschen feindlich gesinnt ist, hört man nicht oft, aber es ist die für viele Bürger der Welt tägliche Realität!

Diese Naturideologie basiert auf einer bukolischen und metaphysischen Vorstellung von Natur, die in städtischen und bürgerlichen Kreisen im 19. Jahrhundert in verschiedenen europäischen Ländern entstanden ist und der zufolge die Natur ein Ort der Erholung und der Freizeitgestaltung für bürgerliche Stadtbewohner ist.

Um es ganz klar zu sagen: Die Natur wird auch in Klassen aufgeteilt. Es gibt die Klasse der wohlhabenden städtischen Bürger, für die die Natur ein Ort der Entspannung ist, und es gibt die Klasse der Arbeiter und Landbewohner, die damals, im 19. Jahrhundert, meist Bauern waren, die eine ganz andere Vorstellung von der Natur hatten.

Diese Vision hat sich breitgemacht und wird nun auch von den Vereinten Nationen unterstützt, die beschlossen haben, daß es jedes Jahr einen „Tag der Mutter Erde“ geben soll, was bedeutet, daß wir in der Tat zur griechischen Erdgöttin zurückkehren, zur Verehrung der Muttergöttin Gaia, die in bestimmten südamerikanischen Religionen und Traditionen auch Pachamama genannt wird. In gewisser Weise wird die Natur so wieder zur Göttin gemacht.

Der Mythos der Apokalypse wird derzeit von den NGOs und von den Medien propagiert – denn auch die Medien spielen in diesem Bereich eine äußerst aktive Rolle. Demzufolge ist die Natur in großer Gefahr, und wir sind es, die sie gefährden.

Das wird nicht nur auf die Natur bezogen, sondern auch auf die Zukunft der Menschheit, mit Argumenten wie Überbevölkerung, Globalisierung der Systeme und des kapitalistischen Systems, das von der politischen Ökologie stark angegriffen wird, Mißbrauch wissenschaftlicher Innovationen, zum Beispiel, wenn wir über genetisch veränderte Organismen oder über Pestizide sprechen – all das trage zur Zerstörung der Natur bei. Man hört es oft: Rückgang der Artenvielfalt, Verschwinden von Vögeln, Verschwinden von Insekten... All das ist Ideologie – was nicht heißt, daß der Mensch keinen Einfluß auf die Natur hat, die Frage ist nur, wie man diese Erosion quantifizieren und globalisieren kann.

Die Landwirte haben ein anderes Bild der Natur

Wie ich vorhin schon sagte: die Menschen auf dem Land, die täglich mit der Natur zu tun haben, die Landwirte, die täglich mit der Natur zu tun haben, haben nicht dieselbe bukolische Vorstellung wie die Menschen in der Stadt, die die Natur eher als Vermittlerin erleben. Sie hatten und haben es immer noch mit gefährlichen Tieren, Schädlingen, Krankheiten usw. zu tun. In Afrika sind die meisten Krankheiten parasitäre Krankheiten, die von lebenden, biologischen Erregern übertragen werden. Und dann gibt es noch all die Katastrophengefahren – Überschwemmungen, Dürren usw. –, die dazu führen, daß das Leben eines Landwirts, eines Menschen, der im ständigen Kontakt mit der Natur steht, letztlich ziemlich ungewiß ist.

Früher gab es diesen Fatalismus: Wir haben den Schöpfer angefleht, wir haben z.B. in Europa „Fürbitten“ gehalten, wir haben zum Schöpfer gebetet, er solle uns gnädig sein. In vielen Religionen wendet man sich auch an Götter und Geister mit der Bitte um Gnade, wenn es um die landwirtschaftliche Produktion geht.

Die Realität der Ökologie, die uns nie in diesem Licht präsentiert wird, ist, daß der Mythos vom Paradies, in dem alles in Harmonie ist, in Wirklichkeit eine Phantasie ist. In der realen Welt der Ökologie gibt es Nahrungsketten, was bedeutet, daß jede Spezies eine andere Spezies fressen muß, um zu überleben – mit anderen Worten, andere Spezies werden getötet. In der Welt des Lebens und der Ökologie sind wir mit dem Paradox konfrontiert, daß dort ständig ein wahrer Holocaust herrscht, wobei eine Art die andere töten und fressen muß, um sich zu ernähren und zu vermehren.

