Chinas Rolle für Frieden und Entwicklung
Von S.E. Botschafter Lu Shaye
Lu Shaye ist Botschafter der Volksrepublik China in Frankreich.
Auf der Straßburger Konferenz des Schiller-Instituts sagte am 8. Juli 2023
folgendes (Übersetzung aus dem Französischen, Zwischenüberschriften wurden von
der Redaktion hinzugefügt.)
Frau Präsidentin Helga Zepp-LaRouche, meine Damen und Herren,
zunächst möchte ich dem Schiller-Institut dafür danken, daß es mich nach
Straßburg, der „zweiten Hauptstadt Europas“, eingeladen hat, um meine Gedanken
zur internationalen Lage mit Ihnen zu teilen.
Gegenwärtig vollziehen sich in einem rasanten Tempo Veränderungen, wie wir
sie seit einem Jahrhundert nicht mehr gesehen haben, die unsere Welt, unsere
Zeit und unsere Geschichte in nie dagewesener Weise umgestalten. Der
anhaltende Konflikt auf dem europäischen Kontinent erregt weltweite
Aufmerksamkeit. Mehr als ein Jahr nach Beginn des russisch-ukrainischen
Konflikts stellt sich die Frage: Wie wird er ausgehen? Die Antwort auf diese
Frage suchen nicht nur die am Konflikt beteiligten Länder und die europäischen
Länder, sondern auch friedliebende Menschen auf der ganzen Welt mit großem
Interesse.
Je nach den Positionen und Interessen der verschiedenen Parteien gibt es
zwei diametral entgegengesetzte Optionen: Die erste besteht darin, die
Feindseligkeiten so lange fortzusetzen, bis eine Seite über die andere siegt;
die zweite besteht darin, Friedensgespräche zu fördern, um eine für beide
Kontrahenten annehmbare Lösung zu finden.
Die Welt ist also in zwei Lager gespalten: das Lager der Kriegsbefürworter,
angeführt von den Vereinigten Staaten, die unter dem Deckmantel der
Verteidigung der Gerechtigkeit den Krieg verlängern, indem sie ständig Waffen
und andere Formen der militärischen Unterstützung an die Ukraine liefern, und
die Gruppe der Friedensbefürworter, die sich aktiv an der Pendeldiplomatie
zugunsten von Versöhnungs- und Friedensgesprächen beteiligt.
Der russisch-ukrainische Konflikt wirft ein Schlaglicht auf zwei Denkweisen
in der heutigen Welt, bei der zwei strategische Optionen gegeneinander stehen:
die der Konfrontation und des Konflikts gegenüber der des Dialogs und der
Zusammenarbeit beziehungsweise die des Nullsummenspiels gegen die des
gegenseitigen Nutzens und der Win-Win-Strategie.
Darüber hinaus ist der Konflikt zwischen Rußland und der Ukraine selbst die
katastrophale Folge von Amerikas Fixierung auf die Logik der
Blockkonfrontation nach dem Ende des Kalten Krieges, die sich in der
fortgesetzten Osterweiterung der NATO widerspiegelt, um Rußlands strategischen
Raum einzuschränken und es in die Enge zu treiben.
Und heute versuchen die USA, einen „neuen Kalten Krieg“ gegen China zu
führen. An der politischen Front kleben sie anderen Ländern ideologische
Etiketten auf, nennen China eine „autoritäre Diktatur“ und versammeln
„Werteverbündete“ unter dem Banner der „Verteidigung der Demokratie“, um einen
„neuen Kreuzzug“ gegen China zu starten. An der militärischen und
sicherheitspolitischen Front sind die USA damit beschäftigt, „kleine Clans“ zu
schaffen: von bilateralen Militärbündnissen bis zur trilateralen Partnerschaft
(AUKUS), vom vierseitigen Dialog (Quad) bis zur Five-Eyes-Allianz sowie der
„indo-pazifischen Version der NATO“.1 Im Bereich von Wirtschaft,
Handel und Technologie projizieren die USA ihr eigenes Modell auf China, indem
sie davon ausgehen, daß jede Großmacht Hegemonie ausübt, und bauen „kleine
Höfe, die von hohen Mauern umgeben sind“, und sie versuchen, Lieferketten zu
entkoppeln und zu unterbrechen, um umfassend, sektorübergreifend, intensiv und
kontinuierlich gegen Chinas High-Tech-Unternehmen und kritische Industrien wie
die Halbleiterindustrie vorzugehen.
