Das Weltbild der NATO stößt mit der Realität zusammen
Von Scott Ritter
Scott Ritter war UN-Waffeninspekteur im Irak. Für die Konferenz
des Schiller-Instituts am 9. September übermittelte er den folgenden
Videobeitrag. (Übersetzung aus dem Englischen, Zwischenüberschriften wurden
von der Redaktion hinzugefügt.)
Ich grüße Sie aus Bethlehem, New York. Ich möchte Helga Zepp-LaRouche und
dem Schiller-Institut dafür danken, daß sie mir die Gelegenheit geben, zu
Ihnen zu sprechen. Das Thema, über das ich reden werde, ist der gegenwärtige
Kurs der NATO. Welche Auswirkungen hat die derzeitige Haltung der NATO auf die
geopolitischen Realitäten der Welt?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst darüber nachdenken,
warum die NATO überhaupt existiert. Die NATO wurde von den westeuropäischen
Mächten, sozusagen als transatlantische Gemeinschaft, nach dem Zweiten
Weltkrieg gegründet, um sich gegen die Bedrohung durch die Sowjetunion zu
schützen, insbesondere gegen ihre dauerhafte Präsenz in Osteuropa. Man war
besorgt, daß sich in Westeuropa in den durch jahrelange Konflikte geschwächten
Volkswirtschaften und sozialen und politischen Strukturen der Kommunismus
ausbreiten könnte.
Die NATO wurde daher nicht nur als Bollwerk gegen die Ausdehnung der
sowjetischen Macht gesehen, sondern auch als Instrument zur Stärkung der
demokratischen Institutionen in Europa. Lord Hastings, der erste
Generalsekretär der NATO, sagte einmal im Scherz, der Zweck der NATO sei es,
„die Amerikaner drinnen, die Deutschen drunten und die Russen draußen zu
halten“. Gehen wir einmal davon aus, daß er genau das wiedergegeben hat, was
die NATO ursprünglich bewirken sollte.
Aber Jahrzehnte später, mit dem Fall der Berliner Mauer, der
Wiedervereinigung Deutschlands und schließlich dem Zusammenbruch der
Sowjetunion, verlor die NATO ihre Existenzberechtigung. Die Russen waren raus,
die Deutschen waren nicht mehr am Boden, sondern richteten sich auf. Und
ehrlich gesagt, gab es für die Vereinigten Staaten keinen Grund mehr, in der
NATO zu bleiben. Die NATO hatte ihre Schuldigkeit getan, sie hatte dem
sowjetischen Druck standgehalten und die sowjetische Expansion verhindert. Sie
hatte ihre Aufgabe gut erfüllt; es war Zeit für die NATO, abzutreten.
Aber die NATO weigerte sich abzutreten, denn sie war nicht nur ein
Militärbündnis, sondern auch eine politische Institution. Eine politische
Institution, die eng mit der Entstehung und Erweiterung der Europäischen Union
und mit der amerikanischen Hegemonie verbunden ist. Die NATO ist eine
Erweiterung der amerikanischen nationalen Sicherheits- und Außenpolitik. Sie
ist ein Instrument, das von den Amerikanern eingesetzt wird, und die
Amerikaner hatten nicht vor, dieses Instrument einfach aufzugeben. Nein, sie
versuchten, aus dem Verteidigungsbündnis NATO ein Element der amerikanischen
„Trickkiste“ zu machen, wenn es darum ging, Macht nicht nur regional, sondern
global zu projizieren.
Wir haben erlebt, wie die NATO 1999 in einen offensiven Angriffskrieg gegen
Serbien verwickelt wurde; wir haben erlebt, wie die NATO 2011 in einen
offensiven Angriffskrieg gegen Libyen verwickelt wurde, um einen Regimewechsel
herbeizuführen. Wir haben erlebt, wie sich die NATO nach den Terroranschlägen
vom September 2001 in Amerika an Bemühungen um „Nationenaufbau“ in Afghanistan
beteiligt hat; dazu NATO-Ausbildungsmissionen im Irak und
NATO-Ausbildungsmissionen in Syrien. Wir sehen, daß die NATO versucht, in den
Persischen Golf zu expandieren, und in jüngster Zeit sehen wir, wie die NATO –
ein transatlantisches Bündnis – versucht, ihre Präsenz in den Pazifik
auszuweiten. Das alles geschieht nicht, weil die NATO oder Europa es brauchen,
sondern weil die Vereinigten Staaten es so wollen.
Auch hier spiegelt sich die Realität wider, daß die NATO eine Erweiterung
der amerikanischen Macht ist, nicht mehr und nicht weniger. Sie vertritt nicht
die legitimen nationalen Sicherheitsinteressen Europas. Das könnte sie auch
gar nicht, denn sonst wäre sie nicht in den laufenden Konflikt gegen Rußland
in der Ukraine verwickelt.
Europas Wirtschaft wird demontiert
Werfen wir einen Blick auf den wirtschaftlichen Wohlstand Europas, wie er
sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat. Europa erholte sich vom
Zweiten Weltkrieg, es baute seine Wirtschaft wieder auf. Die Volkswirtschaften
ermöglichten es, effektive Gesundheitsversorgung, Sozialprogramme,
Rentenleistungen und vieles mehr zu finanzieren.
