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Friedrich Schiller



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Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Wie überwand Friedrich Schiller die Sklaverei des Geistes?

Von Christa Kaiser

„Das Stärkere herrscht über das Schwächere“, so heißt die hierarchische Formel, die von der Oligarchie seit Jahrtausenden geprägt, erneuert und bis heute von ihren Wasserträgern, den Politikern, Journalisten, Wissenschaftlern und Talkshow-Mastern, verbreitet wird. Diese Organe der Täuschung hämmern unablässig auf uns ein, bis wir gleich einer eroberten Festung das Lied der Eroberten singen: „Wir können nichts tun.“ Es ist eine Selbsttäuschung, eine Versklavung des Geistes, die uns selbst zur Falle wird. „Natürlich halten wir Kriege, Atomwaffen, Hunger, Armut, Drogenanbau für ein Übel, aber wir können nichts tun.“ Kolonialistisch, selbstherrlich kann der Außenbeauftragte der EU, Josep Borrell, verkünden: „Wir, die EU, sind der Garten, und draußen herrscht der Dschungel.“ Wo bleibt der Aufschrei?

© Deutsche Fotothek/cc

Loyalität sichert ein ruhiges Leben, und Ideologie beruhigt das Gewissen: Ausstellung eines von der FDJ-Betriebsgruppe hergestellten Pflugmodells zum 72. Geburtstag Josef Stalins (1951).

Die berühmten Mitläufer

Unser Duckmäusertum oder Biedermeier-Verhalten gab es auch in den kommunistischen Staaten, wo erst in der Periode des wirtschaftlichen Verfalls der Sowjetunion eine große Anzahl von Menschen sich der Machthierarchie widersetzte, was schließlich zum Fall der Mauer führte. Der ehemalige tschechische Präsident Vaclav Havel beschreibt sehr treffend das Angepaßtsein ohne Denken, dafür mit Ideologie. Er benutzt das Bild eines Gemüsehändlers, der in seinem Schaufenster zwischen Zwiebeln und Möhren das Spruchband „Proletarier aller Länder vereinigt Euch“ hängen hat.

Warum macht er das? Ist er begeistert von der Idee der Vereinigung aller Proletarier, oder drückt er nicht vielmehr seine Loyalität aus, daß er dazugehört, weil es ihm ein relativ ruhiges Leben im Einklang mit der Gesellschaft sichert? Die Ideologie erlaubt ihm, sein Gewissen zu betrügen und vor der Welt und sich selbst seine ruhmlose Lage zu maskieren. Sie ist ein Schleier, mit dem der Mensch seinen Existenzverfall, seine Verflachung und seine Anpassung an die gegebene Lage bemäntelt. Aber sie ist auch ein Alibi, das seine Furcht, seine Stellung zu verlieren, kaschiert. So wird der Gemüsehändler Opfer und Stütze des Systems.

Das heutige System der „regelbasierten Ordnung“ oder des Gartens, der vor dem Dschungel draußen zu schützen ist, wird nicht nur von außen aufgezwungen, sondern es durchdringt die gesamte Gesellschaft.

Das Menschenbild Friedrich Schillers

Wir können uns heute den Feudalismus des 18. Jahrhunderts mit seiner despotischen Herrschaft, die sich bis in die Familien hinein erstreckte, kaum noch vorstellen. Wissen wir noch, daß es keine freie Schul- und Berufswahl, keine freie Meinungsäußerung gab? Der Untertan besaß weder Freiheit noch Rechte. Die Mehrheit der Bevölkerung war arm und ungebildet, froh ein Dach über dem Kopf und irgendein Auskommen zu haben. Der Absolutismus war schlicht ein Gefängnis ohne Ausgang.

