Einen Wandel hin zur Vernunft am Rande der Auslöschung erzeugen
Von Raymond McGovern
Ray McGovern war leitender Analytiker der U.S. Central
Intelligence Agency (CIA) und ist Gründungsmitglied der Veteran Intelligence
Professionals for Sanity (VIPS, Geheimdienstveteranen für Vernunft). In der
Internetkonferenz des Schiller-Instituts am 9. September sagte er folgendes.
(Übersetzung aus dem Englischen, Zwischenüberschriften wurden von der
Redaktion hinzugefügt.)
Zu Beginn möchte ich etwas zu dem ersten Lied sagen, das gerade aufgeführt
wurde: „I don’t feel no ways tired”. – „Ich bin überhaupt nicht müde.“ Ich
denke, die Inspiration dieser Gruppe, dieser Versammlung heute ist so
förderlich für den Weltfrieden und so hoffnungsvoll, wenn man bedenkt, was auf
der BRICS-Konferenz und anderen Veranstaltungen geschehen ist, daß man
wirklich ein Recht hat, sich nicht mehr müde zu fühlen.
Lassen Sie mich auf den Mann zurückkommen, der mich ursprünglich nach
Washington geholt hat. Sein Name ist Präsident John F. Kennedy. Er forderte
alle, die unserem Land in besonderer Weise dienen konnten, dazu auf, hierher
zu kommen und es zu tun.
Als John Kennedy am 20. September 1963 vor den Vereinten Nationen sprach,
dachte er an diese Themen. Er sprach davon, daß die Vereinten Nationen ihrer
Verantwortung gerecht werden müssen, Spannungen abzubauen und gegen die
Dunkelheit zu kämpfen. „Ich bin gekommen, um die Vereinten Nationen zu
grüßen“, sagte John Kennedy, „und um die Unterstützung des amerikanischen
Volkes für Ihre täglichen Beratungen zu bekunden.“ Wow!
Nun, ich denke, den meisten Menschen ist klar, daß die UNO in einen Zustand
des Niedergangs geraten ist. Der Einfluß der westlichen Mächte, der
Kolonialmächte, wenn man so will, ist selbst in UN-Organen wie der IAEO, der
Internationalen Atomenergie-Organisation, oder der Organisation für das Verbot
Chemischer Waffen so stark, daß sie aufgrund des Drucks, den sie von diesen
Mächten verspüren, nicht ehrlich handeln können. Das sind aktuelle
Beispiele.
Im Jahr 2003, als die USA den Irak unter falschem Vorwand angreifen und
dort einmarschieren wollten, schickte der Leiter unseres Abhördienstes, der
National Security Agency (NSA), eine E-Mail an sein britisches Pendant GCHQ
und sagte: „Wir müssen die Leute im UN-Sicherheitsrat überwachen, wir müssen
etwas über sie herausfinden, denn sie werden diese Eskapade in den Irak nicht
genehmigen. Wir müssen etwas über sie in Erfahrung bringen, damit wir sie
davon überzeugen können, es zu genehmigen.“
Das galt natürlich nicht nur für die ständigen Mitglieder, sondern auch für
diejenigen, die damals im Sicherheitsrat vertreten waren. Diese E-Mail war vor
dem Krieg durchgesickert, und dennoch begann der Krieg. Es hat dann zwar ein
paar Jahre gedauert, aber schließlich hat der UN-Generalsekretär gesagt, daß
dieser Krieg illegal ist. Aber hallo, natürlich war er illegal!
Was noch? Nun, ich würde einfach sagen, daß heute niemand mehr damit
durchkommen kann, zu sagen: „Wir machen eine Koalition der Willigen. Es macht
nichts, wenn der Sicherheitsrat nicht mitmacht, wir machen es einfach selbst.