Und warum? Ehrlich gesagt nur aus einem einzigen Grund – billige russische
Energie. Dank der Verfügbarkeit von russischem Gas und russischem Öl in großen
Mengen zu erschwinglichen Preisen war Europa in der Lage, im Laufe der
Jahrzehnte Hunderte von Milliarden, wenn nicht gar Billionen an nationalen
Ressourcen zu sammeln, die an anderer Stelle investiert werden konnten. Hätten
sie statt dessen für die von ihnen verbrauchte Energie den Marktwert bezahlen
müssen, so hätten das Wachstum der europäischen Industrie und die Anhäufung
von Reichtum, den die europäischen Staaten zum Nutzen ihrer Bevölkerung
verteilen konnten, nicht stattgefunden.
Doch für die Vereinigten Staaten war das inakzeptabel. Wenn die Vereinigten
Staaten die Interessen Europas im Auge hätten, hätten sie einen Weg gefunden,
um Europa die Möglichkeit zu geben, die Verbindung mit Rußland im
Energiebereich aufrechtzuerhalten. Aber genau das haben wir nicht getan. Statt
dessen haben wir versucht, Europa von der russischen Energie abzuschneiden,
und damit haben wir die europäische Wirtschaft zerstört.
Heute sehen wir die deutsche Industrie im freien Fall. Die
Deindustrialisierung findet statt, während wir hier sprechen. Das gleiche gilt
für Frankreich, Großbritannien und andere europäische Länder. Indem diese
NATO-Staaten sich an die amerikanische Politik ketten, zerstören sie die
eigenen Nationalstaaten, aus denen sich die NATO zusammensetzt.
Der Mythos der Einigkeit der NATO
Ein weiterer Mythos ist, daß die gesamte NATO „mit einer Stimme spricht“.
In vielerlei Hinsicht tut sie das auch, denn die einzige Stimme, die die NATO
jemals zum Ausdruck bringen kann, ist die amerikanische. Sie kann einen
norwegischen Akzent haben, so wie derzeit bei ihrem Generalsekretär Jens
Stoltenberg. Sie kann auch einen belgischen oder deutschen Akzent haben, aber
es ist eine amerikanische Stimme, darüber sollte sich niemand Illusionen
machen.
Die amerikanische Stimme muß den Eindruck erwecken, daß die NATO eine
erfolgreiche Organisation ist. Aber wenn Sie sich die NATO ansehen, werden Sie
verstehen, daß die amerikanische Rhetorik – ob mit norwegischem Akzent oder
nicht –, wonach die NATO noch nie so geeint und so stark war wie heute, leere
Worte sind.
Wie kann eine Organisation behaupten, geeint zu sein, wenn der
amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld an einem der kritischsten
Punkte ihrer modernen Ausprägung – nämlich 2002, am Vorabend der US-geführten
Invasion im Irak – vom „alten“ und „neuen“ Europa spricht? Schon damals haben
wir einen Bruch, einen Trennungspunkt in Europa erzeugt, wonach es diejenigen
gibt, die „für“ uns sind, in diesem Fall das Neue Europa – Polen, die
baltischen Staaten, die anderen osteuropäischen Nationen, die früher Teil des
Sowjetblocks waren – und diejenigen, die „gegen“ uns sind. Das sind
Frankreich, Deutschland, Italien, die Nationen, die damals nicht mit unserer
Politik im Irak einverstanden waren. Wir haben diese Kluft geschaffen, und
diese Kluft besteht auch heute noch.
Aber es gibt noch weitere Gräben. Wie kann man von der Einheit der NATO
sprechen, wenn ein Land wie die Türkei, ein NATO-Mitglied, sich der
NATO-Erweiterung durch Schweden und Finnland widersetzt, weil deren Politik
mit den nationalen Sicherheitszielen der Türkei unvereinbar ist, insbesondere
im Hinblick auf die Unterstützung kurdischer Separatistengruppen? Die NATO
soll ein gemeinsames Bündnis sein, aber ein Land – die Türkei – hat erklärt,
daß es eine existentielle Bedrohung für ihr Überleben gibt, die von den
NATO-Beitrittskandidaten unterstützt wird. Sie lehnt dies also ab. Ist das
Einigkeit?
Auch wenn die Türkei in der Frage Finnlands nachgegeben hat, muß sie noch
Schweden zustimmen. Und selbst wenn sie das tut, dann nur unter Zwang oder
durch Bestechung. Einigen Presseberichten zufolge wurde der Türkei von den
Vereinigten Staaten der Zugang zu F-16-Kampfflugzeugen angeboten, wenn sie
Schweden den Beitritt zur NATO gestatten.
Doch dann stellte sich heraus, daß der US-Kongreß dagegen ist. Der Kongreß
ist der Ansicht, daß die Türkei, wenn sie F-16-Kampfflugzeuge erhält, diese in
einem Krieg in der Ägäis gegen Griechenland einsetzen könnte. Griechenland ist
ein NATO-Mitglied! Die Türkei ist ein NATO-Mitglied! Wie kann man von Einheit
sprechen, wenn man befürchtet, daß ein NATO-Mitglied, wenn man ihm Waffen
liefert, diese in einem bewaffneten Konflikt gegen ein anderes Mitglied
einsetzen könnte? Die NATO ist nicht geeint.