Nur vor diesem Hintergrund können wir Schillers Lebensleistung ermessen. Wie konnte jemand in dieser Lage von der Idee der Freiheit überzeugt sein? Was war abwegiger, als in diesem unterdrückten Volk einen Funken von Freiheitswillen zu vermuten? Die Realität bewies Tag ein Tag aus: „Wir können nichts tun.“

Auch Schiller war so gut wie ein Leibeigener des Herzogs Karl Eugen von Württemberg auf dessen neugegründeter „Pflanzschule“. Den Eltern wurde der Entzug des Sohns befohlen. Es folgte eine militärische Kasernierung mit Verbot, die Eltern zu besuchen, und dem Verbot einer freien Berufswahl. Die Festungshaft des Dichters Christian Schubart, der nichts verbrochen, sondern nur die Willkür, Mätressenwirtschaft und Verschwendungssucht des Herzogs öffentlich gemacht hatte, diente allen als warnendes Beispiel.

Schiller entzog sich dem diktierten Beruf des Mediziners durch Flucht. Er wurde steckbrieflich gesucht und durfte die Landesgrenzen nach Württemberg nicht mehr überschreiten. Seine Hoffnungen, in Mannheim nach der erfolgreichen Aufführung der Räuber 1782 als Dramaturg und Journalist arbeiten zu können, wurden enttäuscht. Der ihm wohlgesonnene Intendant fürchtete die lange Hand der Oligarchie und entzog die Anstellung. Mittellos und ohne Zukunftsperspektive mußte er sich verstecken.

Was befähigte ihn, politischem Zwang und wirtschaftlicher Not zu widerstehen? Von welcher Realität schöpfte er seine Überzeugung? In den Ästhetischen Briefen an seinen Gönner, den Prinzen von Augustenburg, schreibt er, jeder Mensch trage die Anlage zur Freiheit in sich, sie müsse nur geweckt werden.

Aber das Scheitern der Französischen Revolution stellte seine Überzeugung auf eine harte Probe. Die ehemals unterdrückten Franzosen wurden selbst zu Unterdrückern. Die Willkür des Königs wurde sogar noch übertrumpft vom „Wohlfahrtsausschuß“, einem Blutgericht, das etwa 20.000 Menschen opferte, die als Feinde der Revolution galten. Schiller wandte sich angeekelt von den „Schinderknechten“ ab und plante sogar ein Memoire für den eingekerkerten König; Freiheit dürfe nie die Bindung an Recht und Gesetz aufgeben.

Die Exzesse der Revolution machten ihn verlegen. Hatte er sich geirrt? War die Anlage zur Freiheit im Menschen doch ein Hirngespinst? War der Mensch doch nur ein besseres Tier? Wie konnten aus Geschändeten Schänder werden? Er nennt sie „verkrüppelte Pflanzen“, die ihre Emotionen nicht kontrollieren konnten.

Hatten nicht die Aufklärer dem Volk Vernunft, Gleichheit und Brüderlichkeit gepredigt und waren gescheitert? Sollten also Wahrheit und Pflicht nicht genügen, um den Menschen vernünftig zu machen? Was stand der Aufnahme der Wahrheit im Wege?

Schiller kam zu der denkwürdigen These: „Die Wahrheit ist nichts, was so wie die Wirklichkeit oder das sinnliche Dasein von außen empfangen werden kann, sie ist etwas was die Denkkraft selbsttätig und in ihrer Freiheit hervorbringt. Und diese Selbsttätigkeit, diese Freiheit ist es, was wir bei dem sinnlichen Menschen vermissen.“1 Deshalb behauptet Schiller, es müsse etwas in den Gemütern der Menschen vorhanden sein, was der Aufnahme der Wahrheit im Wege stehe.2

Die griechische Klassik als Vorbild

Die Dichter des klassischen Griechenlands stellten sich die Aufgabe, das Gemüt, also die Emotionen der Menschen zu verbessern. Könnte eine rohe Seele bearbeitet werden, wie ein roher Stein durch einen Bildhauer? Denn schon die griechische Demokratie, nicht erst die Französische Revolution, war ständig durch Tyrannen und irrationale Kulte in Gefahr, die sich der Verführung des Bauchgefühls des Volks bemächtigten.

