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Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Was würde Erasmus zum Frieden in der Ukraine sagen?

Von Luc Reychler

Luc Reychler ist emeritierter Professor für Internationale Beziehungen, Strategische Studien und Friedensforschung an der Universität Leuven. Er eröffnete den vierten Abschnitt der Straßburger Konferenz des Schiller-Instituts am 9. Juli mit dem folgenden Vortrag.

In meinem Vortrag werde ich eine Analyse des aktuellen Krieges in Europa geben und darüber nachdenken, wie Desiderius Erasmus damit umgehen würde.

Als einer der größten Gelehrten der Renaissance wies Erasmus auf die Torheit von Religionskriegen hin (Torheit ist die Verfolgung einer Politik, die dem Wohlergehen der Menschen in den beteiligten Staaten zuwiderläuft) und nahm sich das Establishment seiner Zeit vor, seien es Fürsten oder Päpste. Ihre Ausreden für den Krieg wurden in Schriften wie ,Lob der Torheit‘ und ,Die Klage des Friedens‘ kritisiert und persifliert. Er gab dem Frieden eine Stimme.

Seine Kommentare von vor fast 500 Jahren sind auch heute noch relevant, denn obwohl Kriege einzigartig und historisch und kulturell unterschiedlich sind, sind sie universell ähnlich. In Kriegen und Gegenkriegen werden absichtlich Greueltaten begangen. (Gegenkriege werden gegen das Land geführt, das einen Krieg begonnen hat). Menschen, vor allem Soldaten, werden immer noch abgeschlachtet, durchbohrt, verbrannt, zerfetzt, erstickt, gefoltert, geplündert usw. Und die Gewalt, die im Krieg ausgeübt wird, wird beklatscht, als gerecht und patriotisch bezeichnet; die Soldaten, ob tot oder lebendig, werden mit Abzeichen geehrt. Erasmus warnte davor, daß Kriege für Menschen attraktiv sind, die keine Erfahrung oder kein Wissen über den Krieg haben. Seine Abscheu vor dem Krieg kommt gut zum Ausdruck in dem Zitat „Dulce bellum inexpertis“ oder „Der Krieg ist süß für die Unerfahrenen“.

Gemälde von Hans Holbein d.J., 1523

Desiderius Erasmus, genannt Erasmus von Rotterdam

Bevor ich den Krieg in der Ukraine durch Erasmus‘ Brille betrachte, möchte ich mich auf einige Facetten des Krieges konzentrieren, die nicht Teil des offiziellen Diskurses im Westen sind. Sie laden uns jedoch zu einem ausgewogenen, umfassenden und unparteiischen Bild ein.

1. Der Krieg war antizipierbar. Mehrere Diplomaten und Wissenschaftler, darunter auch ich, haben einen Krieg erwartet. So warnte beispielsweise William Burns, Botschafter in Rußland und später Direktor der CIA, 2008 während der Präsidentschaft von George Bush, daß die Ausweitung der NATO auf Georgien und die Ukraine tödliche Folgen haben würde. Sie wäre die hellste aller roten Linien und würde einen fruchtbaren Boden für russische Interventionen auf der Krim und in der Ostukraine schaffen.

2. Der Krieg hätte verhindert werden können. Der Westen, insbesondere Amerika, hat die Kriegsverhinderung erschwert durch

    (a) seine expansionistische Außenpolitik,

    (b) die Reduzierung der Diplomatie auf Zwangsdiplomatie und Regimewechsel und

    (c) die Unterschätzung der Risiken und Kosten eines eskalierenden Stellvertreterkrieges. Der politische Realismus von Hans Morgenthau wurde durch den Neokonservatismus ersetzt, der demokratische Staaten dazu drängte, eine neue internationale Ordnung durch militärische Macht, Sanktionen und Regimewechsel zu schaffen.

3. Rußland hat den Krieg begonnen und ist der Hauptschuldige, aber der Westen und Kiew sind mitverantwortlich. Es gibt mehrere Anzeichen für eine Mitverantwortung. 1990 definierte sich die Ukraine als neutrales Land; das Land würde keinem Bündnis beitreten. Die NATO würde sich nicht auf die Ukraine ausdehnen. In den ersten 24 Jahren der Unabhängigkeit hat die Ukraine keinen Krieg erlebt. Die amerikanische Einmischung in die Innenpolitik der Ukraine im Namen des Regimewechsels war schon vor der Maidan-Revolution in vollem Gange. Diese Einmischung in die inneren Angelegenheiten und die schleichende Expansion der NATO bedrohten die objektive und subjektive Sicherheit Rußlands. Rußland mahnte seine existentielle Sicherheit an. Die USA und die NATO ignorierten die Sicherheitsfrage mit dem Argument, daß das Bündnis friedlich und defensiv sei.

