„Rußland wird den Zeitplan diktieren“
Von Scott Ritter
Scott Ritter ist ehemaliger UN-Waffeninspektor und ehemaliger
Offizier der US-Marines. In seinem Beitrag bezog er sich auf die Kampagne
Helga Zepp-LaRouches und des Schiller-Instituts für sofortige Verhandlungen im
Vatikan über einen Frieden in der Ukraine.
Ich danke Ihnen sehr für die Einladung. Ich danke Ihnen, Helga, für Ihre
inspirierenden einleitenden Worte.
In einer perfekten Welt wäre ein solches Ergebnis, wie Helga es anstrebt,
nicht nur möglich, sondern sogar wünschenswert. Aber wir leben nicht in einer
perfekten Welt, und ich bin in einer Position, in der ich das Vertrauen in den
Westen, sich als verantwortungsvoller Partner für den Frieden zu verhalten,
verloren habe.
Es ist nicht nur ein Mangel an Vertrauen in die Regierungsinstitutionen,
sondern offen gesagt habe ich auch das Vertrauen in die Menschen im Westen
verloren. Sie sind so eingenommen von ihrem konsumorientierten Lebensstil, daß
sie praktisch jede Sünde verzeihen, die ihre Regierungen begehen,
einschließlich der Sünde der Lüge, des Betrugs nicht nur an anderen, sondern
an den eigenen Leuten. Solange die Regierung für niedrige Energiepreise,
erschwingliche Lebensmittel und ein Mindestmaß an Bequemlichkeit sorgt, wird
ihr alles verziehen.
Das sehen wir auch an der Haltung des Westens gegenüber Rußland, wo jede
Lüge, jede Verdrehung der Wahrheit für bare Münze genommen wird und jeder
Vertrauensbruch als ganz etwas ganz Normales akzeptiert wird. Die Russen
werden verteufelt, so weit, daß ein Volk von mehr als 158 Millionen Menschen
auf eine einzige Person – Wladimir Putin – reduziert wird, von dem der Westen
zudem nicht einmal weiß, wie er ihn richtig definieren soll. Der Westen ist
unfähig, Putin in einen angemessenen historischen Kontext zu stellen; er ist
unfähig, ihn als Produkt der modernen russischen Gesellschaft zu würdigen; und
so ist er auch unfähig, sich ihm gegenüber verantwortungsvoll zu verhalten,
wenn es darum geht, die Probleme zu lösen, mit denen wir heute in der Welt
konfrontiert sind.
Nur Angela Merkel kann die Frage beantworten, ob sie heute eine Lügnerin
ist oder ob sie schon immer eine Lügnerin war. Aber so oder so ist sie eine
Lügnerin. Es gibt einen Grundsatz in der amerikanischen Rechtsprechung: einmal
gelogen, immer gelogen. Nachdem sie sich einmal als Lügnerin erwiesen hat,
kann man ihr nicht mehr trauen. Das gleiche gilt für die Franzosen, für die
Vereinigten Staaten, für den gesamten Westen.
Wir verlangen von Rußland, daß es mit Lügnern verhandelt, daß es seine
nationalen Sicherheitsinteressen aufs Spiel setzt in der Hoffnung, daß die
Lügner nicht mehr lügen. Das ist aus russischer Sicht ein unverantwortlicher
und unrealistischer Vorschlag.
Ich weiß, daß wir im Westen das gerne hätten, aber wir sagen damit: „Wir
haben versagt, und nun sind wir völlig auf den guten Willen der Russen
angewiesen, um wenigstens noch etwas zu retten.“ Daß die Russen sich an den
Verhandlungstisch setzen und alles verzeihen und guten Willen unterstellen –
ich glaube nicht, daß Rußland das tun kann, und ich glaube auch nicht, daß
Rußland dazu bereit ist.
Ich glaube sogar, daß Rußland genau in die entgegengesetzte Richtung geht.
Weil man dem Westen in seiner jetzigen Form nicht trauen kann, geht Rußlands
Politik einen Weg, der dem entspricht, was hochrangige westliche Vertreter,
u.a. der NATO-Generalsekretär, gesagt haben, nämlich, daß die Situation in der
Ukraine auf dem Schlachtfeld entschieden wird. Rußland denkt genauso: Die
Situation wird auf dem Schlachtfeld entschieden.
Das Beste, worauf der Westen hoffen kann, ist meiner Ansicht nach, daß
Rußland ein Treffen einberuft, das an das Treffen im September 1945 in der
Bucht von Tokio erinnern wird – das Treffen an Deck des Schlachtschiffs
Missouri, wo dem besiegten japanischen Feind die Möglichkeit gegeben
wurde, Dokumente der bedingungslosen Kapitulation zu unterzeichnen – oder zu
sterben. So wird Rußland der Ukraine die Möglichkeit geben, Dokumente der
bedingungslosen Kapitulation zu unterzeichnen oder zu sterben. Das Beste,
worauf der Westen hoffen kann, ist ein frühzeitiges Eingreifen, bei dem
Rußland davon überzeugt werden kann, daß es in seinem besten Interesse liegt,
diese Bedingungen eher früher als später anzubieten.
