Atomwaffen, Demokratie und der Tiefe Staat
Von Scott Ritter
Der als Whistleblower bekannt gewordene ehemalige
UN-Waffeninspekteur Scott Ritter hielt in der Internetkonferenz des
Schiller-Instituts am 15. April den folgenden Vortrag. (Übersetzung aus dem
Englischen.)
Vielen Dank, daß Sie mich eingeladen haben. Es mag wie eine seltsame
Kombination klingen: „Atomwaffen, Demokratie und der Tiefe Staat“. Ich
beschäftige mich schon seit 1987/88 mit Rüstungskontrolle, als Ronald Reagan
und Michail Gorbatschow den Vertrag über nukleare Mittelstreckenwaffen (INF)
unterzeichneten, mit dem ein Rüstungskontrollregime begann, das nicht nur die
Zunahme der Atomwaffen begrenzte, sondern sogar ganze Kategorien von
Atomwaffen abschaffte.
Damals erschien die Rüstungskontrolle als ein Teil der Regierungspolitik.
Die meisten Amerikaner waren sich gar nicht bewußt darüber, wieviele
verschiedene Institutionen, Behörden, Abteilungen und Personal an diesen
behördenübergreifenden Bemühungen beteiligt waren, damit dieser Vertrag
Wirklichkeit wurde.
Aber wenn Sie so denken – und ich dachte das damals auch, obwohl ich selbst
aktiv daran beteiligt war –, dann haben Sie sich geirrt. Denn man muß sich vor
Augen führen, was im Juni 1982 im Vorfeld dieser erfolgreichen Umsetzung der
Rüstungskontrolle passiert ist.
1982 waren die Abrüstungsverhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und
der Sowjetunion praktisch eingefroren, sie redeten einfach nicht miteinander.
Die ganze Welt sah, wie sowohl die Vereinigten Staaten als auch die
Sowjetunion anfingen, Kategorien von Kernwaffen zu stationieren, die den
Frieden und die Sicherheit in Europa und damit auch weltweit bedrohten.
Aber am 22. Juni 1982 geschah etwas Erstaunliches: Eine Million Amerikaner
versammelten sich im Central Park von New York City und gaben der US-Regierung
ein klares Signal, daß wir, das Volk der Vereinigten Staaten von Amerika, mit
diesem Zustand nicht zufrieden waren; daß wir nukleare Abrüstung und
Rüstungskontrolle forderten. Ausgerechnet ein so konservativer Präsident wie
Ronald Reagan – der die Sowjetunion vehement verurteilte und sie wiederholt
als das „Reich des Bösen“ bezeichnete –, dieser Präsident erhielt den nötigen
politischen Freiraum, um die Notwendigkeit der Rüstungskontrolle in Betracht
zu ziehen. Dies führte zu einer Wiederaufnahme der Gespräche, einer
Wiederaufnahme des Dialogs und, wie ich bereits sagte, zur Unterzeichnung und
Umsetzung des Vertrags über nukleare Mittelstreckenwaffen und später des
Vertrags über die Reduzierung strategischer Waffen (START).
Die Doktrin des „präventiven Atomkriegs“
Wir befinden uns heute in einer Situation, in der die Rüstungskontrolle so
gut wie tot ist. Wie 1982 haben wir eine Situation, in der die Vereinigten
Staaten und Rußland einfach nicht miteinander reden; es gibt keine
Verhandlungen. Das letzte Überbleibsel der Rüstungskontrolle, der neue
START-Vertrag, läuft im Februar 2026 aus. Wenn er nicht durch einen neuen
Rüstungskontrollvertrag ersetzt wird, bedeutet das, daß die Vereinigten
Staaten und Rußland in ein sehr gefährliches nukleares Wettrüsten ohne
jeglichen Kontrollmechanismus verwickelt sein werden.
Wie kommen wir aus dieser Situation heraus? Die meisten Amerikaner glauben,
daß wir darauf warten müssen, daß die US-Regierung zur Vernunft kommt und das
Richtige tut. Aber die amerikanische Regierung ist nicht mehr die gleiche wie
in den 1980er Jahren.