Dieses öffentliche Bekenntnis steht in schmerzlichem Widerspruch zu den vielen Kriegen, die Amerika, seine Verbündeten und die NATO im 21. Jahrhundert im Nahen Osten und in Europa (in Afghanistan, im Irak, in Libyen, in Syrien und in Serbien zur Unterstützung der Separatistenbewegung im Kosovo 1999) geführt haben. Die zunehmende politische und geographische Ausdehnung der NATO bis an die russischen Grenzen stellte Rußland vor eine Krise und ein Dilemma: dies zuzulassen, oder die Ausdehnung rechtzeitig zu stoppen und damit ,vollendete Tatsachen‘ zu vermeiden.

4. Es gibt nicht genug Raum für eine offene Diskussion in Rußland, der Ukraine und im Westen. Eine unparteiische, offene und kritische Diskussion über Prävention und Mitverantwortung hätte zu einer fundierten Analyse und Prognose sowie zu einer rationalen und realistischen Politik beigetragen. Sie würde die Chancen auf ernsthafte Friedensverhandlungen deutlich erhöhen. In Rußland ist ein kritisches Gespräch über den Krieg und den achtjährigen Bürgerkrieg in der Ukraine, der ihm vorausging, unmöglich. Das ist auch in der Ukraine der Fall. In den öffentlichen Räumen des freien und demokratischen Westens wird erwartet, daß alle Nasen in dieselbe Richtung zeigen.

Eine offene und kritische Diskussion wird durch ,Gruppendenken‘ verhindert. Dabei handelt es sich um ein politisch-psychologisches Phänomen, das der Zustimmung Vorrang einräumt und kritische Kommentare und Alternativen ausschließt. Merkmale sind: die Illusion der Unfehlbarkeit, die Überzeugung, daß die eigene Moral überwiegt, die Rationalisierung der eigenen Entscheidungen, die Stereotypisierung oder Diabolisierung des Gegners sowie Druck und Sanktionen, um Konformität zu erzwingen. Dies untergräbt die Chancen einer erfolgreichen und kosteneffizienten Entscheidungsfindung und bildet eine einseitige und engstirnige öffentliche Meinung. In Kriegen neigen Pazifisten und Friedensforscher dazu, ins Abseits zu geraten, sanktioniert und als Verräter, Träumer oder psychisch Abweichende stigmatisiert zu werden.

5. Der Krieg in der Ukraine ist eine bösartige Verstrickung eines internen Krieges und eines Stellvertreterkrieges mit Eskalationspotential. Es handelt sich um die Eskalation eines acht Jahre andauernden Bürgerkriegs in einem plurinationalen Land. Glücklicherweise ist es bisher ein begrenzter Krieg geblieben, der innerhalb der Grenzen der Ukraine stattfand. Der Krieg und der Gegenkrieg haben viel Leid und Zerstörung verursacht. Es ist ein riesiges Medienereignis. Die Diplomatie ist am Boden. Präsident Selenskyj geriert sich als Stand-up-Diplomat und erscheint fast täglich auf Pressekonferenzen oder in seinem Amtszimmer. Es ist ein zynischer Krieg, für den die Bevölkerung und die Frontsoldaten bezahlen. Das Donezbecken im Osten ist seit neun Jahren das blutgetränkteste Gebiet.

6. Die Kosten sind hoch. Während eines Krieges ist es immer schwierig, gute Statistiken zu finden; sie sind meist grob und unzuverlässig. Die Zahlen sind Teil der psychologischen Kriegsführung. So wird zum Beispiel den Opfern und Zerstörungen während des vorangegangenen (internationalisierten) Bürger- und Sezessionskriegs im Donbaß nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt. Am 9. April 2018 berichtete die Washington Post, daß der Donbaß eine der schlimmsten humanitären Krisen der Welt ist. Nach fünf Jahren der Kämpfe wurden mehr als 10.000 Menschen getötet, davon 2.800 Zivilisten. Der Krieg zerstörte die Infrastruktur und ein Drittel der Krankenhäuser und Schulen, Häuser und Wahleinrichtungen. Die Zahl der Flüchtlinge und der vertriebenen Bürger war sehr hoch. Für den aktuellen Krieg schätzten Pentagon-Dokumente, die im April 2023 veröffentlicht wurden, daß die Ukraine etwa 125.000 Opfer zu beklagen hatte, darunter bis zu 17.500 Gefallene, während die Russen fast 200.000 Opfer zu beklagen hatten, darunter bis zu 43.000 Gefallene.

