Die Menschheit und Afrika brauchen die Wissenschaft
Von Dora Muanda
Dora Muanda ist Lehrerin und Biologin sowie wissenschaftliche
Leiterin der Kinshasa Science and Technology Week in der Demokratischen
Republik Kongo.
Die Menschheit braucht Afrika, Afrika braucht die Wissenschaft, und ich
möchte hinzufügen: die Wissenschaft braucht Frauen.
Nicht, daß es in Afrika keine Wissenschaft gäbe; nicht, daß es keine Frauen
in der Wissenschaft gäbe. Aber in beiden Fällen gibt es nicht genug von ihnen,
und in beiden Fällen mangelt es an Sichtbarkeit. Der Beweis ist, daß weniger
als ein Prozent aller wissenschaftlichen Produktionen und Veröffentlichungen
weltweit aus afrikanischen Ländern stammen.
© Investing In People ASBL
Abb. 1: Das Logo der Wissenschafts- und Technologiewoche
Abb. 2, 3: experimentierende Schüler
Aber die Gesundheits-, Umwelt- und Klimakrise zeigen deutlich, wie komplex
und miteinander verbunden die Herausforderungen sind. Unabhängig davon, wie
groß die Herausforderung für die Menschheit ist, brauchen wir alle
Perspektiven möglicher Lösungen. Auf die Erfahrung, das Wissen und das
Know-how des südlichen Teils des Planeten zu verzichten, ist ein Luxus, den
wir uns einfach nicht mehr leisten können, wenn wir nachhaltige Lösungen
schaffen wollen, in der sich alle Menschen entwickeln können. Wenn wir die
Vision haben, die sich hinter dem Wort „Entwicklung“ verbirgt, müssen wir
erkennen, daß Wissenschaft und Technologie nach wie vor ein mächtiger Hebel
für den Aufstieg einer Nation sind. Im Jahr 2023 wird sich jede Nation, die
ihre Technologien nicht beherrscht, selbst ins Bein schießen.
Was kann man konkret tun, insbesondere, wenn man zu der dreifachen
Minderheit gehört, nämlich Afrikanerin, Schwarze und Wissenschaftlerin zu
sein?
Mein Name ist Dora Muanda, und ich leite die Wissenschafts- und
Technologiewoche in der Demokratischen Republik Kongo. Dies hier (Abb.
1) ist das Logo der Veranstaltung.
Wir haben diese Veranstaltung zusammen mit meiner Kollegin Raissa Malu
gegründet, einer der wenigen kongolesischen Physikerinnen. Wir beschlossen,
die Wissenschafts- und Technologiewoche der DRK ins Leben zu rufen, weil wir
von dort kommen. Wir trafen uns in Belgien, wo ich aufgewachsen bin. Ich wurde
im Kongo geboren und kehre für das Wissenschaftsfestival regelmäßig dorthin
zurück.
Die Idee wurde aus einer simplen Beobachtung heraus geboren:
Wissenschaftsunterricht im Kongo ist auf allen Ebenen immer noch überwiegend
vortragsbasiert. Daher mußten wir einen Weg finden, die Schüler zum Hantieren
und Experimentieren zu bringen. Hier sind ein paar Bilder, wie wir das in
Kinshasa tun (Abb. 2, 3).
Das Ziel der Wissenschaftswoche ist es, eine wissenschaftliche Kultur unter
der kongolesischen Jugend zu schaffen und den Abstand zu den Welten der
Wissenschaft, der akademischen Welt und der Unternehmen zu überbrücken.
Das Format eines Wissenschaftsfestivals ist ganz praktisch angelegt, weil
es nicht nur diejenigen erreicht, die noch zur Schule gehen. Die Lehrer können
ihre Schüler mitbringen, und wir versorgen sie mit Materialien. Wir bringen
sie dazu, Experimente zu machen, und wir beschäftigen uns nicht nur mit
Wissenschaft.