Deshalb dienten die Aufführungen der Tragödien zur Erziehung des Volkes und zum Schutz der Demokratie. Sie sind keine leichte Schonkost. Sie handeln von Leben und Tod, aber nur so lasse sich der größte Konflikt zur Kleinheit und Primitivität des Alltags erreichen. Sie wollen die Sinnlichkeit überwinden, um zur Frage „Was tue ich zum Ewigen?“ vorzudringen. Der Tragödiendichter Sophokles läßt Antigone vor ihrem Tod sagen: „ Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da.“

Die griechischen Klassiker verstanden es, ein rauhes Kriegervolk in ihrem Charakter zu bessern und emotionale Qualitäten wie Aussöhnung, Vergebung und Gerechtigkeit zu üben, die sie im Alltag vermißten. Diese Fähigkeit des Dramas, der wilden Emotionen Herr zu werden, die den Menschen versklaven, die ihm seine Freiheit, seine Besonnenheit rauben, wollte Schiller von ihnen lernen. Er studierte ihre Kompositionen, die Bedeutung der Fabel, die Struktur, die Musikalität der Verse durch Klang und Rhythmus. Er mißtraute den Übersetzungen und studierte das Original. Er witzelt recht selbstbewußt in einem Brief an Goethe, ob er mit seiner Braut von Messina im Wettbewerb der griechischen Festspiele wohl einen Preis davongetragen hätte.

Er lernte daraus: „Der letzte Zweck der Kunst ….ist die Darstellung des Übersinnlichen“3, des „freien Prinzips“ in uns.“ Nur im Angriff auf die Sinnlichkeit, nur im Widerstand gegen die Gewalt der Gefühle könne sich das „freie Prinzip“ in uns kenntlich machen.

Gemeinfrei

Szene aus Die Braut von Messina von Friedrich Schiller, aufgeführt auf der Freilichtbühne im Hof von Hohentübingen (Ansichtskarte, ca. 1906-1910).

So arbeitet Schillers Tragödie Die Braut von Messina mit sparsamsten Mitteln: fünf Personen und dem Chor, den griechischen Vorbildern nachempfunden. Das Geschehen handelt von einem Eroberungsgeschlecht, dessen Ahnherr bereits im Zorn grauenvolle Flüche über das Ehebett ausgestoßen hatte. Es beginnt mit der Machtübergabe des strengen Vaters an die sich befeindenden Brüder. Isabella, der Mutter und Herrscherin, gelingt es nur scheinbar, den Zwist zwischen den Brüdern zu schlichten. Ihre Feindschaft bricht wieder auf, als beide von Liebe zu derselben Unbekannten ergriffen werden, nicht wissend, daß es ihre Schwester ist. Der ältere Bruder, Don Caesar, entbrennt in Eifersucht und Rache und tötet seinen ihn angeblich betrügenden Bruder.

Alle Personen unterliegen der Selbsttäuschung: Isabella, die Herrscherin, feiert den Tag als Fundament ihres Geschlechts, an dem aber ihr Geschlecht vernichtet werden soll. Sie sieht den erschlagenen Sohn, den sie von Räubern getötet glaubt, und verflucht mit dem Täter den eignen Sohn. Sie lästert die Seher, die die Menschen mit falschem Wissen über die Zukunft betrügen, während sich die Wahrheit des Orakels an ihr erfüllt. Isabella, die Mutter, tritt uns als schuldlos vom Schicksal geschlagener Mensch gegenüber, der ein höchstes Maß an Leid erfährt. Standhaft erhaben, fast trotzig, fordert sie die Götter heraus, sie „noch härter zu treffen… Wer nichts mehr zu zittern hat, der fürchtet sie nicht mehr.“

Aber der Schwerpunkt der Tragödie liegt auf dem Sohn, dem Mörder. Ungeliebt und um alle Wünsche betrogen, will er seine Tat mit seinem sühnenden Selbstmord ahnden. Die verzweifelte Mutter kann ihn nicht abhalten. Da sieht er die Tränen der geliebten Schwester. Sie erweichen ihn, ein unerwartetes Zeichen der Liebe und Trauer. Für einen Moment läßt er von der Tat ab und scheint ins Leben zurückgekehrt. Da öffnen sich die Kirchentüren und er sieht den Katafalk des ermordeten Bruders im Kerzenlicht. Er wird von einer Macht ergriffen, die ihn furchtbar treibt – und tötet sich. Der schuldige Täter wird selbst zum Werkzeug der Nemesis, der Rachegöttin.