Vielleicht Polen, Litauen, vielleicht auch die Ukraine.“ Das wird nicht mehr
funktionieren, weil die BRICS gewachsen sind, weil sie mächtiger geworden sind
und weil die BRICS die Mehrheit der Menschheit repräsentieren. Das ist eine
große Sache; das war früher nicht der Fall.
Vorbild John F. Kennedy
Es gibt also einige Hoffnungsschimmer in diesem Bereich, und ich möchte nur
ein paar Dinge von John Kennedy hinzufügen. Auf der UN-Vollversammlung am 20.
September 1963 sprach er über die Notwendigkeit des Friedens. Er sagte, es sei
nie zu spät. „Es ist höchste Zeit, daß ... Streitigkeiten ... von der
Tagesordnung genommen und auf den Verhandlungstisch gelegt werden.“
Nun, das trifft heute in hohem Maße auf die Situation in der Ukraine zu.
Man muß die Rhetorik und den Streit überwinden und an den Verhandlungstisch
kommen, bevor alle jungen ukrainischen Männer auf dem Schlachtfeld fallen –
und die russischen Männer auch. Es ist also ganz klar, was passieren muß, und
die BRICS können ein Gegengewicht schaffen.
Können sie dafür über die UNO arbeiten? Ich würde sagen, Rußland und China
haben die UNO nicht einfach beiseite geschoben, trotz all der Hindernisse,
trotz der Tatsache, daß sie zum Beispiel getäuscht wurden, als sie gebeten
wurden, sich bei einer Resolution für eine Flugverbotszone in Libyen zu
enthalten. Sie wurden getäuscht, Sie wissen, was mit Libyen passiert ist.
Trotzdem sehen sie in der UNO immer noch eine legitime Organisation, trotz der
Probleme und allem, was dort vor sich geht.
In seiner Rede sprach John Kennedy auch die Frage einer gemeinsamen
Erkundung des Mondes an. Mit anderen Worten, hier bei der UNO sagte er
(sinngemäß): „Schauen Sie, das ist nichts, was ein Gremium oder ein Land
allein tun sollte. Wir sollten uns zusammentun und unsere Energien und unser
Fachwissen bündeln. Es gibt keinen Grund, warum wir unsere wissenschaftlichen
Anstrengungen hier duplizieren sollten, laßt uns gemeinsam zum Mond
fliegen.“
Nun, das hat nicht funktioniert. Wir wissen, daß die USA allein auf dem
Mond waren.
Unsere Themen heute morgen sind schwere Kost, verständlicherweise. Deshalb
möchte ich diese schwere Kost nur kurz mit einer apokryphen Geschichte
unterbrechen, da wir in letzter Zeit hören, daß es Weltraumflüge zur Sonne
geben wird. Ein Komiker sagte: „Ich hoffe, es ist nicht beabsichtigt, daß
Menschen auf der Sonne landen.“ Ein anderer sagte: „Ach, keine Sorge, sie
werden nachts landen.“
Damit gut mit den lahmen Scherzen, zurück zur Ernsthaftigkeit.
Wir müssen einander die Hand reichen und wir müssen der Sache Zeit geben.
Wir müssen geduldig sein. Es wurde deutlich gemacht, daß die BRICS seit 30
Jahren im Entstehen begriffen sind; sie sind auch jetzt noch im Entstehen.
Geben Sie der Sache Zeit. Sorgen Sie dafür, daß die Menschen in der Welt
begreifen, daß es nicht darum geht, Rußland oder China oder Rußland und China
zu isolieren, sondern daß es der Westen ist, der sich selbst isoliert hat. Und
der kommende Winter wird in Westeuropa sehr kalt werden. Die Menschen dort
werden endlich aufwachen und merken, was man mit ihnen gemacht hat.
Ich möchte betonen, daß wir in diesen Dingen zusammenarbeiten müssen, so
wie es John Kennedy damals angeboten hat. John Kennedy ist in meinem
Bewußtsein noch sehr lebendig. Ich denke, seine Ideen haben kein
Verfallsdatum. Ich denke, wir müssen es weiter versuchen.