Um ehrlich zu sein. Wissenschaftler werden oft dafür kritisiert, daß sie
nicht wissen, wie sie ihre Arbeit vermitteln können. Deshalb bringen wir ihnen
einerseits bei, wie man wissenschaftliche Experimente aufbaut, doch dann
müssen sie ein wissenschaftliches Poster erstellen und in der Lage sein, ein
komplexes Prinzip auf einfache Weise und in kurzer Zeit zu erklären – und das
für verschiedene Zielgruppen, denn wir haben Kinder und Jugendliche vom
Kindergarten bis zur Universität, die das Wissenschaftsdorf besuchen. Die
Schüler, die wir ausbilden, müssen also mehr können als nur an Experimenten zu
hantieren, sie müssen auch an ihren „weichen Fähigkeiten" (Soft
Skills) in der Kommunikation arbeiten.
Die Idee dieses Wissenschaftsfestivals ist es, das schulische Lernen und
die Qualität des Unterrichts zu stärken. Und zweitens war es für uns wichtig,
einen Raum zu schaffen, in dem Wissenschaftler aus ihren Labors herauskommen
und über ihre Arbeit sprechen können. Denn solange kongolesische
Wissenschaftler, von denen es einige gibt, nicht kommunizieren und
veröffentlichen, können wir nicht wissen und verstehen, daß es sie gibt und
was sie tun.
Es ist sehr kompliziert, staatliche Fördermittel für Forschung und
Innovation zu erhalten, wenn Wissenschaftler keine Räume, keine „Fenster“
haben, um den Bürgern und Politikern zu kommunizieren, was sie tun, und wenn
es keine Möglichkeiten gibt, Brücken zur Wirtschaft zu bauen, wird es für die
Politik noch schwieriger, stark in diese Bereiche zu investieren.
Es war daher sehr wichtig für uns, einen Raum für Experimente für Schüler
und deren Lehrer und gleichzeitig einen Raum für Kommunikation und Information
für unsere Wissenschaftler anzubieten.
In den zehn Jahren unserer Tätigkeit haben wir fast 60.000 Besucher
empfangen. Diese Zahlen konnten wir erreichen, weil wir mit dem Ministerium
für Primar-, Sekundar- und Technische Bildung sowie mit dem kongolesischen
Forschungsministerium zusammenarbeiten. Auf diese Weise können sie die Schulen
so organisieren, daß sie zu festgelegten Stunden zum Wissenschaftsdorf kommen,
sodaß wir den Besucherstrom reibungslos steuern können.
Unser Modell sieht vor, daß wir jedes Jahr eine Gruppe von mindestens 50
Studenten ausbilden, und während der Veranstaltung bilden diese von uns
ausgebildeten Studenten ihrerseits die Gastschüler aus. Denn wir glauben an
unser Label „Teaching by doing“ (Lehren, indem man es tut). Wir glauben, daß
wir mehr bewirken können, wenn die Schüler und Schülerinnen, die mit ihren
Lehrern und Lehrerinnen ins Wissenschaftsdorf kommen, selbst sehen, daß es
Kinder aus ihrer Generation sind, Schüler und Schülerinnen wie sie, die
Wissenschaft betreiben, sie meistern und Spaß daran haben. Das entmystifiziert
die Vorstellung, Wissenschaft sei etwas weit Entferntes und Elitäres. Jeder
kann Zugang zu ihr haben. Und es hilft dabei, „Vorbilder“ zu schaffen. Man
kann nicht werden, was man nicht visualisieren kann. Wenn man ins Internet
geht, sieht man, daß die meisten Videos von Wissenschaftlern von Weißen
stammen, es gibt mehr weiße Männer, die Wissenschaft erklären, als Frauen.
Schwarze Frauen, die auf YouTube Wissenschaft erklären, sind eine
Seltenheit. Es ist also wichtig, diese Vorbilder zu schaffen, damit unsere
Kinder sehen können, daß die Wissenschaft eine Gemeinschaft ist, zu der sie
Zugang haben. Sie können dazugehören, sie haben ein Recht darauf.
Fernsehen und Radio
Apropos Repräsentativität: Während der COVID-Pandemie mußten wir unser
Modell überdenken. Wir konnten keine Wissenschaftswoche in Anwesenheit
veranstalten, deshalb produzierten wir populärwissenschaftliche Videos, um
weiter wissenschaftliche Inhalte zu verbreiten. Also produzierten wir diese
Videoclips und stellten sie auf unseren Youtube-Kanal,1 um
die Sichtbarkeit schwarzer Forscher im Internet zu erhöhen.
