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Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Chinas Rolle für Frieden und Entwicklung

Von S.E. Botschafter Lu Shaye

Lu Shaye ist Botschafter der Volksrepublik China in Frankreich. Auf der Straßburger Konferenz des Schiller-Instituts sagte am 8. Juli 2023 folgendes (Übersetzung aus dem Französischen, Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion hinzugefügt.)

Frau Präsidentin Helga Zepp-LaRouche, meine Damen und Herren,

zunächst möchte ich dem Schiller-Institut dafür danken, daß es mich nach Straßburg, der „zweiten Hauptstadt Europas“, eingeladen hat, um meine Gedanken zur internationalen Lage mit Ihnen zu teilen.

Gegenwärtig vollziehen sich in einem rasanten Tempo Veränderungen, wie wir sie seit einem Jahrhundert nicht mehr gesehen haben, die unsere Welt, unsere Zeit und unsere Geschichte in nie dagewesener Weise umgestalten. Der anhaltende Konflikt auf dem europäischen Kontinent erregt weltweite Aufmerksamkeit. Mehr als ein Jahr nach Beginn des russisch-ukrainischen Konflikts stellt sich die Frage: Wie wird er ausgehen? Die Antwort auf diese Frage suchen nicht nur die am Konflikt beteiligten Länder und die europäischen Länder, sondern auch friedliebende Menschen auf der ganzen Welt mit großem Interesse.

Je nach den Positionen und Interessen der verschiedenen Parteien gibt es zwei diametral entgegengesetzte Optionen: Die erste besteht darin, die Feindseligkeiten so lange fortzusetzen, bis eine Seite über die andere siegt; die zweite besteht darin, Friedensgespräche zu fördern, um eine für beide Kontrahenten annehmbare Lösung zu finden.

Die Welt ist also in zwei Lager gespalten: das Lager der Kriegsbefürworter, angeführt von den Vereinigten Staaten, die unter dem Deckmantel der Verteidigung der Gerechtigkeit den Krieg verlängern, indem sie ständig Waffen und andere Formen der militärischen Unterstützung an die Ukraine liefern, und die Gruppe der Friedensbefürworter, die sich aktiv an der Pendeldiplomatie zugunsten von Versöhnungs- und Friedensgesprächen beteiligt.

Der russisch-ukrainische Konflikt wirft ein Schlaglicht auf zwei Denkweisen in der heutigen Welt, bei der zwei strategische Optionen gegeneinander stehen: die der Konfrontation und des Konflikts gegenüber der des Dialogs und der Zusammenarbeit beziehungsweise die des Nullsummenspiels gegen die des gegenseitigen Nutzens und der Win-Win-Strategie.

Darüber hinaus ist der Konflikt zwischen Rußland und der Ukraine selbst die katastrophale Folge von Amerikas Fixierung auf die Logik der Blockkonfrontation nach dem Ende des Kalten Krieges, die sich in der fortgesetzten Osterweiterung der NATO widerspiegelt, um Rußlands strategischen Raum einzuschränken und es in die Enge zu treiben.

Und heute versuchen die USA, einen „neuen Kalten Krieg“ gegen China zu führen. An der politischen Front kleben sie anderen Ländern ideologische Etiketten auf, nennen China eine „autoritäre Diktatur“ und versammeln „Werteverbündete“ unter dem Banner der „Verteidigung der Demokratie“, um einen „neuen Kreuzzug“ gegen China zu starten. An der militärischen und sicherheitspolitischen Front sind die USA damit beschäftigt, „kleine Clans“ zu schaffen: von bilateralen Militärbündnissen bis zur trilateralen Partnerschaft (AUKUS), vom vierseitigen Dialog (Quad) bis zur Five-Eyes-Allianz sowie der „indo-pazifischen Version der NATO“.1 Im Bereich von Wirtschaft, Handel und Technologie projizieren die USA ihr eigenes Modell auf China, indem sie davon ausgehen, daß jede Großmacht Hegemonie ausübt, und bauen „kleine Höfe, die von hohen Mauern umgeben sind“, und sie versuchen, Lieferketten zu entkoppeln und zu unterbrechen, um umfassend, sektorübergreifend, intensiv und kontinuierlich gegen Chinas High-Tech-Unternehmen und kritische Industrien wie die Halbleiterindustrie vorzugehen.