Die europäischen Länder werden gezwungen, sich für eine Seite zu
entscheiden. In der russisch-ukrainischen Frage, von der Beteiligung an den
Sanktionen bis zur aktuellen Entsendung von Kampfjets und der Ausbildung von
Piloten, wird Europa von Tag zu Tag stärker in den Konflikt verwickelt,
während die Aussichten auf eine Wiederaufnahme des Dialogs mit Rußland und den
Wiederaufbau einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur immer geringer
werden.
Was die Beziehungen zu China betrifft, so werfen die Vereinigten Staaten
China bewußt mit Rußland in einen Topf und spielen mit dem falschen Narrativ
„heute die Ukraine, morgen Taiwan“, um antichinesischen Haß in Europa zu
schüren und die europäisch-chinesischen Beziehungen zu vergiften.
Vor diesem Hintergrund ist es erwähnenswert, daß einige europäische Länder
ein stärkeres Engagement für strategische Autonomie zeigen und sich weigern,
sich zwischen China und den USA für eine Seite zu entscheiden. Sie betonen die
Notwendigkeit, ihre strategische und wirtschaftliche Souveränität auf der
Grundlage ihrer eigenen Interessen zu verteidigen, Kanäle für den Dialog
aufrechtzuerhalten und eine Rolle als ausgleichende Kraft zwischen China und
den Vereinigten Staaten zu spielen.
Die Entwicklungsländer weigern sich ebenfalls weitgehend, in die logischen
Stereotypen und diskursiven Fallen der Blockpolitik und der Konfrontation der
Lager zu verfallen. Sie lehnen die blinde Welle der Verurteilung und
Sanktionen gegen Rußland ab und verfolgen eine Politik der Freundschaft mit
China. Frieden und Zusammenarbeit bleiben das Bestreben der Völker und der
allgemeine Trend.
Gleichzeitig sind Verwirrung und Unruhe auf allen Seiten noch lange nicht
vorbei. Einige Länder, die eine Eskalation der Konfrontation und einen
„eventuellen Krieg“ zwischen China und den USA vorhersehen, setzen
geopolitisch auf beide Seiten, und wirtschaftlich errichten sie
Handelsschranken und praktizieren Investitionsscreening, Industrieverlagerung
und Blockierung kritischer Technologien gegenüber China, wobei sie auf
„Abhängigkeitsreduzierung“ und „De-Risking“ bestehen.
Chinas Initiativen
In einer turbulenten Welt bleibt China so klarsichtig und entschlossen wie
eh und je. Vor zehn Jahren hat Präsident Xi Jinping auf innovative Weise die
Vision einer Zukunftsgemeinschaft der Menschheit und die Gürtel- und
Straßeninitiative vorgestellt, und seit 2021 präsentierte er nacheinander die
Globale Entwicklungsinitiative, die Globale Sicherheitsinitiative und die
Globale Zivilisationsinitiative. Dies sind chinesische Vorschläge zur Lösung
globaler Entwicklungsprobleme, zur Bewältigung internationaler
Sicherheitsherausforderungen und zur Förderung der gegenseitigen Befruchtung
zwischen den Zivilisationen.
Ein afrikanisches Sprichwort sagt: „Allein kommt man schneller voran,
gemeinsam kommt man weiter.“ Wer die Interessen anderer ignoriert, kommt nicht
weit, wer sich nur auf seine eigene Stärke verlassen will, indem er andere
ausschaltet, lebt in einer Illusion, und wer nur daran denkt, die Entwicklung
anderer zu blockieren, wird seine eigenen Probleme nicht grundlegend lösen
können.
Bei der Vorstellung der Globalen Entwicklungsinitiative plädiert China für
Solidarität und Zusammenarbeit. Die Initiative, die auf eine rasche Umsetzung
der UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung abzielt, nennt acht
Schlüsselbereiche der Zusammenarbeit, darunter Armutsbekämpfung,
Ernährungssicherheit, Entwicklungsfinanzierung und die digitale Wirtschaft.
Sie wird von über hundert Ländern sowie den Vereinten Nationen und anderen
internationalen und regionalen Organisationen unterstützt, da sie den
umfassenden gemeinsamen Interessen der internationalen Gemeinschaft
entspricht.