Schiller urteilt: „Moralisch ist der Tat nicht Beifall zu geben, ... aber ästhetisch gefällt mir diese Handlung, weil es von einem Vermögen des Willens zeugt, selbst dem mächtigsten aller Triebe, der Selbsterhaltung zu widerstehen.“

Schiller problematisiert das Doppelgesicht der Tat. Gibt so etwas überhaupt? Die Tragödie macht das Nichtsinnliche sichtbar. Die erste Tat Don Caesars ist ein Verbrechen, ein Brudermord im Affekt. Sie ist blind aus Leidenschaft und Haß erzeugt. Aber nachdem sie geschehen ist, steht sie ihm fremd gegenüber und wendet sich als rächende Nemesis gegen den Täter.

    Wehe, wehe dem Mörder, wehe,
    Der sich gesät die tödliche Saat!
    Ein anderes Antlitz, eh sie geschehen,
    Ein anderes zeigt die vollbrachte Tat.
    Mutvoll blickt sie und kühn dir entgegen,
    Wenn der Rache Gefühle den Busen bewegen;
    Aber ist sie geschehn und begangen,
    Blickt sie dich an mit erbleichenden Wangen.

Schiller sprengt in wenigen Zeilen die Sinnlichkeit. Der Zuschauer findet sich im Reich der Ideen wieder. Der freie Wille ist das Thema, nicht die Tat. Der Chor, der beim Anblick des sterbenden Caesars nicht weiß, ob er ihn bejammern oder preisen soll, attackiert weiterhin die Sinnlichkeit des Zuschauers: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht, der Übel größtes ist die Schuld.“

Kartenspieler, Gemälde von Pieter de Hooch (1629-1684)

Der Dichter bedient sich der Worte der Alltagssprache, aber mit einer anderen Absicht.

Das Doppelgesicht der Sprache

Jeder Koch weiß und es gilt auch für den Dichter: Was man nicht in den Topf hinein tut, kommt auch nicht heraus. Auch muß er die Zutaten auswählen, zubereiten und würzen.

Ähnlich verfährt der Dichter. Er wird zwar dieselben Worte der Alltagssprache verwenden, aber mit einer anderen Intention. Die normale Sprache zielt auf das Praktische. Es gilt Brot einzukaufen, die Kinder zur Schule zu bringen oder Rechnungen zu begleichen. Mit ihr bewältigen wir den Alltag, äußern unsere Wünsche. Sie wendet sich an die Sinne.

Aber Dichter wollen die Menschen veranlassen, mit den Augen der Seele zu sehen. Die Dichtung will die verborgenen Triebkräfte der Seele offenlegen. Obwohl der Dichter Worte des Alltags benutzt, gebraucht er sie in einer anderen Absicht. Dadurch ändert die Sprache ihren Charakter. Jetzt kann sie Ideen vermitteln. Die Umgangssprache hat nie den Geist ausgedrückt, nie das Vermögen zur schöpferischen Potenz dargestellt. (Sie begrenzt uns auf die Formel „Man kann ja doch nichts tun“.) Nur mittels der klassisch künstlerischen Komposition des Dichters kann eine höhere Ebene geschaffen werden, auf der Ideen erkenntlich gemacht werden können.

Deshalb verlangt Schiller vom Dichter, „seine Individualiät so sehr als möglich zu veredeln, zu einer herrlichsten Menschheit hinaufzuläutern, ehe er es unternehmen darf, die vortrefflichsten zu rühren.“ Es sei nicht genug, Empfindung mit erhöhten Augen zu schildern; man müsse auch erhöht empfinden.