Damals, in den 1980er Jahren, gab es den sogenannten „Inter-Agency-Prozeß“,
d.h. einen Prozeß, bei dem sich die verschiedenen Ministerien und Behörden der
US-Regierung in politischen Fragen der nationalen Sicherheit miteinander
abstimmten. Sie taten dies jedoch unter der Leitung des Präsidenten der
Vereinigten Staaten, über seinen Nationalen Sicherheitsberater und den
Nationalen Sicherheitsrat. So konnte das amerikanische Volk diesen Prozeß
beeinflussen, indem es dem Präsidenten signalisierte, daß wir eine Änderung
brauchen, daß wir eine Änderung fordern. Der Präsident hörte darauf, und er
ordnete den behördenübergreifenden Prozeß an, um die Bedingungen für eine
erfolgreiche Rüstungskontrolle zu schaffen.
Heute haben wir einen Präsidenten, Joe Biden, der im Wahlkampf für das
Konzept der „sole purpose doctrine“ (Doktrin des alleinigen Zwecks)
geworben hat, d.h. daß Amerikas Atomwaffenarsenal einzig und allein dazu
dienen soll, andere Länder, die über Atomwaffen verfügen, von einem Angriff
auf die Vereinigten Staaten abzuschrecken. Wenn diese Abschreckung
fehlschlägt, würde ein außerordentlicher Strafschlag erfolgen, der so
schrecklich wäre, daß hoffentlich niemand versucht, die Vereinigten Staaten
mit Atomwaffen anzugreifen.
Früher hatten wir das unter der Bezeichnung „Mutually Assured Destruction“
(gegenseitig garantierte Zerstörung).
Aber das haben wir nicht mehr. Die Vereinigten Staaten haben jetzt eine
Politik, die auf der Vorstellung beruht, daß die Vereinigten Staaten nukleare
Präventivschläge aus nichtnuklearen Anlässen durchführen können. Kurz gesagt,
wann immer die Vereinigten Staaten es für nötig halten, Atomwaffen
einzusetzen, können wir sie vom Standpunkt der Doktrin einsetzen.
Das ist eine außerordentlich gefährliche Situation. Und Joe Biden hat sie
richtig als solche erkannt. Um ehrlich zu sein, hatte das auch Barack Obama
vor ihm, der diese präemptive nukleare Strategie von George W. Bush erbte.
Aber Barack Obama war acht Jahre lang nicht in der Lage, das nukleare
Establishment, den behördenübergreifenden Prozeß, dazu zu bringen, einen
angemessenen Weg zu finden, um von der Präemption zum alleinigen Zweck
überzugehen. Joe Biden, als Oberbefehlshaber, wollte das tun.
Im Dezember letzten Jahres habe ich an einer Art Erinnerungstreffen von
Unterhändlern, Implementierern und Waffeninspektoren teilgenommen, die mit dem
Vertrag über nukleare Mittelstreckenwaffen zu tun hatten. Wir hatten einen
Gast bei diesem Treffen, ein hochrangiges Mitglied der Biden-Administration,
das für Rüstungskontrolle zuständig ist. Dieser Person wurde die Frage
gestellt: „Wie kann es sein, daß der Oberbefehlshaber – die mächtigste
Exekutive, der Mann, der dafür verantwortlich ist – diese Politik nicht
umsetzen kann? Er hat gesagt, daß er das tun will, warum ist es nicht
passiert?“
Die Antwort war, die „Inter-Agency“ sei dazu noch nicht bereit.
Das ist eine erstaunliche Aussage, denn es war nicht die Rede von einem
behördenübergreifenden Prozeß, bei dem sich die Abteilungen
untereinander abstimmen; er sprach von der Inter-Agency wie von einer eigenen
Institution, einem eigenen Wesen. Wer von uns amerikanischen Bürgern
hat für diese Inter-Agency gestimmt? Wer hat diese Inter-Agency ausgewählt?
Wie ist diese zwischenbehördliche Einrichtung entstanden, und warum darf sie
ein Vorhaben blockieren, das von einer Person vorgegeben wird, die vom
amerikanischen Volk gewählt wurde?
Das ist die Gefahr; das ist der Tiefe Staat. Die Inter-Agency, wie sie
derzeit besteht, ist die lebende Manifestation dessen, was die Leute den
„Tiefen Staat“ nennen: ein nicht gewähltes Gremium von Bürokraten, Experten
und Technokraten, dessen einziger Zweck es ist, einen Mechanismus in Bezug auf
die nationale Sicherheit zu schaffen, um die politische Macht zu erhalten. Sie
sind mächtiger als der Präsident der Vereinigten Staaten.