Dank der gemeinsamen Anstrengungen aller Beteiligten kann die Globale
Entwicklungsinitiative sehr gut umgesetzt werden, und es wurden bereits
zahlreiche Ergebnisse erzielt, die den verschiedenen Völkern zugute kommen;
zum Beispiel Mechanismen wie die „Sonderaktion zur Förderung der
Nahrungsmittelproduktion“, die Globale Allianz für die Entwicklung der
technischen und beruflichen Bildung, das International Kooperationsnetzwerk
von NGOs zur Armutsreduzierung, die China-Afrika-Allianz für
Armutsreduzierung, das Zentrum für die Kooperation Chinas und der pazifischen
Inselstaaten für Klimaaktion und das Zentrum für die Förderung der globalen
Entwicklung. Mehr als hundert konkrete Kooperationsprojekte stehen auf der
Projektliste der Initiative, sie kommen fast 40 Entwicklungsländern zugute und
bieten mehr als 20.000 Ausbildungsplätze im Rahmen von 1000 Projekten zum
Kapazitätsaufbau. China hat den ersten wissenschaftlichen Satelliten der Welt
gestartet, der der Agenda 2030 gewidmet ist, teilt seine Daten mit dem Rest
der Welt und stellt den Vereinten Nationen mehrere Datenprodukte zur
Verfügung.
Im Rahmen der Gürtel- und Straßen-Initiative wurden mehr als 3000
Kooperationsprojekte unterzeichnet, die Investitionen in Höhe von fast 1000
Milliarden US-Dollar generierten, 420.000 Arbeitsplätze schufen und fast 40
Millionen Menschen aus der Armut halfen. Die Fakten beweisen, daß die Welt
keine „Entkopplung“ oder „unterbrochene Lieferketten“ braucht, sondern eine
offene, integrative Zusammenarbeit, von der alle Seiten profitieren. China ist
bereit, die Entwicklungschancen mit Europa und anderen Ländern auf der ganzen
Welt weiter zu teilen, um den gemeinsamen Wohlstand zu fördern.
Die chinesische Nation ist seit der Antike dem Primat des Friedens und der
Eintracht zwischen allen Staaten verpflichtet und hat keine Gene für
Aggression oder Hegemonie im Blut; im Gegenteil, sie hat immer Frieden,
Harmonie und Eintracht angestrebt. Angesichts einer sich tiefgreifend
verändernden internationalen Landschaft und komplexer sicherheitspolitischer
Herausforderungen setzt sich China für ein gemeinsames, integriertes,
kooperatives und nachhaltiges Sicherheitskonzept ein und verfolgt einen neuen
sicherheitspolitischen Weg, der auf Dialog statt Konfrontation, Partnerschaft
statt Allianz und Win-Win-Situation statt Nullsummenspiel basiert.
Im Februar dieses Jahres veröffentlichte China das Konzeptpapier zur
Globalen Sicherheitsinitiative, in dem 20 Prioritäten für die Zusammenarbeit
aufgelistet sind, darunter die entschlossene Unterstützung der zentralen Rolle
der Vereinten Nationen bei der Sicherheitssteuerung, die Förderung von
Konsultationen und gesunder Interaktion zwischen den Großmächten, die aktive
Förderung der friedlichen Lösung brennender Fragen durch Dialog, die wirksame
Bewältigung konventioneller und unkonventioneller
Sicherheitsherausforderungen, die kontinuierliche Stärkung des weltweiten
Systems der Sicherheitssteuerung und der Kapazitätsentwicklung.
Was die Frage der chinesisch-amerikanischen Beziehungen betrifft, so haben
wir weder die Absicht, die Vereinigten Staaten herauszufordern oder zu
verdrängen, noch zu neuen Vereinigten Staaten zu werden, noch einen „neuen
Kalten Krieg“ der Blockkonfrontation zu führen. Kürzlich betonte der
chinesische Präsident Xi Jinping beim Empfang des US-Außenministers Antony
Blinken, daß „die ganze Welt stabile chinesisch-amerikanische Beziehungen
braucht“, und daß er „zuversichtlich ist, daß die beiden Großmächte alle
Schwierigkeiten überwinden können, um den richtigen Weg zu finden, um in
gegenseitigem Respekt, friedlicher Koexistenz und Win-Win-Kooperation
miteinander auszukommen“, um „die chinesisch-amerikanischen Beziehungen zu
stabilisieren und zu verbessern“.