Das Problem bei Kriegen sind nicht nur die enormen Kosten (physisch, materiell, wirtschaftlich, sozial, politisch, psychologisch, spirituell und ökologisch), sondern auch die tatsächlichen und erwarteten Vorteile und Gewinne. Kriege dauern so lange an, wie sie von den Hauptakteuren als profitabel angesehen werden.

7. Die Kriegslogik setzt sich durch. Es wurden keine ernsthaften Anstrengungen unternommen, um die Chancen für eine Deeskalation und den Aufbau eines nachhaltigen Friedens zu erhöhen. Humanitaristen und Falken fordern weiterhin mehr Waffen und mehr Krieg. Der Einzeiler des NATO-Generalsekretärs Stoltenberg ,Waffen sind der Weg zum Frieden‘ ist der passende Titel für ein surrealistisches Gemälde von Magritte. Der Krieg sieht aus wie ein riesiger Käfigkampf, in dem die außenstehenden Unterstützer sichere Zuschauer sind, die die Kämpfer anstacheln und zum Sieg ermutigen.

8. Der Krieg wird wahrscheinlich in einer Lose-Lose-Situation enden. Die Gewalt kann noch lange anhalten, sich verschärfen und sogar zu einem Regional-, Drittwelt- oder Atomkrieg führen. Die Verluste erleiden nicht nur die Ukrainer und die Kämpfer auf beiden Seiten des Schlachtfelds (meist junge Männer, von denen 40 bis 50% keine militärische Erfahrung haben), sondern auch ganz Europa. Für einige Zuschauer im Rest der Welt ist der Krieg eine europäische Tragikomödie.

Was Erasmus jetzt tun würde

Wie würde Erasmus auf die Kriege im 21. Jahrhundert und insbesondere auf den Krieg in der Ukraine reagieren?

Ich denke, er würde die Ausreden für den andauernden Krieg kritisieren und persiflieren, zum Beispiel die falsche Darstellung des Krieges als Verteidigung der Demokratie und der demokratischen Welt. Er würde sich auch mit der Propaganda auf beiden Seiten auseinandersetzen. Vor allem aber würde er auf die Dummheit des Krieges und die Hybris und Mittelmäßigkeit der Kriegstreiber hinweisen. Nur weise Menschen schaffen nachhaltigen Frieden. Moderne und intelligente Waffen haben die tatsächlichen und potentiellen Grausamkeiten des Krieges nicht verringert; und die Massenvernichtungswaffen warten hinter der nächsten Ecke.

Erasmus würde auch ein Whistleblower sein und die Prinzen und Könige sowie die Kriegsgewinnler, die für den Krieg verantwortlich sind, beim Namen nennen. Er glaubt, daß das, was nicht durch Argumente und Fakten widerlegt werden kann, durch Lachen zerlegt werden kann.

Als konstruktiver Pazifist würde er seine kritische Analyse durch Friedensarbeit ergänzen. Das bedeutet, daß er die Beendigung des Krieges fordert, denn er hält den Frieden für wertvoller als das Streben nach Triumph, und er hält einen eingefrorenen Konflikt für weniger zerstörerisch, weniger kostspielig und weniger gefährlich als einen langwierigen Krieg. Die Beendigung des Krieges würde Hand in Hand mit der Wiederaufnahme von Kommunikation und Friedensverhandlungen, aber auch mit Entwicklung gehen.

Südkorea ist ein gutes Beispiel für ein Land, das 1953 einen Waffenstillstand mit Nordkorea aushandelte und (mit Hilfe der USA) beschloß, seine Talente zu nutzen, um ein wohlhabendes Land zu werden. Südkorea erinnert uns daran, daß nicht derjenige über seine Zukunft entscheidet, der einen Krieg gewinnt, sondern derjenige, der den Frieden gewinnt. Ein Waffenstillstand in der Ukraine in Verbindung mit Bemühungen, den Frieden zu gewinnen, könnte eine Formel zur Beendigung des Krieges sein.

Erasmus unterstreicht die Beziehung zwischen Bildung und Frieden. Er würde empfehlen, daß das Erasmus+-Programm für allgemeine und berufliche Bildung, Jugend und Sport auch der Erziehung zu nachhaltiger Friedenskonsolidierung und der Verhütung von Kriegen Aufmerksamkeit schenkt.

Schließlich möchte er die Menschen dazu ermutigen, sich an der Schaffung eines nachhaltigen Friedens zu beteiligen. Das mag wie ein Traum klingen. Aber wie er vor 500 Jahren sagte, würde er uns daran erinnern, daß „es einige Menschen gibt, die in einer Traumwelt leben, und es gibt einige, die sich der Realität stellen; und dann gibt es diejenigen, die das eine in das andere verwandeln.“