© L’artilleur

Deshalb kam ich auf die Idee, ein Buch zu schreiben, mit dem Titel Le double visage de la biodiversité: La Nture n’est pas un jardin d’Eden („Das doppelte Gesicht der Biodiversität: Die Natur ist kein Garten Eden“), in dem ich die Idee entwickle, daß der Mensch nicht der angeborene Zerstörer der Natur ist, daß der Mensch im Gegenteil während seiner gesamten Existenz versucht hat, sich vor Aggressoren zu schützen, um eine gewisse physische Sicherheit zu haben. Er hat versucht, sich die Nahrungsressourcen zu sichern, indem er Ackerbau und Viehzucht betrieb und seine ökologische Nische ausbaute, d.h. dafür sorgte, daß es das ganze Jahr über Wasser gab. Er hat Wasserreserven angelegt, Bewässerung betrieben – kurzum, er hat die Natur so entwickelt, daß sie sowohl sein biologisches Leben als auch seine physische Sicherheit gewährleistet.

Ich vertrete die These, daß wir auch ökologische Systeme geschaffen haben, die wegen ihrer Artenvielfalt oder ihres Nutzens wertvoll sind. Nehmen Sie zum Beispiel die Camargue in Frankreich, die eine völlig künstliche Umgebung ist, aber als natürliches Gebiet angesehen wird, so sehr, daß sie als RAMSAR-Gebiet bewertet wurde, das ist sozusagen der Heilige Gral des Artenschutzes. Ich denke dabei auch an unsere Bocages (Heckenlandschaften), die vom Menschen geschaffen wurden und reich an biologischer Vielfalt sind. Die Vorstellung, daß der Mensch die Natur zerstört, muß also relativiert werden, denn es gibt auch viele Gegenbeispiele für die Schaffung von Vielfalt und biologischem Reichtum.

Über die Schattenseiten der Artenvielfalt, d.h. Krankheiten und all die Grausamkeiten, die die Natur an Menschen und Tieren begehen kann – denn die Natur macht keinen Unterschied zwischen Mensch und Tier –, wird nicht viel gesprochen. Und so befinden wir uns in der paradoxen Situation, daß das, was wir als „Unannehmlichkeiten der Natur“ bezeichnen, keine eigentliche Besonderheit der Natur ist, sondern die Natur gilt als a priori gut und reichhaltig...

Mit ein wenig jesuitischer Argumentation kann jemand sagen, letztendlich sei es nicht die Schuld der Natur, wenn sie Unannehmlichkeiten schafft, sondern weil wir die Natur zerstören, rächt sie sich an uns. Indem wir die biologische Vielfalt zerstören, schaffen wir die Voraussetzungen dafür, daß wir Epidemien wie COVID bekommen. Vor ein paar Jahren sagten Wissenschaftler allen Ernstes: „COVID und andere Epidemien sind die Rache der Natur, weil wir die biologische Vielfalt zerstören.“

Ich möchte Sie nur daran erinnern, daß die UNO eine politische Organisation mit großem theologischen und metaphysischen Einfluß ist. Die UNO steht hinter den Konventionen über das Klima und die Artenvielfalt, hinter dem Weltklimarat IPCC und dem IPBES (dem Äquivalent des IPCC für die biologische Vielfalt). Und es mag Sie überraschen, wenn Sie in IPBES-Papieren Ausdrücke finden, die in den konzeptionellen Rahmen dieser Organisation gestellt werden, zum Beispiel: „Leben in Harmonie mit der Natur“, „Leben im Gleichgewicht und in Harmonie mit Mutter Erde“, „Gaben der Natur“, „Mutter Erde“, „Lebenssysteme“...