Was die Beziehungen zwischen China und der EU betrifft, so haben China und
Europa keinen grundlegenden Interessenkonflikt. Im Gegenteil, wir profitieren
beide von der Entwicklung des jeweils anderen, beide befürworten strategische
Autonomie und Multilateralismus, und wir haben einen breiten Konsens in
globalen Fragen wie dem Kampf gegen den Klimawandel. China und Europa sollten
das gegenseitige Vertrauen stärken, Zweifel durch eine fruchtbare
Zusammenarbeit ausräumen und Hand in Hand arbeiten, um der Welt Stabilität,
Sicherheit und positive Energie zu verleihen.
Was die Ukraine betrifft, so hat China in dem Dokument mit dem Titel
Chinas Position zur politischen Lösung der Ukraine-Krise, das im
Februar dieses Jahres veröffentlicht wurde, 12 Punkte vorgeschlagen, darunter
die Achtung der Souveränität aller Länder, die Ablehnung der Mentalität des
Kalten Krieges, die Einstellung der Feindseligkeiten und die Aufnahme von
Friedensgesprächen. Diese Vorschläge tragen den Anliegen aller Parteien
Rechnung und können den größten gemeinsamen Nenner für Verhandlungen
bilden.
China bemüht sich auch konkret um gute Dienste, um Versöhnung und
Friedensgespräche zu fördern. Wir sind davon überzeugt, daß es in einem
bewaffneten Konflikt keinen Gewinner gibt und daß Dialog und Verhandlungen der
einzig gangbare Weg aus der Krise sind. Wir hoffen, daß die EU mit uns
zusammenarbeiten wird, um die frühestmögliche Aufnahme von Verhandlungen
zwischen Rußland und der Ukraine zu fördern, damit der Frieden auf dem
europäischen Kontinent so schnell wie möglich wiederhergestellt werden
kann.
Ein chinesisches Sprichwort sagt: „Das Geheimnis eines guten Gerichts ist,
daß man weiß, wie man die Aromen kombiniert.“ Die Schönheit unserer Welt liegt
in der gegenseitigen Bereicherung der Zivilisationen. China ist gegen den
Schwarz-Weiß-Dualismus und die Unterscheidung zwischen überlegenen und
unterlegenen Zivilisationen. Mit der Globalen Zivilisationsinitiative treten
wir für die Achtung der Vielfalt der Zivilisationen, die Förderung der
gemeinsamen Werte der Menschheit, das Engagement für die Weitergabe und
Innovation der Zivilisationen und die Stärkung des interkulturellen Austauschs
und der Zusammenarbeit ein. Wir respektieren alle Zivilisationen in ihren
Unterschieden und unterstützen ihr Recht auf Entwicklung. Wir sind davon
überzeugt, daß die einzelnen Länder ihre eigenen Entwicklungswege und
institutionellen Modelle finden können, die an ihre nationalen Bedingungen
angepaßt sind, und daß durch menschlichen und kulturellen Austausch und
Zusammenarbeit die Strahlkraft aller Zivilisationen eine großartige Symphonie
des Glanzes hervorbringen wird.
Meine Damen und Herren! Die Menschheit ist eine Schicksalsgemeinschaft, die
gute wie schlechte Zeiten teilt. Mehr denn je sind die Nationen miteinander
verbunden und voneinander abhängig, und mehr denn je sind sie aufgerufen,
zusammenzuarbeiten, um Herausforderungen zu bewältigen und Fortschritte zu
erzielen.
Europa war der Hauptkriegsschauplatz der beiden Weltkriege und ist der
Schauplatz des aktuellen Konflikts. Europa sollte daher über eine direktere
Erfahrung und ein tieferes Verständnis für die Bedeutung von Frieden und
Entwicklung verfügen. Da wir an einem kritischen neuen Scheideweg in der
Geschichte stehen, hoffe ich, daß Europas weitsichtige Führer tiefgreifende
Überlegungen anstellen, aktiv ihren Teil dazu beitragen und ihre Weisheit und
Stärke einbringen werden, um ihre jeweiligen Länder und die gesamte Menschheit
zu einer richtigen Entscheidung zu führen.
Anmerkung
1. AUKUS = Australien, Großbritannien und USA, Quad = USA, Australien,
Japan und Indien, Five-Eyes-Allianz = USA, Großbritannien, Kanada, Australien
und Neuseeland.
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