Rußland, Ukraine und ihre Bedeutung für den Globalen Süden
Von Donald Ramotar
Donald Ramotar war Staatspräsident (2011-15) sowie Abgeordneter
des Parlaments von Guyana.
Es ist nun fast ein Jahr her, daß Rußlands Intervention in der Ukraine
begonnen hat. Die Gefahren für die Welt haben seitdem enorm zugenommen, und
die Möglichkeit eines Nuklearkonflikts ist größer geworden als je zuvor,
selbst die Kubakrise 1962 eingeschlossen.
Die Frage ist: Warum? Warum hat es sich so entwickelt? Es ist ganz klar,
daß es von Anfang an darum ging, zu verhindern, daß Rußland die Vereinigten
Staaten oder die westliche Welt in irgendeiner Weise bedrohen kann, und darum,
Rußland als Land zu zerstören und weiter aufzuspalten, nachdem die Sowjetunion
aufgelöst worden war. Dieser Krieg ist Rußland aufgezwungen worden.
Wir haben das schon früher gesagt, und die Eingeständnisse anderer haben
kürzlich gezeigt, daß schon vor dem Krieg die Diplomatie nur als Instrument
diente, Zeit zu gewinnen und die Voraussetzungen dafür zu schaffen, Raketen an
Rußlands Grenze aufzustellen und die NATO vor seine Haustür zu bringen.
Das wurde, wie gesagt, offen zugegeben. Angela Merkel hat diese Täuschung
durch die westliche Diplomatie vor kurzem offen zugegeben, als sie sagte, daß
es nie die Absicht war, die von ihr unterzeichneten Vereinbarungen – das
Minsker Abkommen – einzuhalten, die es der Ukraine ermöglicht hätten, mit
allen ihren Teilen weiter zu existieren, einschließlich Lugansk,
einschließlich Donezk, einschließlich der Krim. Sie alle wären Teil der
Ukraine gewesen, wenn die Ukraine ein neutrales Land geblieben wäre.
Doch das lag nicht in ihrem Interesse, und sie benutzten die Diplomatie,
darunter unterzeichnete Abkommen, um zu täuschen und zu betrügen und eine
faktische Einkreisung Rußlands zu erreichen. Das haben auch Polen, der
ehemalige Präsident Frankreichs und der ehemalige Präsident der Ukraine
bestätigt.
Das beweist natürlich, daß die USA keine Zusammenarbeit oder Freundschaft
auf gleicher Augenhöhe wollen, das gilt nicht nur für Rußland, sondern auch
für jedes andere Land. Aber Rußland ist das einzige Land mit Atomwaffen, das
sich ihnen entgegenstellen kann. Sie wollen die dominierende Weltmacht bleiben
und alle anderen Mächte vernichten, die ihm die Vorherrschaft streitig machen
wollen. Deshalb ist es vordringlich, daß sie jetzt versuchen, Rußland zu
vernichten.
Wenn Sie sich erinnern: Die Phase der Feindseligkeit gegenüber China begann
nach der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008, als China zum
größten Land mit einer internationalen Wirtschaft und zum größten Kreditgeber
für Entwicklungsländer und andere Länder, auch der europäischen Länder,
aufstieg. Es investierte in sie usw., so daß die USA begannen, China als
Konkurrenten für ihre Weltherrschaft zu sehen.
Ich habe den Eindruck, daß die Philosophie der Vereinigten Staaten darin
besteht, daß ihr System, um in den Vereinigten Staaten selbst zu bestehen, ein
Kriegssystem sein muß, ein dominierendes System auf der ganzen Welt. Und sie
sind bereit, das mit allen Mitteln durchzusetzen.
Krieg und Sanktionen seit langem vorbereitet
Ihr Hauptziel war es auch, Rußland zu besiegen, wenn nicht sofort in einem
schnellen Krieg, dann ihn in die Länge zu ziehen und es in einem langwierigen
Krieg ausbluten zu lassen, so wie bei ihren eigenen Erfahrungen in Vietnam und
in Afghanistan und auch den russischen Erfahrungen in Afghanistan. Das ist es,
was sie versuchen.
Wir sehen auch, daß die gegen Rußland verhängten Sanktionen lange im voraus
vorbereitet worden sind, was darauf schließen läßt, daß man sich sicher war,
daß Rußland nur zwei Möglichkeiten hatte: entweder der NATO zu erlauben,
Stützpunkte in der Ukraine zu errichten, oder Rußland zu zwingen, zu
reagieren. Und sie waren sich ziemlich sicher, daß sie Rußland überhaupt
andere keine Wahl gelassen hatten.
Ich sagte zwei Möglichkeiten, aber in Wirklichkeit war es nur eine
Möglichkeit. Sie setzten ihre Hoffnung darauf, Rußland auf dem Feld zu
vernichten. Ihre Absicht war es, sowohl militärisch als auch wirtschaftlich
doppelt anzugreifen, um Rußland zu vernichten.
In den letzten ein oder zwei Jahren ist allen, die die Wahrheit wissen
wollen, klargeworden, daß Rußland von Anfang an Recht hatte: daß es nicht
gegen die Ukraine kämpfte, sondern daß es in einen Kampf mit NATO-Ländern
verwickelt war, die Waffen in die Ukraine liefern, auch Söldner, nachdem
Rußland das Militär in der Ukraine zerstört hatte. Unsere Panzer,
möglicherweise Flugzeuge, Waffen mit größerer Reichweite und Waffen und
Unterstützung im Wert von Milliarden und Abermilliarden von Dollar fließen in
die Ukraine, es geht immer weiter in diese Richtung. Und dies geschieht unter
völliger Mißachtung der sozioökonomischen Probleme in vielen Ländern, die zu
NATO-Gebern der Ukraine geworden sind.
Ein weiterer Grund dafür, daß diese Eskalation immer gefährlicher wird: Wir
sollten uns daran erinnern, daß Rußlands Grund für die Intervention darin
bestand, erstens die NATO-Erweiterung zu verhindern und zweitens die russische
Bevölkerung zu verteidigen, die seit Jahrhunderten in der Ukraine lebt. Eine
Bevölkerung, die jeden Tag angegriffen und ständig schikaniert und bombardiert
wurde, während sie auf irgendeine Vereinbarung und Lösung hofften. Eine
Einigung, von der sie hofften, daß das Minsker Abkommen sie ermöglichen würde.
Diese beiden Bedingungen sind also nicht erfüllt worden. Vielmehr hat sich
die Lage in beiden Bereichen verschlechtert. Die Sicherheit Rußlands ist nach
wie vor bedroht; Rußland befindet sich weiterhin in der Schußlinie
hochentwickelter Waffen, die der Ukraine zur Verfügung gestellt werden. Sie
wurden der Ukraine von Anfang an zur Verfügung gestellt und werden auch jetzt
noch in die Ukraine geliefert.
Der andere Grund ist, daß die russische Wirtschaft nicht zusammengebrochen
ist. Tatsächlich sind es die europäischen Volkswirtschaften, die am meisten
darunter leiden, aber es gibt jetzt eine vollständige Kolonialisierung
Europas, die die Vereinigten Staaten gegen die Europäische Union umgesetzt
haben, denn die Europäische Union handelt eindeutig nicht in ihrem eigenen
Interesse. Und um zu gewährleisten, daß diese koloniale Art der Vorherrschaft
über die Europäische Union weiter aufrecht erhalten bleibt, haben sie eine der
wichtigsten wirtschaftlichen Verbindungen Rußlands mit der Europäischen Union
zerstört: die beiden Nord-Stream-Pipelines, die Europa mit Gas versorgen
sollten.
All diese Dinge sind passiert, und die Europäer sind zwar hier und da in
einigen Bereichen unzufrieden, aber im allgemeinen scheinen sie unfähig zu
sein, etwas dagegen zu unternehmen. Ich nehme an, daß die Amerikaner genau das
tun, was sie tun wollen, denn ihre Haltung gegenüber Europa wurde von Frau
Nuland sehr gut ausgedrückt, nämlich wohin sich die Europäer scheren
können.
Herrschaft des Dollars wird in Frage gestellt
Eine der unbeabsichtigten Folgen, die sich entwickelt hat und die auch in
den USA und unter den NATO-Ländern für große Aufregung sorgt, ist die
Tatsache, daß sich viele Länder mehr oder weniger darin einig sind, daß die
internationalen Wirtschaftsbeziehungen verändert werden müssen. Die Herrschaft
des Dollars wird nun zum ersten Mal in Frage gestellt, da viele Länder dem
Muster Rußlands folgen und in ihren eigenen Währungen handeln, so daß die
Bedeutung des Dollars an Bedeutung verlieren könnte. Das ist eine äußerst
wichtige Herausforderung für die Vorherrschaft der Vereinigten Staaten an
sich, denn es besteht die Möglichkeit, daß Chinas Yuan zu einer wichtigeren
Währung auf der internationalen Bühne wird, und auch die Möglichkeit, daß eine
neue Währung Gestalt annimmt. Viele Länder sind bereit, in dieser Hinsicht zu
kooperieren, vor allem weil sie die von den USA verhängten Sanktionen als eine
Art Damoklesschwert empfinden, das über ihren Köpfen hängt. Deshalb wünschen
sie sich mehr Handlungs- und Vereinigungsfreiheit.
Aber können Sie sich vorstellen, was passieren würde, wenn eine starke
Währung entstünde, an der sich viele Länder orientieren und an der sie sich
beteiligen könnten? Die Verschuldung in den Vereinigten Staaten ist
gegenwärtig etwa 1,5 Mal so hoch wie ihr BIP. Wenn das in unserem Land
passieren würde, oder in irgendeinem anderen Land, in dem es keine starke
Währung gibt, mit der man Handel treiben kann, dann wäre das eine riesige
Wirtschaftskrise, die zu großen Verwerfungen in allen Bereichen der
Gesellschaft führen würde. Wenn der Dollar im internationalen Handel an
Bedeutung verliert, ist das eine große Herausforderung für das bestehende
System der Vorherrschaft. Auch das macht den Vereinigten Staaten Angst; es
macht vielen der herrschenden Klasse in diesen Ländern Angst, die sehen, wie
wichtig es ist, daß ihre eigene Existenzweise das dominierende System in der
Welt ist.
Ich möchte auch darauf hinweisen, daß den sogenannten westlichen
Demokratien seit fast einem Jahr die Maske der Demokratie und der
Menschenrechte vom Gesicht gerissen wird, die Pressefreiheit, wie sie in einem
demokratischen Gesellschaftssystem gilt, wird eingeschränkt, usw...
Ich würde sagen, das wichtigste, was wir jetzt tun müssen, ist, den
Widerstand gegen den Krieg auszuweiten. Wenn es zu einem Atomkrieg kommt,
werden auch wir im südlichen Teil der Welt zerstört. Das bedeutet, daß wir
auch ein Mitspracherecht haben müssen.
Deshalb ist die Initiative, die jetzt von Präsident Lula in Brasilien
ergriffen wird, sehr zu begrüßen, damit wir uns einbringen können und ein
Mitspracherecht in dieser Angelegenheit haben, um eine Organisation zu
schaffen, in der unsere Stimmen gehört werden können.
Zweitens halte ich den Vorschlag von Helga (Zepp-LaRouche), Frieden und
Entwicklung und die Überwindung der Armut miteinander zu verbinden, für
äußerst wichtig, das muß wieder auf die Tagesordnung, um ausführlicher darüber
zu diskutieren. Ich denke, daß der Vorschlag im wesentlichen richtig ist, und
er muß noch feiner abgestimmt werden, und wir müssen sicherstellen, daß er auf
der Tagesordnung steht.
Drittens glaube ich, daß wir versuchen sollten, immer mehr Menschen dazu zu
bewegen, den Brief an den Papst zu unterschreiben, den einige von uns bereits
unterzeichnet haben. Die Kirche hat eine bewundernswerte Position eingenommen,
und wir sollten die Initiative, die sie ergriffen hat, um diesen Krieg zu
beenden und letztendlich unsere Welt zu retten, solidarisch und unterstützend
begleiten.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit…
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