Friedenspotential in einer hypervernetzten Welt
Von Sam Pitroda
Sam Pitroda ist ein indisch-amerikanischer
Telekommunikations-Ingenieur, Erfinder, Unternehmer und Buchautor und war
Berater der indischen Ministerpräsidenten Rajiv Gandhi und Manmohan Singh.
Meine Damen und Herren, ich grüße Sie aus Chicago. Zunächst einmal möchte
ich dem Schiller-Institut, Helga und Dennis [Speed] für die Einladung zu
dieser Veranstaltung danken. Ich konnte den meisten Rednern zuhören, und ich
unterstütze sie und stimme allen zu.
Ich bin nicht hier, um den Ukraine-Krieg zu analysieren oder mit dem Finger
auf jemanden zu zeigen. Ich bin wie wir alle hier, um ein Ende dieses Krieges
zu fordern. Ich komme aus dem Land von Mahatma Gandhi, ich glaube an
Gewaltlosigkeit. Ich habe mein ganzes Leben lang Gandhi studiert, und ich bin
fest davon überzeugt, daß für diese Art des Tötens, diese Art des Krieges, den
wir führen, im 21. Jahrhundert kein Platz mehr ist.
Ich möchte uns alle daran erinnern, daß wir zum ersten Mal in der
Geschichte der Menschheit alle miteinander verbunden sind. Alle acht
Milliarden Menschen sind im wesentlichen durch Hyperkonnektivität miteinander
verbunden.
Hyperkonnektivität bedeutet, daß eine ganze Reihe von Technologien
zusammenkommen, die das Potential haben, neue Zivilisationen zu schaffen.
Hyperkonnektivität umfaßt Satelliten, Glasfasertechnik, Smartphones, mobile
Konnektivität, Cloud Computing, Robotik, Analytik, Big Data und Künstliche
Intelligenz. All diese Dinge demokratisieren im Grunde Informationen, sie
dezentralisieren die Umsetzung, sie entmonetarisieren Dienstleistungen, und es
geht um Kommunikation; es geht um Inhalt, Kontext und Dauer. Die
Hyperkonnektivität verändert heute alles um uns herum: Handel, Unternehmen,
Märkte, Vertrieb, Lieferung, Produkte, Dienstleistungen, Finanzen, Wirtschaft,
Governance. Nichts, was ich kenne, bleibt wie es ist, weil die
Hyperkonnektivität allgegenwärtig geworden ist.
Die entscheidende Frage ist nun, wie wir die Vorteile der
Hyperkonnektivität nutzen können, um die menschliche Zivilisation auf die
nächste Stufe zu heben.
Mit der alten Denkweise, dem alten Paradigma und der alten
Organisationsstruktur ist das nicht möglich. Ich habe gerade ein Buch mit dem
Titel Redesign the World („Die Welt neu gestalten“) geschrieben. In
diesem Buch geht es um die Notwendigkeit, die Gestaltung der Welt zu
überdenken, wie sie vor 80 Jahren konzipiert wurde, woraus die UNO, die
Weltbank, der IWF und schließlich die WTO und die WHO hervorgingen.
Die Hyperkonnektivität verlangt, daß wir völlig anders denken. Helga
[Zepp-LaRouche] hat über ihr Zehn-Punkte-Programm gesprochen. Ich habe es
sorgfältig geprüft. Ich stimme mit dem meisten darin überein, und das ist
wahrscheinlich auch ein Ergebnis der Betrachtung der vernetzten Welt.
Wir brauchen keine Supermacht mehr
Wenn man sich die Geschichte der Welt ansieht, glauben wir immer, man
bräuchte eine Art Supermacht, um die Welt zusammenzuhalten. Dieses Denken muß
sich völlig ändern.
In Indien hatten wir in der jüngeren Geschichte das britische Raj
[Kolonialherrschaft], dann die Vorherrschaft der USA, und nach dem Zweiten
Weltkrieg hatten wir eine bipolare Welt. Dann brach die Sowjetunion zusammen,
ohne einen Schuß abzugeben; China ist auf dem Vormarsch; und jetzt sind wir
besorgt über den Konflikt zwischen China und den USA. Es ist ein Konflikt um
den Markt. Es ist ein Konflikt um die technologische Entwicklung. Es ist ein
Konflikt um Dominanz, ein Konflikt um wirtschaftliche Macht.
Aber in einer hypervernetzten Welt braucht man keine Supermacht mehr.
Netzwerke funktionieren viel besser. Man braucht keine Architektur für
Steuerung und Überwachung, sondern eine Architektur, die stärker auf
Zusammenarbeit, Kooperation und gemeinsame Gestaltung ausgerichtet ist. Es ist
heute möglich, mit einer Netzwerkarchitektur den Weltfrieden zu schaffen.