Aber auch das wird nach einem von Rußland diktierten Zeitplan geschehen.
Was wird der Punkt sein, der Einschnitt, an dem Rußland bereit ist, den Weg
zum militärischen Sieg zu unterbrechen und die Möglichkeit einer
bedingungslosen Kapitulation anzubieten? Nur Rußland kann diese Entscheidung
treffen; der Westen hat keine Stimme mehr. Der Westen verdient keine Stimme
mehr, der Westen sollte keine Stimme mehr haben, der Westen zählt nicht mehr!
Die einzige Partei, die heute zählt, wenn es um die Lösung des
Ukraine-Konflikts geht, ist Rußland.
Deshalb denke ich, daß wir verpflichtet sind, mit den Russen
zusammenzuarbeiten, um ihnen zu signalisieren, daß wir Vertrauen in ihre
Menschlichkeit haben, Vertrauen in ihre Reife als Nation. Wir vertrauen auf
die Reife ihrer Führung, daß sie es nicht übertreiben wird, daß sie das
Notwendige tun wird, um Frieden und Sicherheit zu russischen Bedingungen zu
gewährleisten.
Und wir sollten dabei nicht vergessen, daß die russischen Bedingungen keine
Bedingungen sind, mit denen der Westen nicht leben kann. Rußland hat seine
Bedingungen schon definiert. Seit dem 17. Dezember 2021 hat es zwei
Vertragsentwürfe vorgelegt – einen für die NATO und einen für die Vereinigten
Staaten –, in denen es sehr detailliert die Bedingungen darlegt, unter denen
Rußland und der Westen einen neuen europäischen Sicherheitsrahmen definieren
sollen. Ein Vertrag, der keine Auflösung der NATO und keine Kapitulation des
Westens voraussetzt. Der Rahmen verpflichtet den Westen lediglich dazu,
Rußlands legitime nationale Sicherheitsinteressen zu respektieren, so wie
Rußland die legitimen nationalen Sicherheitsinteressen des Westens
respektieren würde.
Ich glaube, wenn der Westen Rußland signalisiert, daß solche Bedingungen in
einem Umfeld nach dem Ukraine-Konflikt akzeptabel wären, dann ist das die
Grundlage für künftige Verhandlungen.
Ich sage nicht, daß der Gedanke an eine Intervention des Vatikans falsch
ist, das vergesse ich nicht. Ich sage nur, daß der Zeitpunkt nicht der
richtige ist. Vielleicht kann der Vatikan der neutrale Ort sein, an dem ein
neuer europäischer Sicherheitsrahmen zwischen einem siegreichen Rußland und
einem besiegten Westen ausgehandelt werden kann.
Aber im gegenwärtigen Stadium wird es keine Chance für eine Intervention
geben, solange dieses Krebsgeschwür, das die Ukraine geworden ist – das
Krebsgeschwür, das vom Westen geschaffen, bewaffnet und motiviert wurde –
nicht ausgemerzt und für immer aus der menschlichen Gesellschaft entfernt
worden ist. Und das kann nur Rußland tun. Eine Verhandlungslösung wird es
nicht geben.
Ich denke, das ist eine realistische Einschätzung der Lage. Ich befürchte
auch, daß jeder Versuch, Rußland zu einer Verhandlungslösung zu zwingen, nach
hinten losgehen und nur eine härtere Reaktion Rußlands nach sich ziehen würde.
Jeder Versuch des Westens, Rußland mit Waffengewalt zu etwas zu zwingen, würde
zu einer Eskalation führen, die sehr wohl in einem allgemeinen Atomkrieg enden
könnte.
Daher halte ich Verhandlungen zum jetzigen Zeitpunkt sogar für die denkbar
schlechteste Vorgehensweise. Das Beste, worauf man hoffen kann, ist, den
Westen dazu zu bringen, die Bewaffnung der Ukraine einzustellen; den Westen
dazu zu bringen, die Vorstellung eines möglichen ukrainischen Sieges
aufzugeben; den Westen dazu zu bringen, zu akzeptieren, daß man den Schaden,
der dem ukrainischen Volk und der ukrainischen Nation schon zugefügt wurde,
möglichst klein hält, indem man sich in die Unvermeidlichkeit eines russischen
Sieges fügt und hofft, daß Rußland vor der totalen Zerstörung des ukrainischen
Staates Halt macht.
Ich danke Ihnen sehr. Ich danke Ihnen für die Einladung und wünsche Ihnen
eine sehr erfolgreiche Konferenz.
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