Als es soweit war, stellten wir fest, daß ein weiteres Problem darin
bestand, daß man eine Internetverbindung braucht, um diese Videos auf
Youtube anzusehen – und Internetanschlüsse sind sehr teuer. Um dieses
Problem zu umgehen, haben wir uns wieder mit dem Bildungsministerium
zusammengetan, damit unsere Clips tagsüber im Fernsehen ausgestrahlt wurden,
wenn die Schüler zu Hause waren.
Als wir das organisiert hatten, stellten wir fest, daß es auch nicht
unbedingt in jedem Haus einen Fernseher gab. Wir konnten also ein bestimmtes
Milieu nicht erreichen. Von da an versuchten wir, Unterricht in Form von
Podcasts zu produzieren. Das waren kleine Wissenschaftsgeschichten, die im
Radio gesendet wurden. Denn in jeder Gemeinde, selbst in der ärmsten, gibt es
mindestens ein Radio. So konnten wir auch die schwächsten Gemeinschaften mit
wissenschaftlichen Sendungen erreichen.
Die wichtigsten Zahlen:
- Wir haben rund 60.000 Besucher empfangen.
- Wir haben 400 Studenten ausgebildet. Das sind die Zahlen vom letzten
Jahr. Im April fand gerade unsere zehnte Veranstaltungsrunde statt. Der
Bericht ist noch nicht online, wird aber in Kürze erscheinen, die Zahlen sind
also inzwischen noch höher.
- Jedes Jahr haben wir 17 Ausbilder, die wir im Vorfeld schulen und die
uns dann bei der Betreuung der Schüler helfen, die an der Wissenschaftswoche
teilnehmen.
- Wir haben etwa hundert Aussteller eingeladen. Mit anderen Worten:
Unternehmer, Leute, die in Kinshasa ihr eigenes Geschäft haben, aber manchmal
weiß niemand davon. Es mag seltsam klingen, aber wenn man hier (in Europa)
etwas braucht, kann man es in die Google-Suchmaschine eingeben. In
Kinshasa gibt es absolut alles, nur weiß niemand, wo! Es ist Mundpropaganda,
entweder man weiß es oder nicht, aber es ist nicht so einfach, alles zu
finden, was man sucht. Das Wissenschaftsfestival bietet daher ein Fenster zum
Privatsektor.
Wir haben internationale Redner eingeladen, um unsere Wissenschaftler mit
Wissenschaftlern aus anderen Ländern ins Gespräch zu bringen, und wir haben
drei landesweite Wettbewerbe organisiert. Die Idee ist, die Kreativität
unserer Schüler, unserer Kinder, unserer Jugend zu fördern, indem wir sie dazu
bringen, Wissenschaft und Technologie zu nutzen.
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Abb. 4: Eingereichte Beiträge des Posterwettbewerbs, davor die
Organisatorinnen Raissa Malu (links) und Dora Muanda.
Abb. 5: Teilnehmer der Wissenschafts- und Technologiewoche.
Der erste Wettbewerb, den wir veranstaltet haben, war ein
wissenschaftlicher Posterwettbewerb. Alle Provinzen des Kongo wurden
aufgefordert, ein wissenschaftliches Poster zu erstellen. Sie konnten sich mit
einem lokalen Problem befassen, einem Problem, das sie in ihrer Umgebung
sahen, z.B. Bodernerosion oder Plastik oder die Bewirtschaftung des Kivu-Sees,
und eine Lösung vorschlagen und diese in Form eines wissenschaftlichen Posters
aufschreiben. Sie mußten ihre Ideen begründen, und wir hatten Banken als
Sponsoren, so daß wir die Ideen der jungen Leute zu einem lokalen Problem und
die Lösungen, die sie dafür finden wollten, unterstützen konnten. Das ist ein
Beispiel für einen von uns organisierten Wettbewerb (Abbildung 4).