In jeder Glaubenstradition gibt es ein Sprichwort, daß man seine Feinde
lieben soll, und ich möchte Pater Bury dafür loben, daß er dies deutlich
gemacht hat. Das alte Sprichwort, das auf Konfuzius zurückgeht, lautet: „Was
du nicht willst, das man dir tu', das füg' auch keinem andern zu.“ Wir müssen
uns also die Hände reichen und nicht aufgeben, insbesondere angesichts des
Wachstums der BRICS und anderer heilsamer Entwicklungen, die wir heraufziehen
sehen.
Abschließend möchte ich noch etwas hinzufügen, was ich am Ende eines
Briefings, das ich im Februar – ich glaube, es war der 21. Februar – vor dem
UN-Sicherheitsrat hielt, angehängt habe. Ich bezog mich auf den erbitterten
Kampf zwischen Schwarzen und Weißen in unserem Land und darauf, wie sich sehr
begabte schwarze Führungspersönlichkeiten der Situation stellten und durch die
von Schwarzen geführte afroamerikanische Kirchenbefreiungsbewegung eine
gewisse Gerechtigkeit erreichten – zwar noch keine vollständige Gerechtigkeit,
aber doch Gerechtigkeit in großem Maße.
Die Art und Weise, wie wir das in unserem Land und international tun, ist,
uns die Hände zu reichen und das alte Lied zu singen: „We're going to keep on
lovin' our enemies.“ „Wir werden unsere Feinde weiter lieben. Und niemals
einen Rückzieher machen.“ Wir sollten uns also anstrengen, verstehen Sie?
Es gibt ein Wort, das die Chinesen ständig verwenden, das lautet: „Laßt uns
eine Win-Win-Situation schaffen.“ Es gibt auf dieser Welt genug für alle, das
wir teilen können. Warum schaffen wir nicht eine Win-Win-Situation? Damit
würden wir unsere Feinde bis zum äußersten lieben. Lassen Sie uns die Hoffnung
nicht aufgeben, daß wir das tun können, und mit der Rückendeckung so vieler
Menschen in der BRICS-Bewegung und außerhalb davon können wir eine andere Welt
erreichen – eine andere Welt als die „regelbasierte“ internationale
Ordnung.
Ein letzter Gedanke: Vor zwei Tagen stand Jens Stoltenberg, der Chef der
NATO, vor dem EU-Parlament. Er sagte, was er immer sagt: „Wir müssen uns gegen
die bösen Mächte des Ostens durchsetzen, und wir müssen sicherstellen, daß die
Ukraine diesen Krieg gewinnt.“ Einer der Parlamentarier, ein irischer
Abgeordneter, hob seine Hand. Er sagte folgendes: „Herr Stoltenberg, auf dem
[NATO]-Gipfel in Vilnius wurde behauptet, daß die Chinesen versuchen, die
regelbasierte internationale Ordnung zu untergraben. Er kritisierte China,
seine Strategie und seine Absichten seien undurchsichtig. Meine erste Frage
lautet: Wie kann man eine Ordnung untergraben, die keinerlei Grundlage im
internationalen Recht hat?“
Ich muß sagen, daß ich mich mit dieser Frage identifizieren kann. Die
Frage, die heutzutage gestellt wird, lautet: Man darf nichts einfach erfinden.
Diese internationale regelbasierte Ordnung – wer macht die Regeln? Nun, wir
wissen, wer die Regeln macht. Wir müssen offen sein, wir müssen unsere
Nächsten lieben, aber wir müssen ihre Doppelzüngigkeit sehr direkt aufdecken,
wenn wir auf dem Weg zum Frieden voranschreiten, wenn wir einander die Hände
reichen und versuchen, diese Welt besser zu machen.
Vielen Dank, daß Sie mir zugehört haben.
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