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Schiller-Institut e. V.
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Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
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Das Fehlen einer Strategie der westlichen Länder zur Vermeidung eines Atomkriegs

Von Jens Jørgen Nielsen

Jens Jørgen Nielsen ist Historiker, Autor, ehemaliger Moskau-Korrespondent der dänischen Zeitung Politiken und Vertreter des russisch-dänischen Dialogs.

Ich beginne mit einer Feststellung: Der EU fehlt eine politische Strategie. Es gibt eine Fülle von Worten, lautem Gerede und Beteuerungen, daß die EU das Gute will. Es gibt auch viel Moralisieren und Erklärungen, daß die EU gemeinsam mit unseren atlantischen Partnern für alles Gute steht. Doch es fehlt eine echte Strategie.

Das ist schon seit mehreren Jahren so, aber nach dem Ukraine-Krieg ist es noch deutlicher geworden. Die binäre Einteilung der Welt in rein Gut und rein Böse, gepaart mit starken Emotionen und einem Mangel an konkretem Wissen über die komplexe Lage in der Ukraine und Rußland, ist eine unglückliche Mischung. Sie macht Verhandlungen und Kompromisse unmöglich und verhindert jeglichen Kontakt mit der Gegenpartei, und das letztlich ebnet den Weg für eine mögliche gegenseitige Zerstörung.

Diese Verklärung und Sentimentalisierung der Lage in der Ukraine verhindert eine echte Analyse sowohl der Interessen der anderen Partei als auch der eigenen Interessen. Folglich sind Politiker, die an dieser Auffassung und Denkweise festhalten, nicht in der Lage, die Interessen ihres Volkes zu schützen, die sie eigentlich vertreten sollen.

Das Paradebeispiel ist die Ukraine-Krise. Die meisten EU-Länder haben sich in der Frage der Beziehungen zu Rußland weitgehend dafür entschieden, sich den USA anzuschließen. Sie haben alle Sanktionen gegen Rußland akzeptiert und auch entschieden, der Ukraine Waffen und finanzielle Unterstützung zu liefern.

Es gibt jedoch einen erheblichen Unterschied zwischen den USA und der EU: Die Vereinigten Staaten können ihre Interessen offen und konkret definieren. Aus geopolitischer Sicht streben die Vereinigten Staaten danach, Rußland einzudämmen, um sicherzustellen, daß es nicht zu einer konkurrierenden Supermacht wie die Sowjetunion wird. Die Vereinigten Staaten wollen auch enge Beziehungen zu den EU-Staaten aufrechterhalten, vor allem über die NATO. Darüber hinaus wollen die USA nicht, daß die EU-Länder enge Beziehungen zu vermeintlichen Rivalen oder Gegnern wie China und Iran aufbauen. Das ist klar, allerdings vielleicht nicht realistisch.

EU-Politik ist selbstzerstörerisch

Diese EU-Politik ist selbstzerstörerisch. Besonders deutlich wird dies im Fall der Sanktionen gegen Rußland, die größtenteils den USA zugute kamen und nur begrenzte Auswirkungen auf Rußland hatten. Hätte man nicht absehen können, daß Sanktionen gegen Gas und Öl zu deutlich höheren Preisen führen würden? Und daß sich dies negativ auf viele europäische Länder auswirken würde, insbesondere auf Deutschland? Diese Preissteigerungen und die Unsicherheiten der Versorgung mit Energie aus alternativen Quellen haben zu Instabilität in der Industrie Deutschlands und anderer Länder geführt.

Deutschland ging sogar noch weiter, indem es seine Ölraffinerie in Schwedt an der Oder schloß und auf russisches Öl über die Druschba-Pipeline verzichtete. Die Pipeline war nicht Gegenstand von Sanktionen, aber Tschechien, die Slowakei und andere osteuropäische Länder waren fast zu 100% von ihr abhängig. Daher war Druschba von den Sanktionen ausgenommen. Aber Deutschland hat sich anders entschieden. Infolgedessen mußte Deutschland auf den Kauf von LNG-Gas und -Öl am Spotmarkt zurückgreifen. Das Absurdeste daran ist, daß Deutschland Öl aus Indien kaufte, das mit klimaschädlichen Supertankern transportiert wurde. Woher hat Indien das Öl? Meistens kam es aus Rußland! Und wo bleiben eigentlich die klimabewußten Grünen-Politiker in dieser Angelegenheit?

