„Indiens Rolle als Friedensvermittler in diesen kritischen Zeiten“
Kann Indien eine konstruktive Rolle spielen bei der Schaffung von Frieden
und der Verringerung der Kluft zwischen dem globalen Norden und dem
globalen Süden?
Von Mrutyuanjai Mishra
Mrutyuanjai Mishra ist Autor und Journalist aus Indien.
(Übersetzung nach dem englischen Redemanuskript.)
Wir alle haben gelernt, den Begriff „Länder der Ersten Welt“ zu verwenden,
der aus dem französischen anthropologischen Denken abgeleitet wurde und auf
der Unterteilung der Gesellschaft in drei vorherrschende Schichten beruht,
nämlich den Adel, den Klerus und die Bourgeoisie. Indien, das Land, aus dem
ich stamme, wurde lange Zeit als „Dritte-Welt-Land“ bezeichnet, weil es
während des Kalten Krieges nicht mit den kapitalistischen NATO-Ländern und
auch nicht direkt mit dem kommunistischen Sowjetblock verbündet war. Die
Länder des Sowjetblocks wurden als Länder der „Zweiten Welt“ bezeichnet.
Seltsamerweise hat Indien erfolgreich mit beiden Blöcken zusammengearbeitet
und sich einen unabhängigen Ansatz in seiner Außenpolitik bewahrt. Als
kritisches Denken im 21. Jahrhundert entscheidend wurde, wurde der Begriff
„Dritte Welt“ obsolet, da es als neokolonialistisch angesehen wurde, von den
so genannten rückständigen Ländern zu erwarten, daß sie sich modernisieren und
liberalisieren und wie die Länder der „Ersten Welt“ werden, die durch die 31
Mitglieder und bald 32 Mitglieder vertreten werden, wenn Schweden in etwa
einem Monat dem NATO-Bündnis beitritt.
Wir müssen uns also an den Begriff „Globaler Süden“ gewöhnen, der für die
beiden bevölkerungsreichsten Länder der Welt, Indien und China, und die
meisten armen Länder der südlichen Hemisphäre steht. Indien und China liegen
nicht unbedingt in der südlichen Hemisphäre, aber die meisten der armen Länder
der Welt und der Länder mit mittlerem Einkommen in Asien, Lateinamerika und
Afrika liegen in der „südlichen Hemisphäre“.
Die Kaufkraft des globalen Südens nimmt zu, und die sogenannten
BRICS-Länder machen heute einen erheblichen Teil der Weltwirtschaft aus,
während der Anteil der so genannten „Ersten Welt“ an der Weltwirtschaft
allmählich abnimmt. Eine neue Weltordnung ist im Entstehen begriffen.
Es gibt Kräfte in der Welt, die einen friedlichen Aufstieg des globalen
Südens nicht sehen wollen und dem Planeten ständig einen Kriegszustand
aufzwingen wollen, der den armen Süden dazu zwingt, einen größeren Teil seiner
Ressourcen in den Verteidigungssektor zu stecken und oft eine destabilisierte
Nachbarschaft erleben muß. Auch wenn Indien ein solides Wirtschaftswachstum
erlebt, ist es von Ländern umgeben, die in wirtschaftlicher Hinsicht
unterdurchschnittlich abschneiden. Beispiele hierfür sind Pakistan und Sri
Lanka.
Aber allmählich werden wir sehen, daß der Globale Süden versuchen wird,
seinen Einfluß geltend zu machen, und wenn er organisiert und klug ist, wird
er in der Lage sein, eine Agenda der politischen Stabilität und der
Entwicklung aller seiner Bürger auf der globalen Bühne aufzustellen.
Nehmen wir ein aktuelles Beispiel: Trotz des ständigen Drucks der
westlichen Länder leben zwei Drittel der Weltbevölkerung immer noch in
Ländern, die neutral sind oder Rußland im Krieg in der Ukraine direkt
unterstützen. Sie machen sich mehr Sorgen um Fragen der Armut und der
Ernährungssicherheit und wollen den Lebensstandard für ihre Millionen von
Bürgern verbessern.
Der von den USA und der Europäischen Union geführte Block, zu dem alle
NATO-Länder gehören, repräsentiert etwa 36% der Weltbevölkerung, und sie sind
sich in erster Linie einig und konsequent in ihrer militärischen Unterstützung
für die Ukraine und haben Wirtschaftssanktionen gegen Rußland beschlossen.
Inzwischen lebt fast ein Drittel der Weltbevölkerung in einem Land, das
sich bisher neutral verhalten hat. Angeführt von Indien werden diese
blockfreien Staaten – darunter Brasilien, Saudi-Arabien, Südafrika und die
Vereinigten Arabischen Emirate – alles daran setzen, sich nicht auf eine Seite
zu schlagen und politische und wirtschaftliche Instabilität zu verhindern.
Prognosen zufolge werden bis 2030 drei der vier größten Volkswirtschaften –
in der Reihenfolge China, Indien, die Vereinigten Staaten und Indonesien – im
Globalen Süden liegen. Schon jetzt übertrifft das BIP der vom Globalen Süden
dominierten BRICS-Staaten – Brasilien, Rußland, Indien, China und Südafrika –
in Bezug auf die Kaufkraft, das der Gruppe der Sieben (G-7) des Globalen
Nordens.
Dr. Jaishankar, der indische Minister für auswärtige Angelegenheiten, sagte
kürzlich: „Europa muß aus der Denkweise herauswachsen, daß seine Probleme die
Probleme der Welt sind, aber die Probleme der Welt nicht die Probleme Europas
sind.“
Die deutlichen Worte Jaishankars fielen in eine Zeit, in der die
europäischen Länder hartnäckig versuchten, Indien zu einer harten Haltung
gegenüber dem russischen Einmarsch in der Ukraine zu bewegen.
Sehen wir uns einige Fakten an. Ein Drittel der Frauen in Indien sind immer
noch Analphabeten, und obwohl Millionen von Indern und Chinesen die Armut
überwunden haben, kann noch viel getan werden, um den Lebensstandard von
Millionen anderer Menschen sowohl in Indien als auch in China und im übrigen
globalen Süden zu verbessern. Daher brauchen wir eine neue Vision von einer
Welt ohne Kriege und einer Welt, in der Kooperation anstelle von Wettbewerb zu
einer tragenden Säule der sozialen Interaktion wird.
Wer weiß, wenn es die ständige NATO-Erweiterung und die Einkreisung
Rußlands nicht gegeben hätte, hätten wir wahrscheinlich auch Frieden in Europa
gehabt. Anstatt immer mehr Länder in ein privilegiertes Militärbündnis
einzubinden, könnten wir ein Bündnis für wirtschaftliche Stabilität und
friedliches Wachstum schaffen. Diese Agenda braucht jetzt weltweite
Aufmerksamkeit.
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