Man sieht es sofort – und ich habe vorhin daran erinnert, daß die UNO einen Tag für Mutter Erde, für Mutter Natur eingeführt hat –, daß diese Organisation, die sich als wissenschaftlich ausgibt, irgendwo doch unter einem starken mystischen oder sogar theologischen Einfluß steht. Und ich denke, wir müssen sehr vorsichtig sein, wenn wir über Ökologie und Wissenschaft sprechen, und wo solche Aussagen herkommen.

Wenn es um den Artenschutz auf der Welt geht, insbesondere in den Entwicklungsländern, in denen ich viel gearbeitet habe, ist die problematische Realität nicht unbedingt Überbevölkerung, nicht unbedingt technologische Innovation, sondern ganz einfach Armut. Und es stimmt, wenn die Bevölkerung wächst, braucht man mehr Ressourcen, braucht man mehr Nahrungsmittel.

Was wird aus den Menschen?

Wenn wir also über Naturschutz und die Ausweitung von Schutzgebieten sprechen, müssen wir uns auch fragen, was wir mit der Bevölkerung machen, die von ihrem Land vertrieben wurde und die letztendlich das städtische Proletariat vergrößern wird. Die Argumentation der Umweltbewegungen ist völlig fragwürdig, denn sie sagen nie, was sie mit den Menschen machen wollen, die von ihren natürlichen Lebensräumen und Wohnorten ausgeschlossen werden. Wenn man zum Beispiel alle Bewohner der Camargue auffordern würde, die Camargue zu verlassen, wäre das ein interessantes Experiment...

Nur eine kleine Anekdote: Als es im Jahr 2020 in Ostafrika zu einer massiven Invasion von Wanderheuschrecken kam, die einen Großteil der Ernten in der Region vernichtete, herrschte beredtes Schweigen seitens der Naturschutzbewegungen und vieler Wissenschaftler, die mit diesen Bewegungen verbunden sind. Zur gleichen Zeit gab es in Australien große Buschbrände, und man trieb großen Aufwand, um die Tiere aller Gattungen zu zählen, die durch diese Buschbrände umkamen. Es herrscht also eine völlig andere Einstellung zur menschlichen Spezies als zur Natur, und man sieht, daß das Gleichgewicht stark zugunsten der Natur gekippt ist.

Abschließend würde ich sagen, daß es dabei immer um ein Gefühl der Angst geht, denn darauf zielen diese NGOs letztendlich ab: Angst zu erzeugen – ein Punkt, der von Ökologiephilosophen wie dem deutschen Philosophen Hans Jonas vertreten wird. Wir sollen dazu gebracht werden, den Mythos der Apokalypse wiederzubeleben. Mit anderen Worten: Wenn man die Kriterien nicht erfüllt, wenn man die Ideen des Glaubens nicht akzeptiert – früher war es Gott, heute ist es der Glaube an das Gute der Natur –, dann steuern wir tatsächlich auf eine Situation zu, die aus dem Ruder läuft, und das wäre das Ende der Welt, die Apokalypse.

Die großen Nichtregierungsorganisationen können so ihre Ideologie mit starker Komplizenschaft der Wissenschaftler durchsetzen. Es gibt viele Wissenschaftler, die ich als Pyromanen bezeichnen würde, die aus fragwürdigen Gründen – die mit der Beschaffung von Finanzmitteln zusammenhängen – ständig das Feuer schüren. Und dann sind da noch die Medien, die natürlich Aufsehen wollen und, ich würde sagen, sogar noch weiter gehen als die Wissenschaftler, weil es sich in den Medien gut verkauft, angstmachende Informationen zu verbreiten.

Ich habe diese kleine Karikatur eingefügt, die Donald Trump zeigt, wie er mit Plato plaudert und sagt: „Ich bin sicher, Sie stimmen zu, daß die Wahrheit aus der Wiederholung von Lügen entsteht.“

Zum Schluß möchte ich noch diese kleine Karikatur zeigen, die ich auf der Rio-Konferenz 1992 gefunden habe und auf der steht: „Rettet die Erde“ „Rettet den Planeten“ „Rettet die Kinder der Erde“ und... „spart Geld“. Ich denke, daß hinter all dem auch wirtschaftliche Fragen stehen, die nicht unbedingt sehr rosig sind.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.