In diesem Jahr haben zwölf der 26 Provinzen teilgenommen. In diesen zwölf
Provinzen erklärten sich die jungen Leute bereit, in ihren Gemeinden
wissenschaftliche Aktivitäten zu organisieren. Da wir uns nicht
vervielfältigen können, organisieren wir das von Kinshasa aus. So schaffen wir
eine Gemeinschaft junger Menschen, die in ihren eigenen Gemeinden die
Wissenschaft verbreiten und die wissenschaftliche Kultur fördern (Abbildung
5).
Junge Menschen für die Wissenschaft zu begeistern, bedeutet, daß wir die
Chance haben, innovationsfähige Bürger hervorzubringen. Wer wäre besser
geeignet als Afrikaner und generell Einheimische, um innovative Lösungen für
die Probleme zu finden, mit denen sie als erste konfrontiert werden?
Wenn wir wollen, daß die Demokratische Republik Kongo eines Tages eine
Rolle auf der Weltbühne spielt, dann wird das nicht zufällig geschehen. Es ist
eine Aufgabe, die wir als Gesellschaft, als Nation, mit einer langfristigen
Vision organisieren müssen. Es ist ein Plan, der bewußt erstellt werden muß,
durch den öffentlichen Sektor, den privaten Sektor und natürlich auf
politischer Ebene.
Die Menschheit braucht Afrika, und damit meine ich nicht nur den
afrikanischen Kontinent mit seinen Bodenschätzen. Die Menschheit braucht
Afrika: Ich spreche von den Afrikanern. Die Menschheit braucht die Afrikaner
und ihre Perspektiven für die globalen Herausforderungen.
Die Afrikaner müssen durch Bildung, Wissenschaft und Technologie in sich
selbst investieren, und verzeihen Sie, wenn ich darauf bestehe – die
Wissenschaft braucht die Perspektiven der Frauen – damit die Welt von morgen
nicht weiter für die nördliche Hälfte gerechter ist als für die südliche,
sondern gerecht für die ganze Menschheit auf der ganzen Erde.
Eine Hausaufgabe
Ich bin Lehrerin, und ich verlasse Sie nicht ohne eine kleine Hausaufgabe.
Die erste Zelle der Menschheit sind Ihre Familien. Wenn Sie Großeltern sind
und manchmal Probleme mit irgend etwas haben, das einen Bildschirm oder ein
Paßwort hat, dann rufen Sie nicht einfach nur Ihren Enkel, damit er kommt und
das Problem löst, wenn es geht – beziehen Sie auch Ihre Enkelin mit ein! Denn
wenn Sie sich nur an die Jungen wenden, um Probleme mit Routern, Wifi, Tablets
usw. zu beheben, sendet das unbewußt die Botschaft an die Mädchen, daß sie für
diese Gemeinschaft technikbegeisterter Forscher „nicht geeignet“ sind. Zögern
Sie also nicht, Ihre Töchter und Enkelinnen einzubeziehen, wenn es um kleine
technische Probleme geht.
Wenn Sie Eltern von Kindern im schulpflichtigen Alter sind, die oft
Hausaufgaben, Recherchen und Präsentationen machen müssen, zögern Sie nicht,
sie zu ermutigen, aus ihrer Komfortzone herauszutreten. Haben Sie schon einmal
daran gedacht, eine afrikanische Persönlichkeit vorzustellen? Eine
afrikanische Forscherin oder einen afrikanischen Forscher? Das ist eine Übung,
die ich gerne in meinen Klassen durchführe, die in Belgien oft buntgemischt
sind, und jedes Mal, wenn ich sie zum Beispiel auffordere, eine Arbeit über
einen Wissenschaftler aus dem Land ihrer Eltern anzufertigen, bekomme ich
immer die gleiche Antwort: „Madame, in meinem Land gibt es keine
Wissenschaft.“ Was für eine traurige Aussage!
Der Weg, die Sichtweise der Welt zu ändern, besteht also darin, unsere
Kinder zu ermutigen, ein wenig über die wissenschaftlichen Inhalte
hinauszublicken, die sie in der Schule lernen. Das ist eine Pflicht, die
beginnt, sobald man nach Hause kommt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Anmerkung
1. Siehe https://www.youtube.com/@InvestingInPeopleASBL
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