Die europäischen Länder werden gezwungen, sich für eine Seite zu entscheiden. In der russisch-ukrainischen Frage, von der Beteiligung an den Sanktionen bis zur aktuellen Entsendung von Kampfjets und der Ausbildung von Piloten, wird Europa von Tag zu Tag stärker in den Konflikt verwickelt, während die Aussichten auf eine Wiederaufnahme des Dialogs mit Rußland und den Wiederaufbau einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur immer geringer werden.

Was die Beziehungen zu China betrifft, so werfen die Vereinigten Staaten China bewußt mit Rußland in einen Topf und spielen mit dem falschen Narrativ „heute die Ukraine, morgen Taiwan“, um antichinesischen Haß in Europa zu schüren und die europäisch-chinesischen Beziehungen zu vergiften.

Vor diesem Hintergrund ist es erwähnenswert, daß einige europäische Länder ein stärkeres Engagement für strategische Autonomie zeigen und sich weigern, sich zwischen China und den USA für eine Seite zu entscheiden. Sie betonen die Notwendigkeit, ihre strategische und wirtschaftliche Souveränität auf der Grundlage ihrer eigenen Interessen zu verteidigen, Kanäle für den Dialog aufrechtzuerhalten und eine Rolle als ausgleichende Kraft zwischen China und den Vereinigten Staaten zu spielen.

Die Entwicklungsländer weigern sich ebenfalls weitgehend, in die logischen Stereotypen und diskursiven Fallen der Blockpolitik und der Konfrontation der Lager zu verfallen. Sie lehnen die blinde Welle der Verurteilung und Sanktionen gegen Rußland ab und verfolgen eine Politik der Freundschaft mit China. Frieden und Zusammenarbeit bleiben das Bestreben der Völker und der allgemeine Trend.

Gleichzeitig sind Verwirrung und Unruhe auf allen Seiten noch lange nicht vorbei. Einige Länder, die eine Eskalation der Konfrontation und einen „eventuellen Krieg“ zwischen China und den USA vorhersehen, setzen geopolitisch auf beide Seiten, und wirtschaftlich errichten sie Handelsschranken und praktizieren Investitionsscreening, Industrieverlagerung und Blockierung kritischer Technologien gegenüber China, wobei sie auf „Abhängigkeitsreduzierung“ und „De-Risking“ bestehen.

Chinas Initiativen

In einer turbulenten Welt bleibt China so klarsichtig und entschlossen wie eh und je. Vor zehn Jahren hat Präsident Xi Jinping auf innovative Weise die Vision einer Zukunftsgemeinschaft der Menschheit und die Gürtel- und Straßeninitiative vorgestellt, und seit 2021 präsentierte er nacheinander die Globale Entwicklungsinitiative, die Globale Sicherheitsinitiative und die Globale Zivilisationsinitiative. Dies sind chinesische Vorschläge zur Lösung globaler Entwicklungsprobleme, zur Bewältigung internationaler Sicherheitsherausforderungen und zur Förderung der gegenseitigen Befruchtung zwischen den Zivilisationen.

Ein afrikanisches Sprichwort sagt: „Allein kommt man schneller voran, gemeinsam kommt man weiter.“ Wer die Interessen anderer ignoriert, kommt nicht weit, wer sich nur auf seine eigene Stärke verlassen will, indem er andere ausschaltet, lebt in einer Illusion, und wer nur daran denkt, die Entwicklung anderer zu blockieren, wird seine eigenen Probleme nicht grundlegend lösen können.

Bei der Vorstellung der Globalen Entwicklungsinitiative plädiert China für Solidarität und Zusammenarbeit. Die Initiative, die auf eine rasche Umsetzung der UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung abzielt, nennt acht Schlüsselbereiche der Zusammenarbeit, darunter Armutsbekämpfung, Ernährungssicherheit, Entwicklungsfinanzierung und die digitale Wirtschaft. Sie wird von über hundert Ländern sowie den Vereinten Nationen und anderen internationalen und regionalen Organisationen unterstützt, da sie den umfassenden gemeinsamen Interessen der internationalen Gemeinschaft entspricht.

