Wenn Europa sich von China abkoppelt,
wird es in Armut versinken
Von Marcelo Muñoz
Marcelo Muñoz ist Gründer und emeritierter Präsident der
spanischen Denkfabrik Cátedra China.
Ich kam 1978 nach China, als China auf Platz 120 der Weltmächte stand;
heute ist es die zweitgrößte. Ich hatte das Glück, diesen Wandel aus nächster
Nähe mitzuerleben, da ich mit den Menschen dort zusammenlebte. Ich habe
ausführlich mit führenden Vertretern der chinesischen Zivilgesellschaft,
darunter auch Politikern, gesprochen, und die Erfahrung aus nächster Nähe hat
mich gezwungen, meine Augen zu öffnen.
Ich kam als reifer Mann nach China, über 40 Jahre alt, mit einem
Lebenslauf, der Erfahrungen als Lehrer und Organisator in verschiedenen
Bereichen der Wirtschaftstätigkeit enthält. Das gab mir die Grundlage, um
meine Augen mit einem gewissen Wissen zu öffnen. Vor allem aber kam ich mit
einer Einstellung an, die auf Dialog und Offenheit gegenüber China abzielte.
Es war eine andere Welt, die ich bisher nur aus Büchern kannte. Und diese
andere Welt hat mich so sehr überrascht, da sie mich zwang, ständig aufmerksam
zu sein. Und das ist der Ursprung meiner Erfahrungen und meiner Bücher, Reden
usw...
Ich glaube, daß [die Abkopplung von China] eine Illusion ist, die aus der
westlichen Überzeugung stammt, daß wir überlegen seien, daß wir das Recht
hätten, die Welt zu regieren, und daß andere das nicht hätten. China hat
diesen Überlegenheitskomplex nicht. Sie haben ihn nicht. Vielleicht hatten sie
ihn in ihrer Geschichte, als sie das einzige wirklich mächtige Reich der Welt
waren. Aber jetzt haben sie ihn nicht mehr. Sie wollen reden, sie wollen den
Dialog. Sie wollen sich nicht abkoppeln.
Was bedeutet Abkopplung? Den Verzicht auf China als größten Verkäufer der
Welt? Verzicht auf China als das Land mit den größten technologischen
Fortschritten? Verzicht auf China als das Land, das derzeit die meisten
internationalen Partnerschaften oder Verbindungen unterhält – mehr als der
Westen? China ist in einem großen Teil Afrikas, in einem großen Teil Asiens,
in einem großen Teil Lateinamerikas stärker international vernetzt. Und in
einem großen Teil Europas, obwohl es hier Widerstand gegen Partnerschaften mit
China gibt.
Die Entkopplung ist also eine Schimäre, eine Illusion; es ist unmöglich,
sich von China zu entkoppeln. Wir haben uns während der Pandemie abgekoppelt,
und infolgedessen hatten wir nicht die medizinische Ausrüstung, um sie zu
bekämpfen. Wir können uns nicht abkoppeln; wenn wir uns abkoppeln, werden wir
in Armut versinken. Das bedeutet, daß wir auf alles verzichten müßten, was aus
China kommt, das der größte Exporteur der Welt ist – zum Beispiel für alle
technologischen Produkte...
Ja, sicher, das Projekt „Gürtel und Straße“ oder „Neue Seidenstraße“ ist
ein Projekt, mit dem China zum Ausdruck bringt, wie es in der Welt existieren
möchte: Zusammenarbeit, Kooperation, Entwicklung von Synergien, Entwicklung
globaler Konnektivität, usw. Und das Projekt ist vorangeschritten.
Und dann passiert es, daß der Westen – so wie es in den letzten 40 Jahren
mit China geschehen ist – plötzlich feststellt, daß es China gibt und daß es
sehr mächtig ist. Plötzlich hält die G7 – ich erinnere mich nicht mehr an das
Datum – vor ein oder zwei Jahren ihr Treffen ab, erkennt die Bedeutung von
Belt and Road und sagt: Wir werden das Problem der mangelnden globalen
Konnektivität zwischen Ländern und Kontinenten angehen. Also beschließen sie,
650 Milliarden Dollar für diese globale Konnektivität bereitzustellen.
Bis zu diesem Zeitpunkt, seit Beginn des Belt and Road-Projekts, haben
China und die am Belt and Road-Projekt beteiligten Länder, die Banken – nicht
nur aus China, sondern aus der ganzen Welt – die an den Belt and
Road-Projekten beteiligt sind, eine Billion Dollar pro Jahr investiert,
beginnend im Jahr 2013! Und plötzlich wacht die G7 auf und beschließt,
insgesamt 700 Milliarden Dollar zur Verfügung zu stellen.