Nicht nur haben die EU-Länder sich wahrscheinlich selbst viel größeren Schaden zugefügt als Rußland, das seinen Handel schnell auf nichtwestliche Länder ausgerichtet hat. Aber hätten politische und wirtschaftliche Analysten das nicht vorhersehen können? Rußland ist alles andere als isoliert; es hat starke Beziehungen in Asien, im Nahen Osten, in Afrika und Lateinamerika.

Darüber hinaus sind viele dieser nicht-westlichen Länder ziemlich verärgert über die EU (und die USA), weil die sich ihnen gegenüber herablassend verhalten. Die EU hat sich als Vasall der aktuellen Konfrontationspolitik der USA positioniert, was eine ungünstige Position ist. Außerdem hat die Sanktionspolitik zu Turbulenzen in der Weltwirtschaft geführt, von denen vielerorts arme Länder überproportional betroffen sind. Daher schlagen viele dieser Länder konkrete Friedensinitiativen im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg vor (China, Türkei, afrikanische Länder usw.).

Es ist interessant, daß es mehrere Friedensverhandlungen zwischen Rußland und der Ukraine gab. Weißrußland ermöglichte eine davon, während die Türkei, Israel und Italien andere zu Beginn des Krieges vermittelten. Noch interessanter ist, daß der ehemalige Premierminister Israels, Naftali Bennett, der im Frühjahr 2022 einige Verhandlungen zwischen Rußland und der Ukraine leitete, erklärt hat, es gebe sowohl auf ukrainischer als auch auf russischer Seite einen Wunsch nach Frieden. Doch das wurde insbesondere vom Vereinigten Königreich, den USA, der EU und überraschenderweise Deutschland vereitelt.

In diesem Jahr erschien eine interessante Analyse des renommierten US-Analytik-Instituts RAND Corporation mit dem Titel „Krieg vermeiden“. Darin wird ein völlig neues Denken über die Ukraine gefordert. Das war unerwartet. Es heißt dort: Der Gewinn rechtfertigt nicht die Kosten und Risiken. Es wird keinen Sieg der Ukraine über Rußland geben. Der genaue Grenzverlauf in der Ukraine sei für die nationalen Interessen der USA unwichtig, heißt es in der Analyse. Es ist wichtig zu beachten, daß es sich bei der RAND Corporation um eine analytische Institution handelt und nicht um eine nationale Regierung oder ein Parlament. Nichtsdestotrotz hat die Denkfabrik in den USA erheblichen Einfluß und die Europäer könnten definitiv aus dieser Analyse lernen.

Wie also sollte eine neue europäische Politik aussehen?

  1. Sie muß auf der Realität basieren und darf sich nicht auf absolutistische, vereinfachende Schwarz-Weiß-Narrative stützen.

  2. Sie sollte in der Lage sein, nationale Interessen zu definieren, und auf dem Eid basieren, den viele Politiker bei ihrem Amtsantritt im Parlament ablegen, wonach das Wohlergehen der Menschen, einschließlich der Wirtschaft, des Gemeinwohls und der Sicherheit, oberste Priorität hat. Das wird in der EU bisher nur teilweise umgesetzt.

  3. Die EU-Länder müssen ihre überlegenes Gehabe aufgeben und sich mit anderen Zivilisationen auseinandersetzen, unter anderem in Asien, Afrika und dem Nahen Osten. Der herablassende Umgang mit nichtwestlichen Ländern ist zum Teil ein Relikt der Kolonialzeit. An die Stelle dieser schwelenden Arroganz sollten konkrete Kenntnisse anderer Kulturen treten. In diesem Zusammenhang könnte die EU viel von der Zusammenarbeit innerhalb der BRICS-Staaten lernen, wo es keine arroganten Haltungen gibt.

  4. Die EU-Länder sollten einsehen, daß ein bedingungsloses Bekenntnis zur US-Außenpolitik eine Sackgasse ist. Die EU hat ein grundsätzliches Interesse daran, insbesondere mit Rußland – aber auch mit anderen nichtwestlichen Ländern – auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten.

Eine solche europäische Politik stünde eher im Einklang mit den wichtigen historischen Aspekten und besten Traditionen Europas. Die Europäische Union (EU) hat das Potential dazu, sie muß jedoch zwei wichtige Überlegungen berücksichtigen. Erstens sind die Mitgliedstaaten innerhalb der EU von Natur aus vielfältig und man sollte ihnen erlauben, ihre Individualität zu bewahren. Die Durchsetzung einer Uniformität entlang ideologischer Linien wäre nicht effektiv. Zweitens haben andere Regionen der Welt unterschiedliche Geschichten, Kulturen und Traditionen, die anders sind als die der EU. Das Ziel dieser nicht-westlichen Länder ist nicht, den EU-Staaten nachzueifern.