Es gibt Gerüchte über eine NATO-Erweiterung. In der NATO war die Rede
davon, in den Pazifik vorzustoßen. Aber das wurde von Frankreich abgelehnt,
dessen Regierungschef Emmanuel Macron sagte, die NATO sei eine Organisation
des Nordatlantikvertrags und es gebe keinen Grund, ein Verbindungsbüro im
Pazifik zu eröffnen.
Auch hier geht es um interne Streitigkeiten in diesem sogenannten „einigen“
Bündnis. Es heißt, aufgrund des Konflikts in der Ukraine sei die NATO stärker
als je zuvor; im Zuge des Gipfels von Vilnius wurde davon gesprochen, die
militärischen Kapazitäten der NATO zu erweitern und eine 300.000 Mann starke
Schnelle Eingreiftruppe zu schaffen. Aber diese Truppe existiert nur in den
Köpfen von Jens Stoltenberg und seinen amerikanischen Herren. Sie existiert
nur auf dem Papier. Und es stellt sich die Frage, ob die scheiternden
Volkswirtschaften der europäischen NATO-Mitglieder die Kosten für den Aufbau
dieser Streitkräfte, die wir laut Jens Stoltenberg wegen der russischen
Bedrohung brauchen, überhaupt tragen und aufrechterhalten können.
Das führt uns zu dem Konflikt in der Ukraine. Die NATO hat der Ukraine ihre
Unterstützung zugesagt. Nicht direkt, es gibt keine Truppen vor Ort, aber die
NATO hat ihre Waffenarsenale entblößt, um die Ukraine zu unterstützen; sie
leert ihre Schatzkammern, um die Ukraine zu unterstützen. Die NATO hat gesagt,
ein russischer Sieg in der Ukraine wäre ein Sieg über die NATO und deshalb
dürfe die NATO niemals zulassen, daß Rußland gewinnt. Aber Rußland gewinnt und
die NATO kann nichts dagegen tun.
Tatsache ist, daß die NATO ein gescheitertes und scheiterndes Bündnis ist.
Sie hat eine begrenzte Lebensdauer. Die Vorstellung, daß die NATO weitere 75
Jahre überleben wird, ist lächerlich. Die NATO kann von Glück sagen, wenn sie
noch fünf, höchstens zehn Jahre überlebt. Die NATO ist eine Organisation, die
ihre Existenzberechtigung verloren hat.
Außerdem wird den europäischen Mitgliedern allmählich klar, daß, wenn sie
in der NATO bleiben, ihre nationalen Sicherheitsinteressen – ob legitim oder
nicht – immer den nationalen Sicherheitsinteressen der USA untergeordnet sein
werden, die nicht das Wohl Europas im Sinn haben. Ich möchte die Europäer noch
einmal daran erinnern, daß das, was mit ihrer Wirtschaft passiert ist, nicht
an Rußland liegt, sondern an den Vereinigten Staaten. Die NATO hat Mitglieder
auf der einen Seite des Atlantiks und auf der anderen Seite. Die Mitglieder
auf der einen Seite des Atlantiks – die Vereinigten Staaten und Kanada –
scheren sich nicht um Europa. Europa ist für sie nicht dazu da, um als enger
Verbündeter behandelt zu werden; es ist dazu da, um zum eigenen Vorteil
ausgenutzt zu werden, insbesondere zum Vorteil der Vereinigten Staaten. Es ist
an der Zeit, daß die europäischen Mitglieder der NATO das erkennen und sich
für einen europäischen Sicherheitsrahmen mit Rußland einsetzen, der die
legitimen nationalen Sicherheitsinteressen Europas und Rußlands respektiert,
um sicherzustellen, daß die beiden Seiten nie wieder in einen Konflikt
verwickelt werden, sei es direkt oder durch Stellvertreter. Beide Seiten
werden davon profitieren.
Natürlich werden die Vereinigten Staaten dies ablehnen, so daß der wahre
Kampf für die NATO in Zukunft der interne politische Kampf zwischen den
europäischen Ländern und den Vereinigten Staaten sein wird, während sie mit
konkurrierenden Visionen darüber ringen, wie Europa an einer sich verändernden
globalen Dynamik teilnehmen sollte. Das Zeitalter des amerikanischen Hegemons
ist vorbei. Der Aufstieg der multipolaren Realität hat uns eingeholt. Es ist
an der Zeit, daß Europa sich entscheidet, ob es Teil eines Gewinnerteams sein
will, und das ist natürlich die Multipolarität, oder ob es mit der Titanic in
Form der amerikanischen Singularität untergehen will?
Ich danke Ihnen, daß Sie mir die Gelegenheit zu diesem Beitrag gegeben
haben, und ich wünsche Ihnen, Helga, dem Schiller-Institut und allen
Teilnehmern dieser Konferenz alles Gute.
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