Welch treffliche Erkenntnis! Wollen wir unsere Jugend vom Hick-Hack der Internetsprache loseisen, so bedarf es einer poetischen Sprache, die nach einer kurzen Eingewöhnung den Leser fasziniert und ergötzt. Die gewöhnlichen Silben werden Musik in der Hand des Dichters, um unser Herz zu treffen, und eröffnen uns eine andere Welt. Der Weg des Ohrs sei der gangbarste und nächste zu unserem Herzen, erinnert Schiller, aber er müsse der Komposition unterworfen werden. „Wir verlangen, daß jede poetische Komposition neben dem, was ihr Inhalt ausdrückt, zugleich durch ihre Form Nachahmung und Ausdruck von Empfindung sei und als Musik auf uns wirke.“

    Aber wehe dem Mörder, wehe,
    Hinab, hinab in der Erde Ritzen
    Rinnet, rinnet, rinnet dein Blut.
    Drunten aber im Tiefen sitzen
    Lichtlos, ohne Gesang und Sprache
    Der Themis Töchter, die nie vergessen,
    Die Untrüglichen, die mit Gerechtigkeit messen,
    Fangen es auf in schwarzen Gefäßen,
    Rühren und mengen die schreckliche Rache.

So spricht der Chor aus der Braut von Messina nach der Mordtat.

Der Zuschauer kann sich dem Bann nicht entziehen, er hört in seiner Vorstellungskraft die Rachegeister, die Erynnien, die nie vergessen und im geheimen wirken – eine Realität die existiert, aber im Alltag nicht wahrgenommen wird.

Das Doppelgesicht des Wortes

Nicht bloß die Sprache, selbst das Wort handhabt der Dichter ganz anders als ein Sprachlehrer oder Kaufmann, da es auf die Bahn des menschlichen Geistes führen soll. Er wird versuchen, unsere eingeübten, gedankenlosen Gewohnheiten aufzulösen und das „Wort aus den Fesseln der Sprache zu befreien“.

Kann ein Denkprozeß überhaupt fixiert werden? Schiller schafft es, einen Gedanken, der nicht tot, sondern dynamisch ist, mittels des Prinzips der Metapher festzuhalten; es gelingt ihm, unseren Geist spielerisch in eine Tätigkeit zu ziehen, ohne daß die Tätigkeit zur Arbeit wird, sondern Freude bereitet. Er beschreibt die Metapher so harmlos unscheinbar, daß wir sie fast überlesen:

    „Wenn der Schulverstand, immer vor Irrtum bange, seine Worte wie seine Begriffe an das Kreuz der Grammatik und Logik schlägt, hart und steif … viele Worte macht, um ja nicht zu viel zu sagen, und dem Gedanken, damit er ja den Unvorsichtigen nicht schneide, lieber die Kraft und Schärfe nimmt, so gibt das Genie dem seinigen mit einem einzigen glücklichen Pinselstrich einen ewig bestimmten, festen und dennoch ganz freien Umriß.“

Ist der Umriß nun frei oder fest? Aber ist der Umriß noch poetisch?

Der erste Vers der Braut von Messina setzt mit einer Metapher ein: „Der Not gehorchend, nicht dem eignen Trieb“ (beginnt Isabella).

Dieser Vers besitzt erstens eine Einheit: Notnicht.

Und zweitens enthält er einen Gegensatz.

Außerdem besitzt der Vers noch Symmetrie; er besitzt in beiden Teilen die gleiche Anzahl von Silben.

Wir finden in einem Gedanken ein doppeltes Motiv. Dieser Umriß vereint Einheit und Gegensatz, eine Qualität, die jeden Computer zum Wahnsinn treiben würde, weil er nur ja oder nein kennt. Aber für den menschlichen Geist ist es eine Herausforderung zur Tätigkeit.

Ein weiteres Beispiel findet sich in Wallensteins Piccolomini: „Spät kommt ihr, doch ihr kommt.“

Der Vers besitzt Einheit und Gegensatz – Tadel und Lob zugleich. Diese erzeugte Spannung, einem Musikstück vergleichbar, schafft eine produktive Unklarheit, die Voraussetzung für schöpferisches Denken ist.

Quelle: Marisa Ranieri Panetta (ed.): Pompeji. Geschichte,
Die Bakchen zerreißen Pentheus, römisches Mosaik in Pompeji. Die Oligarchie verlockt die Menschen mit Kulten der Sinnlichkeit und Lust, um sie vom schöpferischen Denken abzulenken.