Dank der gemeinsamen Anstrengungen aller Beteiligten kann die Globale Entwicklungsinitiative sehr gut umgesetzt werden, und es wurden bereits zahlreiche Ergebnisse erzielt, die den verschiedenen Völkern zugute kommen; zum Beispiel Mechanismen wie die „Sonderaktion zur Förderung der Nahrungsmittelproduktion“, die Globale Allianz für die Entwicklung der technischen und beruflichen Bildung, das International Kooperationsnetzwerk von NGOs zur Armutsreduzierung, die China-Afrika-Allianz für Armutsreduzierung, das Zentrum für die Kooperation Chinas und der pazifischen Inselstaaten für Klimaaktion und das Zentrum für die Förderung der globalen Entwicklung. Mehr als hundert konkrete Kooperationsprojekte stehen auf der Projektliste der Initiative, sie kommen fast 40 Entwicklungsländern zugute und bieten mehr als 20.000 Ausbildungsplätze im Rahmen von 1000 Projekten zum Kapazitätsaufbau. China hat den ersten wissenschaftlichen Satelliten der Welt gestartet, der der Agenda 2030 gewidmet ist, teilt seine Daten mit dem Rest der Welt und stellt den Vereinten Nationen mehrere Datenprodukte zur Verfügung.

Im Rahmen der Gürtel- und Straßen-Initiative wurden mehr als 3000 Kooperationsprojekte unterzeichnet, die Investitionen in Höhe von fast 1000 Milliarden US-Dollar generierten, 420.000 Arbeitsplätze schufen und fast 40 Millionen Menschen aus der Armut halfen. Die Fakten beweisen, daß die Welt keine „Entkopplung“ oder „unterbrochene Lieferketten“ braucht, sondern eine offene, integrative Zusammenarbeit, von der alle Seiten profitieren. China ist bereit, die Entwicklungschancen mit Europa und anderen Ländern auf der ganzen Welt weiter zu teilen, um den gemeinsamen Wohlstand zu fördern.

Die chinesische Nation ist seit der Antike dem Primat des Friedens und der Eintracht zwischen allen Staaten verpflichtet und hat keine Gene für Aggression oder Hegemonie im Blut; im Gegenteil, sie hat immer Frieden, Harmonie und Eintracht angestrebt. Angesichts einer sich tiefgreifend verändernden internationalen Landschaft und komplexer sicherheitspolitischer Herausforderungen setzt sich China für ein gemeinsames, integriertes, kooperatives und nachhaltiges Sicherheitskonzept ein und verfolgt einen neuen sicherheitspolitischen Weg, der auf Dialog statt Konfrontation, Partnerschaft statt Allianz und Win-Win-Situation statt Nullsummenspiel basiert.

Im Februar dieses Jahres veröffentlichte China das Konzeptpapier zur Globalen Sicherheitsinitiative, in dem 20 Prioritäten für die Zusammenarbeit aufgelistet sind, darunter die entschlossene Unterstützung der zentralen Rolle der Vereinten Nationen bei der Sicherheitssteuerung, die Förderung von Konsultationen und gesunder Interaktion zwischen den Großmächten, die aktive Förderung der friedlichen Lösung brennender Fragen durch Dialog, die wirksame Bewältigung konventioneller und unkonventioneller Sicherheitsherausforderungen, die kontinuierliche Stärkung des weltweiten Systems der Sicherheitssteuerung und der Kapazitätsentwicklung.

Was die Frage der chinesisch-amerikanischen Beziehungen betrifft, so haben wir weder die Absicht, die Vereinigten Staaten herauszufordern oder zu verdrängen, noch zu neuen Vereinigten Staaten zu werden, noch einen „neuen Kalten Krieg“ der Blockkonfrontation zu führen. Kürzlich betonte der chinesische Präsident Xi Jinping beim Empfang des US-Außenministers Antony Blinken, daß „die ganze Welt stabile chinesisch-amerikanische Beziehungen braucht“, und daß er „zuversichtlich ist, daß die beiden Großmächte alle Schwierigkeiten überwinden können, um den richtigen Weg zu finden, um in gegenseitigem Respekt, friedlicher Koexistenz und Win-Win-Kooperation miteinander auszukommen“, um „die chinesisch-amerikanischen Beziehungen zu stabilisieren und zu verbessern“.