Wir sind überzeugt, daß alle globalen Gespräche heute ein geopolitisches
Gleichgewicht erfordern; sie erfordern ein Verständnis der Märkte und der
Wirtschaft. Die Hyperkonnektivität verlangt von uns, daß wir ganz anders
denken.
Ich habe mein Leben fast 60 Jahre lang mit Konnektivität gearbeitet, und
ich bin überzeugt, daß sie eine Chance ist, die menschliche Zivilisation auf
die nächste Stufe zu heben. Aber das ist nur möglich, wenn wir die Denkweise
der Vergangenheit, die nach dem Zweiten Weltkrieg das alte Konzept
hervorbrachte, hinter uns lassen. Dieses besagt im Grunde, daß wir ohne eine
bestimmte Machtstruktur auf globaler Ebene nicht überleben können. Also machen
wir weiter mit dem Krieg. Wir organisierten Kriege in Vietnam, Syrien,
Afghanistan, Irak und so weiter und so fort.
Für mich hat sich die Welt durch die Hyperkonnektivität völlig verändert.
Sie ist offener, transparenter und zugänglicher geworden. Und wir müssen das
Denken, das sich heute hauptsächlich auf Macht und Politik, Macht und Profit
konzentriert, auf den Planeten und die Menschen verlagern. Es ist das
Bedürfnis unseres Nächsten, daß wir uns ernsthaft um unseren Planeten kümmern.
Der Planet braucht nicht uns, wir brauchen den Planeten. Die globale Erwärmung
ist eine Krise; die Umwelt ist eine Krise. Dem müssen wir heute viel mehr
Aufmerksamkeit schenken, als Panzer für den Krieg in die Ukraine zu
liefern.
Wenn wir also unseren Fokus von Macht und Profit auf den Planeten und die
Menschen verlagern, dann können wir uns den eigentlichen Problemen der
Menschheit zuwenden: Umwelt, sauberes Wasser, saubere Luft, Hunger,
Ernährungssicherheit, Armut, Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie.
Heute gibt es mehr Haß als Liebe. Heute gibt es mehr Ausgrenzung als
Integration. Der alte Entwurf der Welt, der auf Demokratie, Menschenrechten,
Kapitalismus, Konsum und Militär aufbaute, muß sich verlagern auf Inklusion,
menschliche Grundbedürfnisse, eine neue Wirtschaft (denn der Kapitalismus hat
nicht geliefert) und Gleichheit (er hat den Reichtum in den Händen weniger
konzentriert, und viele Menschen sind sehr arm). Wir müssen uns mehr auf
Konsum, Nachhaltigkeit und auch Gewaltlosigkeit konzentrieren.
Die Diskussion ausweiten
Daher ist meine Bitte an uns alle, daß wir dieses Gespräch weiterführen.
Ich freue mich, daß der Papst sich für die Menschen einsetzt und zu
Friedensgesprächen einlädt, aber es müssen sich noch viel mehr Menschen gegen
diese Denkweise aussprechen, die nur nach Supermacht strebt, die sich nur auf
geopolitische Gleichungen konzentrieren will. In einer hypervernetzten Welt
haben Modelle eine andere Bedeutung. Digitale Bürger haben andere Rechte,
Regeln, Verantwortlichkeiten und Pflichten. Und als digitaler Bürger halte ich
es für meine Pflicht, uns darauf aufmerksam zu machen, daß wir unsere alte
Denkweise ablegen und die Hyperkonnektivität als Potential für Frieden und
Wohlstand für alle Menschen auf der Welt betrachten müssen. Aber das erfordert
eine neue organisatorische Architektur, eine neue Denkweise.
Helga hat sich sehr bemüht, uns alle zusammenzubringen, aber ich glaube,
unsere Stimmen werden nicht gehört. Ich habe Helga mehrmals gesagt, daß es gut
ist, all diese Gespräche zu führen, aber wer hört uns zu? Die Leute wenden
sich ab und machen ihr eigenes Ding. Der Papst hat Vorschläge, aber nicht
viele Menschen sind bereit, sie anzunehmen.
Wie bringen wir das also in die öffentliche Diskussion? Wie können wir es
so ausweiten, daß unsere Führungsriege in der Welt – sei es die G7 oder die
G20 – sagt, wir sollen von diesem Weg abkommen und uns auf den Weg von
Gewaltlosigkeit, Liebe, Gerechtigkeit, Demokratie, Menschenrechten und
Integration begeben?
Wir haben in den letzten 80 Jahren keine neuen Institutionen wie UNO,
Weltbank oder IWF aufgebaut. Wir müssen Institutionen wieder aufbauen; wir
müssen neue Institutionen schaffen. Dafür müssen wir mehr Mittel aufwenden,
anstatt für Kriegsführung.
Und zum Schluß: Ich schließe mich Ihnen an, ich glaube an Sie und bin der
Meinung, dass es für viele von uns an der Zeit ist, die Stimme zu erheben, um
diesen blutigen Krieg zu beenden. Ich danke Ihnen.
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