Die Schöpferkraft des Menschen

Wie konnten wir die Spur der schöpferischen Tätigkeit verlieren? Vergessen wir nicht die Oligarchie, die den schöpferischen Menschen fürchtet und ihn als Ersatz dafür das Ausleben der Triebe lehrt. Sie lockt mit Kulten der Sinnlichkeit und Lust.

Vor etwa 2600 Jahren war der Naturkult der Bakchen staatsbedrohend. Scharenweise zogen junge Frauen die Familie verlassend in die Wälder, banden sich Tierfelle um den Leib, tanzten sich in Ekstase, den Veitstänzern vergleichbar, verspeisten rohes Tierfleisch und ermordeten sogar den Staatsführer. Sie waren ins Irrationale abgestürzt.4

Auch beherrschten später im antiken Rom irrationale Kulte die Gesellschaft. Diese heidnischen Umtriebe wußte die Oligarchie auszuschlachten. Bis heute weiß sie, gleich einem Taschenspieler, mit vielerlei Plunder in den Rocktaschen das Volk zu umgarnen und verwirren.

Auch die Sprache kann mißbraucht werden. Die braune Zeit des Nationalsozialismus beweist, wie Sprache zu „Schlagstock“ und Indoktrination erniedrigt wurde, um die Massen zu manipulieren. Sie hatte die leisen Töne und jegliche Schönheit verloren. Sie schrie aus den Transistoren und Lautsprechern der Massenveranstaltungen. Das Doppelgesicht der Sprache suchte man vergebens, es wurde verboten und niedergestampft. Schillers Wilhelm Tell geriet bereits 1919 in Berlin mit Albert Bassermann und Fritz Kortner in den Hauptrollen zum Skandal. Es drohte eine Saalschlacht durch den sich bereits ausbreitenden Rechtsbrand. Die Vorstellung mußte beinahe abgebrochen werden. Das Doppelgesicht der Sprache hatte die braune Meute erschreckt.

Leider ist dies nicht nur Geschichte. Seit dem 24.2.2022, der sogenannten „Zeitenwende“, trägt die offiziöse Sprache NATO-Farben. Gefeierte russische Künstler wie die Opernsängerin Anna Netrebko und der Dirigent Waleri Gergijew werden wie Parias verjagt, als ob Kunst etwas mit Nation, Hautfarbe oder Blut zu tun hätte. Die Gleichschaltung der Medien brauchte dieses Mal keinen Staatsstreich. Für die veröffentlichte Meinung gibt es das Doppelgesicht der Tat nicht, obwohl einige wenige Stimmen wie der ehemalige Bundeswehr- und NATO-Spitzenoffizier Gen. a.D. Kujat und Papst Franziskus auf die Mitverantwortung der NATO für den Krieg hinweisen. Auch das Doppelgesicht der Sprache ist verschwunden. Über Nacht wurde dem Russisch sprechenden Volk die Zugehörigkeit zur menschlichen Zivilisation entzogen.

Schon Sophokles (496-406 v. Chr.) warnte seine Zeitgenossen:

    Vieles Gewaltige lebt, doch nichts
    Ist gewaltiger als der Mensch! …
    In kluger Erfindungen Kunst
    Weit über Verhoffen gewandt,
    Neigt bald er zum Bösen, zum Guten.

Die Oligarchie legt es darauf an, das „freie Prinzip“ in uns zu zerstören und uns zu Schinderknechten abzustumpfen. Nur wenn wir der Entmenschlichung widerstehen, haben wir eine Chance, die Zerstörung unserer Gesellschaft aufzuhalten. „Denn die Wahrheit ist nichts, was so wie die Wirklichkeit oder das sinnliche Dasein von außen empfangen werden kann.“

Wenn Sie selbst beginnen, z.B. Schillers oder Sophokles‘ Bühnenwerke zu studieren, können Sie wieder Freude an Mut und Zivilcourage bekommen, um der Anpassung und der Selbsttäuschung zu entgehen, die da heißt: „Wir können nichts tun.“


Fußnoten

1. Friedrich Schiller, Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, Nr. 23

2. Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, Nr. 8

3. Friedrich Schiller, Über das Pathetische

4. Euripides, Die Bakchen