Was die Beziehungen zwischen China und der EU betrifft, so haben China und Europa keinen grundlegenden Interessenkonflikt. Im Gegenteil, wir profitieren beide von der Entwicklung des jeweils anderen, beide befürworten strategische Autonomie und Multilateralismus, und wir haben einen breiten Konsens in globalen Fragen wie dem Kampf gegen den Klimawandel. China und Europa sollten das gegenseitige Vertrauen stärken, Zweifel durch eine fruchtbare Zusammenarbeit ausräumen und Hand in Hand arbeiten, um der Welt Stabilität, Sicherheit und positive Energie zu verleihen.

Was die Ukraine betrifft, so hat China in dem Dokument mit dem Titel Chinas Position zur politischen Lösung der Ukraine-Krise, das im Februar dieses Jahres veröffentlicht wurde, 12 Punkte vorgeschlagen, darunter die Achtung der Souveränität aller Länder, die Ablehnung der Mentalität des Kalten Krieges, die Einstellung der Feindseligkeiten und die Aufnahme von Friedensgesprächen. Diese Vorschläge tragen den Anliegen aller Parteien Rechnung und können den größten gemeinsamen Nenner für Verhandlungen bilden.

China bemüht sich auch konkret um gute Dienste, um Versöhnung und Friedensgespräche zu fördern. Wir sind davon überzeugt, daß es in einem bewaffneten Konflikt keinen Gewinner gibt und daß Dialog und Verhandlungen der einzig gangbare Weg aus der Krise sind. Wir hoffen, daß die EU mit uns zusammenarbeiten wird, um die frühestmögliche Aufnahme von Verhandlungen zwischen Rußland und der Ukraine zu fördern, damit der Frieden auf dem europäischen Kontinent so schnell wie möglich wiederhergestellt werden kann.

Ein chinesisches Sprichwort sagt: „Das Geheimnis eines guten Gerichts ist, daß man weiß, wie man die Aromen kombiniert.“ Die Schönheit unserer Welt liegt in der gegenseitigen Bereicherung der Zivilisationen. China ist gegen den Schwarz-Weiß-Dualismus und die Unterscheidung zwischen überlegenen und unterlegenen Zivilisationen. Mit der Globalen Zivilisationsinitiative treten wir für die Achtung der Vielfalt der Zivilisationen, die Förderung der gemeinsamen Werte der Menschheit, das Engagement für die Weitergabe und Innovation der Zivilisationen und die Stärkung des interkulturellen Austauschs und der Zusammenarbeit ein. Wir respektieren alle Zivilisationen in ihren Unterschieden und unterstützen ihr Recht auf Entwicklung. Wir sind davon überzeugt, daß die einzelnen Länder ihre eigenen Entwicklungswege und institutionellen Modelle finden können, die an ihre nationalen Bedingungen angepaßt sind, und daß durch menschlichen und kulturellen Austausch und Zusammenarbeit die Strahlkraft aller Zivilisationen eine großartige Symphonie des Glanzes hervorbringen wird.

Meine Damen und Herren! Die Menschheit ist eine Schicksalsgemeinschaft, die gute wie schlechte Zeiten teilt. Mehr denn je sind die Nationen miteinander verbunden und voneinander abhängig, und mehr denn je sind sie aufgerufen, zusammenzuarbeiten, um Herausforderungen zu bewältigen und Fortschritte zu erzielen.

Europa war der Hauptkriegsschauplatz der beiden Weltkriege und ist der Schauplatz des aktuellen Konflikts. Europa sollte daher über eine direktere Erfahrung und ein tieferes Verständnis für die Bedeutung von Frieden und Entwicklung verfügen. Da wir an einem kritischen neuen Scheideweg in der Geschichte stehen, hoffe ich, daß Europas weitsichtige Führer tiefgreifende Überlegungen anstellen, aktiv ihren Teil dazu beitragen und ihre Weisheit und Stärke einbringen werden, um ihre jeweiligen Länder und die gesamte Menschheit zu einer richtigen Entscheidung zu führen.


Anmerkung

1. AUKUS = Australien, Großbritannien und USA, Quad = USA, Australien, Japan und Indien, Five-Eyes-Allianz = USA, Großbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland.