Eine neue Form des antikolonialistischen Kampfes
Von S.E. Donald Ramotar
Donald Ramotar war Präsident von Guyana (2011-2015) und
Mitglied des Parlaments (1992-2011). In der Internetkonferenz des
Schiller-Instituts am 15. April hielt er den folgenden Vortrag. (Übersetzung
aus dem Englischen.)
Ich danke Ihnen sehr. Zunächst einmal möchte ich alle Teilnehmer
grüßen.
Wir leben in sehr gefährlichen Zeiten. Unsere Welt erlebt viele Konflikte,
von denen der ernsthafteste und gefährlichste die Situation in Europa und der
russisch-ukrainische Konflikt ist. Wir sollten nicht vergessen, daß die beiden
Weltkriege des letzten Jahrhunderts beide in Europa ihren Anfang nahmen.
Andererseits zeichnen sich auf der internationalen Bühne die Konturen eines
tiefgreifenden Wandels ab. Die Kräfteverhältnisse ändern sich und geben Anlaß
zur Hoffnung, daß eine bessere und gerechtere Welt entstehen kann. Wie bereits
erwähnt, stellt der Ukraine-Konflikt eine große Gefahr für die Menschheit dar.
Denn vier mit Atomwaffen ausgerüstete Länder sind an dieser Militäroperation
beteiligt. Das Tragische daran ist, daß er vermeidbar gewesen wäre, wenn der
Grundsatz der gleichen Sicherheit der Nationen in Bezug auf Rußland gewahrt
und respektiert worden wäre.
Die Tatsache, daß sie andauert und eskaliert, liegt in der Natur des
Imperialismus begründet. Das Streben der führenden imperialistischen Mächte
nach totaler Vorherrschaft ist der Kern dieser Krise.
Der Hauptkampf in unserer heutigen Welt hat viele Ähnlichkeiten mit den
antikolonialen Kämpfen des letzten Jahrhunderts. Die Form hat sich in
vielerlei Hinsicht geändert; jetzt haben wir eine kollektive Kolonialmacht in
Form der NATO-Staaten unter Führung der Vereinigten Staaten. Ihr Hauptziel ist
es, den Rest der Welt ihrer Macht zu unterwerfen. Sie wollen die Ausbeutung
der Mehrheit der Völker der Welt fortsetzen und die Massen Asiens, Afrikas und
Lateinamerikas arm und machtlos halten.
Der Krieg wurde Rußland aufgezwungen, weil der Imperialismus entschlossen
ist, keinen Staat zu haben, der seine militärischen Kernkapazitäten
herausfordern kann. Auch wenn Rußland heute selbst ein kapitalistischer Staat
ist, ist seine Geschichte weiterhin ein Schreckgespenst für die kollektiven
Kolonialisten. Die Angst vor Sozialismus und Kommunismus ist in den Köpfen der
westlichen herrschenden Klasse noch immer präsent. Deshalb haben sie alle ihre
Versprechen gegenüber Rußland in Bezug auf seine Sicherheit gebrochen. Das ist
der Hauptgrund für ihre Ablehnung der russischen Freundschafts- und
Kooperationsangebote, die in den 1990er Jahren und zu Beginn dieses
Jahrhunderts gemacht wurden.
Es ist auch klar, daß die aggressivsten Elemente in der NATO-Allianz jeden
Versuch, den Konflikt zu beenden, sabotiert haben. Statt dessen verschärfen
sie die Gefahren, indem sie die Ukraine weiterhin mit den modernsten Waffen
versorgen, um den Krieg in Gang zu halten. Die Hoffnung ist, Rußland zu
erschöpfen. Der US-Imperialismus will sicherstellen, daß Rußland nie wieder
seine Hegemonie in Frage stellen kann.
Dieser Konflikt dient auch als Vorwand für einen weiteren Aggressionsplan
gegen die Sicherheit Rußlands. Ich spreche hier von Finnlands Beitritt zum
NATO-Bündnis.
Die Propagandalinie, die der Westen verfolgt, lautet, Putin habe mit seiner
Militäroperation in der Ukraine das Gegenteil von dem bekommen, was er
erwartet hat. Das ist unzutreffend. Dieser seit langem bestehende Plan wurde
vom finnischen Präsidenten selbst in seiner Beitrittsrede zur NATO
offengelegt. Er erklärte, die NATO habe seit langem darauf hingewirkt, daß
Finnland seinen Neutralitätsstatus aufgibt. Er sagte – ich zitiere: „Als
Partner haben wir uns bereits seit langem an den Aktivitäten der NATO
beteiligt.“ Er bestätigte weiter, daß die Beitrittszeremonie nur eine
Formalität war, als er sagte: „Seit Jahren haben wir unsere
NATO-Kompatibilität entwickelt.“
Dies ist ein Eingeständnis, daß es sich nicht um eine plötzliche
Entscheidung handelt, sondern um eine, die von langer Hand geplant war und auf
einen geeigneten Vorwand wartete, um sie auszuführen. Jetzt zu sagen, Rußland
habe sich das selbst zuzuschreiben, obwohl es Finnland nie bedroht hat, ist
eine faustdicke Lüge.
In diesem Jahr wird dieser Krieg nicht nur auf dem Schlachtfeld
ausgetragen. Die NATO-Mächte hatten wirtschaftliche Sanktionen gegen Rußland
vorbereitet, lange bevor überhaupt ein Schuß gefallen war. Erinnern Sie sich
an die Arroganz der USA, als ihr Präsident ankündigte, daß Rußland mit der
„Mutter aller Sanktionen“ konfrontiert werden würde und daß „der Rubel
verschrottet werden würde“. In diesem Fall sah sich Rußland mit den
wirtschaftlichen Angriffen der USA und ihrer NATO-Verbündeten konfrontiert.
Diese Maßnahmen sind nicht wie geplant ausgefallen. Sie haben sich sogar als
Bumerang erwiesen, aber darauf komme ich gleich zurück.
Die Situation im Rußland-Ukraine-Konflikt hat eine weitere Eigenschaft des
Westens offenbart. Sie hat gezeigt, daß die Vereinigten Staaten wirklich nur
Lippenbekenntnisse zu den globalen Umweltbedingungen ablegen. Ihre Gier und
ihr Wunsch nach Vorherrschaft sind viel stärker als ihre Sorge um die globale
Umwelt.
Wie sonst läßt sich die Zerstörung der Nord Stream-Pipelines erklären? Dies
war ein Sabotageakt gegen die gesamte Menschheit. Ungezählte Millionen Tonnen
von Treibhausgasen wurden vorsätzlich in unsere Atmosphäre freigesetzt. Das
Gerede über den Schutz unserer Umwelt, das aus den USA, Großbritannien,
Dänemark und anderen Ländern kommt, klingt zu diesem Zeitpunkt besonders hohl.
Dies war ein Angriff auf all diejenigen, die versuchen, die internationale
Umweltzerstörung aufzuhalten.
Umrisse einer gerechteren Welt zeichnen sich ab
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ohne die großen Gefahren, denen wir
ausgesetzt sind, herunterspielen zu wollen, gestatten Sie mir die Bemerkung,
daß sich die Umrisse einer gerechteren und faireren Welt abzeichnen. Die
massiven Wirtschaftssanktionen haben vielen Ländern vor Augen geführt, wie
verletzlich sie sind und daß solche Maßnahmen gegen jedes Land verhängt werden
können, das versucht, seine Souveränität zu behaupten.
Aus diesem Grund suchen viele Länder jetzt den Schulterschluß mit den
BRICS. Damit wollen sie ihre eigene Wirtschaft schützen. Die Sanktionen gegen
Rußland und andere Länder haben diese Länder gezwungen, nach Alternativen für
den internationalen Handel und das internationale Finanzwesen zu suchen. Schon
jetzt ist zu beobachten, daß der Yuan, die chinesische Währung, im Welthandel
an Bedeutung gewinnt. China hat sich als zuverlässiger Partner für die
Entwicklungsländer erwiesen. Es hat sich das Vertrauen großer Teile der Welt
erworben. Die Möglichkeit, daß eine neue Handelswährung entsteht, scheint sehr
groß zu sein.
Diese Entwicklungen werden sicherlich einen großen Beitrag zur
Demokratisierung der internationalen Wirtschaft leisten. Sie sind eine große
Hoffnung für die armen Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika. Ich glaube,
daß die Versuche, die Spannungen im Nahen Osten zu lösen, darauf
zurückzuführen sind, daß viele Länder zunehmend erkennen, wie anfällig sie für
imperialistische Machenschaften sind. Dies ist eine höchst begrüßenswerte
Entwicklung. Hoffentlich kann dies dazu beitragen, die demokratischen Kräfte
in Israel zu stärken und den Tag näher zu bringen, an dem das palästinensische
Volk mit den Worten von Martin Luther King, Jr. sagen kann: „Wir sind endlich
frei.“
Die Rolle der internationalen Institutionen
Es gibt noch eine weitere wichtige Aufgabe, die vor uns liegt und für die
wir die Solidarität unserer Völker brauchen. Es geht darum, die
internationalen Institutionen zu schützen.
Seit dem Konflikt in der Ukraine haben wir gesehen, wie der Westen
internationale Institutionen für seine eigenen Zwecke mißbraucht hat. Arme und
weniger arme Länder wurden unter Druck gesetzt, in den Vereinten Nationen und
anderen internationalen Gremien in einer bestimmten Weise abzustimmen.
Dies hat ein lächerliches Ausmaß erreicht, als der Internationale
Strafgerichtshof Anklage gegen den russischen Präsidenten erhob. Der
angebliche Grund dafür ist die Verschleppung von Kindern aus einem
Kriegsgebiet. Dies ist eine sehr gefährliche Provokation durch unsere
internationalen Institutionen. In der gleichen Zeit wurde nichts gegen
diejenigen unternommen, die in den Irak einmarschiert sind, die Muammar
Qaddafi in Libyen ermordet haben, die dieses Land zerstört und die Greueltaten
in Afghanistan begangen haben. Dennoch wurde niemand von diesen
internationalen Gremien angeklagt oder auch nur getadelt.
Diese Handlungen dienen nur dazu, die internationalen Institutionen zu
diskreditieren. Wir müssen die internationalen Gremien auffordern, unabhängig
zu handeln und sich nicht dem Druck der Vereinigten Staaten und der
NATO-Staaten zu beugen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Weg, der vor uns liegt, ist einerseits
voller großer Versprechungen für eine bessere Zukunft, andererseits aber auch
noch sehr gefährlich für die gesamte Menschheit. Die Demokratisierung der
internationalen Wirtschaft, die gerade erst beginnt, wird kein reibungsloser
Prozeß sein. Wir müssen damit rechnen, daß der Imperialismus dies nicht auf
die leichte Schulter nehmen wird. Ich glaube, daß er seine Anstrengungen
verdoppeln wird, um fortschrittliche Regierungen zu untergraben. Sie werden
auf Regimewechsel zurückgreifen, wo sie können. Sie sind bereit, Länder zu
unterwandern und die Schwächen von Staaten auszunutzen, die sich ihrem Diktat
widersetzen.
Deshalb möchte ich vorschlagen, daß unsere erste Aufgabe darin besteht, zu
versuchen, den gefährlichen Konflikten in Europa ein Ende zu setzen. Wir
brauchen Frieden, um viele dieser Probleme zu lösen. Wir brauchen Frieden, um
die sozioökonomischen und ökologischen Probleme zu lösen.
In dieser Hinsicht haben wir einige sehr wichtige Vorschläge auf dem Tisch,
und wir müssen sie weltweit bekannt machen. Es handelt sich um Vorschläge des
Papstes, der den Vatikan als Ort für Friedensverhandlungen angeboten hat. Wir
haben den Friedensvorschlag der Volksrepublik China. Das sind sehr wichtige
Vorschläge. Der Vorschlag des [brasilianischen] Präsidenten Lula und unser
eigener Vorschlag der Zehn Prinzipien von Helga [Zepp-LaRouche], worin sie die
Frage der menschlichen Entwicklung und des dauerhaften Friedens miteinander
verbunden hat. Das muß noch mehr betont werden, denn ohne Entwicklung gibt es
keinen dauerhaften Frieden.
Alle diese Prinzipien sind wichtig und haben gemeinsame Merkmale. Deshalb
sollten wir sie immer wieder hervorheben und darauf drängen, daß
Friedensgespräche jetzt beginnen. Dies wäre der erste Schritt zu einem
dauerhaften Frieden in unserer Welt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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