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Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Der Krieg in der Ukraine und unsere Verpflichtung,
den Frieden zu suchen

Von Michael von der Schulenburg

Michael von der Schulenburg ist ehemaliger stellvertretender UN-Generalsekretär, arbeitete über 34 Jahre lang für die Vereinten Nationen und kurz darauf für die OSZE. In der Konferenz wurden die folgenden Auszüge aus einem längeren Aufsatz verlesen, den Von der Schulenburg am 18.2.2023 in der Zeitschrift „Makroskop“ veröffentlichte.

Der Krieg in der Ukraine geht nun in ein zweites Jahr – ohne, daß auch nur der Versuch einer diplomatischen Lösung unternommen wird. Anstelle von Friedensgesprächen haben sich die Kriegs- und Konfliktparteien weiter in einer gefährlichen militärischen Eskalationsspirale unter Einsatz immer schwererer Waffensysteme verfangen. Als wären wir noch den Denkmustern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verhaftet, sollen nun militärische Großoffensiven die Lösung bringen.

Das wird die Ukraine nur weiter zerstören. Aber eine noch gefährlichere Konsequenz ist, daß am Ausgang solcher Offensiven das Prestige der zwei größten Nuklearmächte der Welt – USA und Rußland – hängt. Damit steigt das Risiko einer direkten Konfrontation zwischen diesen Nuklearmächten, die über etwa 90% aller Atomwaffen der Welt verfügen…

In der Präambel der UN-Charta heißt es: „Die Völker der Vereinten Nationen (sind) fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat.“

Leider scheint dieser Appell der UN-Charta heute vergessen. Das liegt vor allem daran, daß die eigentlichen Schutzmächte (und UN-Gründungsmitglieder) der UN-Charta, die USA, Großbritannien, Frankreich und nun auch Rußland, die Prinzipien der UN-Charta kontinuierlich erodiert, ja, sie wiederholt gänzlich ignoriert haben. Das ist ihnen als permanente Mitglieder des UN-Sicherheitsrates mit Vetorecht möglich. Im Krieg in der Ukraine sind nun diese vier Schutz- und Vetomächte zu Konfliktparteien geworden. Damit tragen sie gegenüber der Menschheit die vorrangige Verantwortung für diesen Krieg…

Der Ernst des sich aufschaukelnden Konfliktes über die Ausweitung der NATO an die Grenzen Rußlands, die nun zum Krieg geführt hat, war allen Beteiligten mindestens seit 1994 klar. Rußland hat wiederholt davor gewarnt, daß mit den Aufnahmen der Ukraine und Georgiens in die NATO seine elementaren Sicherheitsinteressen verletzt und damit eine rote Linie überschritten würde.

Damit handelt es sich um einen klassischen Konflikt, wie er oft vorkommt.

Der UN-Charta entsprechend hätte dieser Konflikt diplomatisch gelöst werden müssen – und wohl auch können. Das ist aber nicht geschehen, weder um einen Krieg zu verhindern noch um einen friedlichen Ausgang des einmal begonnen Krieges zu erreichen. Auch darin besteht ein Bruch der UN-Charta…

Dennoch wurde der NATO-Beitritt der Ukraine vor allem seitens der USA systematisch weiterverfolgt und Rußlands Bedenken einfach übergangen. Das verlief nicht ohne Provokationen. Dabei schreckte der Westen nicht einmal davor zurück, im Jahr 2014 den gewaltsamen Umsturz eines rechtmäßig gewählten (OSZE) Präsidenten zu unterstützen, um so eine für einen NATO-Beitritt genehme Regierung in der Ukraine einzusetzen. Nach Angaben von Victoria Nuland, heute stellvertretende Außenministerin der USA, hatte die USA diesen Umsturz mit 5 Milliarden Dollar finanziert; in Wirklichkeit aber dürfte es ein noch wesentlich höherer Betrag gewesen sein. Auch dies war eine grobe Verletzung der Souveränität eines UN-Mitglieds und damit ein Bruch der UN-Charta.

Nach den kürzlich gemachten Aussagen von Angela Merkel und Francois Holland zu den Minsk I- und Minsk II-Abkommen stellt sich auch die Frage, ob diese seitens des Westens überhaupt in ‚good faith‘ verhandelt wurden oder nur dem Ziel dienten, Zeit für die militärische Aufrüstung der Ukraine zu schaffen. Da diese Abkommen durch den Beschluß des UN-Sicherheitsrates rechtsbindend wurden, wäre das eine schockierende Travestie jeden internationalen Rechtes…

Auch nach dem Ausbruch des Krieges wurden alle unternommenen Friedensbemühungen von der NATO, insbesondere von den USA und Großbritannien, torpediert. In der ersten Märzwoche 2022 bereits bemühte sich der damalige Premierminister Israels, Naftali Bennet, um einen Waffenstillstand zwischen Rußland und der Ukraine. Nach seinen kürzlich gemachten Aussagen hatten Rußland und die Ukraine großes Interesse an einem schnellen Ende des Krieges. Laut Bennet war durch Konzessionen Rußlands ein Waffenstillstand „in greifbare Nähe“ gerückt. Dazu kam es aber nicht, denn „sie (die USA und Großbritannien) haben einen Waffenstillstand blockiert, und ich dachte, sie hätten unrecht“, so Bennet weiter…

Diese Entscheidung hat nun zu einer weitreichenden Zerstörung der Ukraine, zu unermeßlichem Leid der dortigen Zivilbevölkerung und zum Verlust großer Teile der Ukraine geführt. Heute wäre die Verhandlungsposition der Ukraine wesentlich schlechter, als sie es im März 2022 noch war. Das erklärt sicherlich die jetzige Haltung Selenskyjs, nun alles auf einen totalen Sieg über Rußland zu setzen. Aber auch ein solcher Sieg, sollte er überhaupt möglich sein, ginge mit enormen menschlichen Kosten einher und könnte zur völligen Zerstörung der Ukraine führen. Es muß Selenskyj und den meisten seiner Mitstreiter inzwischen klargeworden sein, daß sie im März/April besser nicht auf ihre Freunde aus dem Westen hätten hören sollen und, daß sie mit der Ablehnung einer friedlichen, auf Verhandlungen basierenden, Lösung nun mit ihrem eigenen Blut für die strategischen Kriegsziele anderer bezahlen. Es wird nicht das letzte Mal sein, daß sich die Ukrainer betrogen fühlen werden…

Der Krieg in der Ukraine hat die Welt näher an eine nukleare Katastrophe gebracht als irgendein anderer Konflikt seit dem Ende des Kalten Krieges – vielleicht sogar seit dem Ende der beiden Weltkriege. Das sollte uns allen schmerzlich bewußt gemacht haben, wie wichtig, ja unersetzlich die UN-Charta auch heute noch ist. Um den Weltfrieden zu erhalten, bleibt uns nur der Weg über eine freiwillige Einigung zwischen Staaten, Konflikte friedlich zu lösen…

Die Fackel für eine friedliche, auf Zusammenarbeit gerichtete Weltordnung muß nun von anderen Ländern getragen werden, von Ländern wie Brasilien, Argentinien und Mexiko in Lateinamerika; von Indien, China und Indonesien in Asien; von Südafrika, Nigeria und Äthiopien in Afrika und Ägypten und Saudi-Arabien im Mittleren Osten. Indem diese Länder eine stärkere Verantwortung für den Weltfrieden übernehmen, würde ein weiterer Schritt hin zu einer multipolaren und gleichberechtigten Welt gegangen. Was eignet sich da besser als eine Friedensordnung, die auf der UN-Charta und dem Prinzip „der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder“ aufgebaut ist!