Wir müssen also wieder auf die Frage der Demokratie zurückkommen. Wie
kommen wir, das Volk, aus dieser Situation heraus? Denn wir haben gesehen,
wenn wir einfach dasitzen und darauf warten, daß die Regierung das Richtige
tut, daß dann selbst ein Präsident, der durch demokratische Prozesse gewählt
wurde und der im Wahlkampf gesagt hat, daß er die Doktrin der Präventivschläge
ändern will, dazu nicht in der Lage war. Er wurde durch diesen nicht gewählten
Klüngel, der sich „Inter-Agency“ nennt, blockiert.
Den Tiefen Staat besiegen
Wenn wir die Inter-Agency nicht wählen, wie können wir sie dann ändern? Die
Antwort ist, wir müssen deutlich machen, daß wir diese Inter-Agency nicht
akzeptieren!
Wie können wir das tun? Ich möchte die Menschen nur daran erinnern, was im
Juni 1982 geschah, als eine Million Amerikaner auf die Straße gingen und
deutlich machten, daß sie nichts weniger als eine konzertierte Aktion zur
nuklearen Abrüstung und Rüstungskontrolle tolerieren würden. Das müssen wir
wieder tun, und die Wahl 2024 wird, glaube ich, als eine der wichtigsten
Wahlen nicht nur in der amerikanischen, sondern in der Weltgeschichte in die
Geschichte eingehen. Denn sollten wir es nicht schaffen, eine
Führungspersönlichkeit einzusetzen, die nicht nur an die Rüstungskontrolle
glaubt, sondern auch bereit ist, die Kontrollmechanismen des Tiefen Staates zu
umgehen, dann befürchte ich, daß es in fünf Jahren gar nicht mehr möglich sein
wird, einen solchen Dialog, ein solches Art Seminar wie hier zu haben. Und
warum? Weil die meisten von uns nicht mehr hier sein werden, weil es einen
Atomkonflikt geben wird! Wir befinden uns am Rande eines nuklearen Abgrunds,
den wir selbst geschaffen haben.
Der Atomwaffeneinsatz wird von Doktrinen bestimmt, die von nuklearer
Präemption sprechen. Die Russen sind so frustriert und besorgt über diese
amerikanische Strategie, daß man im russischen Establishment darüber
nachdenkt, die eigene Doktrin zu ändern und die Präemption einzubeziehen. Wir
sehen es an den Nordkoreanern, die von einem nuklearen Präventivschlag
sprechen – warum? Alle sind besorgt über die Vereinigten Staaten von Amerika;
alle sind besorgt über die amerikanische Nuklearstrategie und die
unverantwortlichen Worte und Taten der amerikanischen politischen Führung und
des nicht gewählten Tiefen Staats. Wenn wir dasitzen und nichts tun, sind wir
auf dem Weg in die Katastrophe.
Sie wissen, daß die Gruppe amerikanischer Atomwissenschaftler – das
Bulletin of the Atomic Scientists – eine sogenannte Atomuhr erstellt.
Sie haben die Uhr kürzlich auf 90 Sekunden gestellt. Ich denke, das ist
irreführend; das impliziert, daß wir Zeit haben. Wir haben aber keine Zeit.
Der tatsächliche Stand der Atomuhr ist eine halbe Sekunde vor zwölf, weniger
als das. Es braucht nur einen Klick und alles ist vorbei. Alles ist so
positioniert, daß es jeden Moment klick machen kann. Ein Fehler, eine
Fehlkalkulation, eine Fehleinschätzung und die Atomwaffen werden eingesetzt.
Und wenn sie einmal abgefeuert sind, dann gibt es keinen begrenzten Atomschlag
mehr. Es wird zu einem totalen nuklearen Konflikt kommen, und wir werden alle
sterben. Das ist die Realität der Situation, mit der wir, das amerikanische
Volk und alle Menschen auf der Welt, heute konfrontiert sind.
Kurz gesagt, wenn Sie die nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle nicht
zum wichtigsten Ziel machen, dann liegen Sie falsch. Alles andere ist auch
wichtig, das bestreite ich nicht. Aber nichts anderes ist noch wichtig, wenn
es die Welt nicht gibt. Das einzige, was die Welt morgen zerstören kann, sind
Atomwaffen in den Händen der Vereinigten Staaten.
Wir sollten uns also alle für die Stärkung des amerikanischen Volkes
einsetzen, damit wir diesem Konzept der Demokratie wieder eine Stimme geben
und unsere gewählten Vertreter in die Schranken weisen können, um so diesem
nicht gewählten Tiefen Staat oder der „Inter-Agency“ ein Ende zu setzen. Ich
danke Ihnen vielmals.
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