Wir machen uns zum Narren, aus Unwissenheit. Ich vermute, daß keiner der
G7-Staats- und Regierungschefs weiß oder nachgerechnet hat, wieviel im Laufe
der Jahre in den Gürtel und die Straße investiert wurde – daß eine Billion
Dollar pro Jahr investiert wurde. Und das bedeutet eine Menge Projekte. Ich
habe die Zahl nicht im Kopf, aber es sind etwa 280 Projekte auf der ganzen
Welt im Gange. Einige mit beeindruckenden Autobahnen, die die höchstgelegenen
der Welt sind, die nach Pakistan führen, usw. usw. Die längste
Eisenbahnstrecke der Welt führt von Yiwu nach Madrid, um genau zu sein. Und so
weiter: Es gibt eine große Anzahl von Infrastrukturprojekten, die im Gange
sind und die jährlich eine Billion Dollar an Investitionen verschlingen. Und
wir wachen auf und beschließen, uns dem nicht anzuschließen, sondern ein
ähnliches Projekt zur Entwicklung der globalen Konnektivität in Höhe von 700
Milliarden Dollar zu starten. Das ist einfach lächerlich! ...
Ich gehe von der Prämisse aus, daß Philosophie die absolute Grundlage der
Politik sein muß. Und ich glaube, daß ich darin weitgehend mit LaRouches
Gedanken übereinstimme. Die Philosophie ist die Grundlage des menschlichen
Denkens über die menschliche Gesellschaft. In der Tat ist die konfuzianische
Philosophie die Analyse der menschlichen Gesellschaft, der Hierarchie in der
menschlichen Gesellschaft, der Rolle der Autorität, der Rolle des Kaisers oder
der Regierung im Dienste der Mehrheit der Bevölkerung, usw. Wir sollten diese
philosophischen Elemente nicht beiseite schieben – und derzeit sind sie in der
internationalen Politik beiseite geschoben worden. Man muß die Philosophie
verteidigen. Ich verteidige die Philosophie.
Und in diesem Zusammenhang denke ich, daß die Möglichkeiten für einen
Dialog des Westens, Europas und der Vereinigten Staaten, mit China von einem
politisch-philosophischen Standpunkt aus immens sind. Aber statt dessen
konzentrieren wir uns auf die Unterschiede; wir konzentrieren uns nicht auf
die Möglichkeiten der Annäherung.
Ich frage ganz einfach: Wie sähe die Welt aus, wenn Indien sich so
gewandelt hätte wie China – in seiner Wirtschaft, seiner Technologie, seiner
Wissenschaft, in der Entwicklung seiner Menschen. Die Armutsfalle von 350
Millionen Menschen wäre verschwunden, zusammen mit der mittleren Armut von
weiteren 400 Millionen Menschen in Indien. Die Welt wäre ein anderer Ort.
Anstatt uns zu streiten und auf unseren Unterschieden zu beharren, sollten
wir uns lieber um Wege der Kooperation bemühen, um Wege der Zusammenarbeit im
Hinblick auf globale Regierungsformen, die es heute nicht gibt. Ich wiederhole
das in meinem Buch sehr oft: Die Welt braucht eine globale Governance. Die
Welt wird heutzutage ausschließlich, oder fast ausschließlich, vom Westen
regiert. Warum wandeln wir diese Governance, diese Art der Regierung, nicht in
eine globale Governance um, an der zunächst einmal die drei Großmächte China,
die Vereinigten Staaten und die Europäische Union teilnehmen? Sie könnten dann
nach und nach Mächte der mittleren Ebene wie Rußland, Indonesien usw. und alle
Mächte der Welt in die Global Governance einbeziehen, die meiner Ansicht nach
auf der derzeitigen Form der G20 basiert. Und das wiederhole ich in meinem
Buch sehr oft. Warum stärken wir nicht die G20 als Keimzelle der Institution
der Global Governance, anstatt uns untereinander zu streiten und unsere
Unterschiede so sehr zu betonen? Das ist im Grunde der Aufruf, den ich in
meinem Buch mache.
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