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Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Was Rußland wirklich will in seinen Beziehungen zu Europa –
Frieden oder Krieg?

Von S.E. Ilia Subbotin

Ilia Subbotin ist Gesandter-Botschaftsrat an der Botschaft der Russischen Föderation in Frankreich. Vor der Straßburger Konferenz hielt er am 8. Juli den folgenden Vortrag. (Übersetzung aus dem Englischen.)

Sehr geehrte Teilnehmer der heutigen internationalen Konferenz, die vom Schiller-Institut veranstaltet wird, sehr geehrte Frau Zepp-LaRouche, sehr geehrter Herr Cheminade, liebe Freunde:

Ich betone bewußt das Wort Freunde, weil ich wirklich hoffe, daß ich heute vormittag vor Menschen spreche, die mindestens bereit sind, zuzuhören und die keine vorgefertigte Meinung der internationalen Realität haben, wie sie von den westlichen Mainstream-Medien verbreitet wird.

Aus dem, was ich in offen zugänglichen Quellen über das Schiller-Institut und seinen Gründer Lyndon LaRouche finden konnte, schließe ich, daß dieses Publikum kritisch denken und seine eigenen Schlüsse ziehen kann.

Das Thema des heutigen Panels lautet „Frieden in der Welt durch eine neue Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur für jedes Land“. Ich werde Ihnen eine Sichtweise vorstellen, die auf der offiziellen Positionierung meines Landes und auf meiner eigenen Erfahrung basiert, die 23 Jahre im diplomatischen Dienst umfaßt.

Ich erinnere mich noch lebhaft an die ersten Kontakte zu US-amerikanischen Oberstufenschülern 1990-91 während der letzten Jahre der Existenz der Sowjetunion. Damals gab es ein Programm namens „Freundschafts-Karawane“, welches jungen Amerikanern den Besuch sowjetischer Schulen ermöglichte, sie wohnten dann mehrere Tage bei russischen Familien. Nach Jahrzehnten des Kalten Krieges war das eine Brise frischen Windes. Wir waren begeistert, neue Freunde zu finden. Die Zukunft erschien strahlend und fantastisch.

Im Juli 1989 besuchte der damalige Staatschef der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, Straßburg und sprach vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (Parliamentary Assembly of the Council of Europe, PACE). In dieser historischen Rede stellte er die Idee vom „Gemeinsamen Haus Europa“ vor und rief dazu auf, „das geopolitische Gleichgewicht durch ein Gleichgewicht der Interessen“ zu ersetzen, um damit den weiten Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok zu schaffen. Hierin sehe ich die Verbindung zu Helgas „Zehn Prinzipien einer zukünftigen Welt“.

Das war der Wendepunkt russischer Außenpolitik. 30 Jahre lang sparte mein Land keine Anstrengung, um einen gemeinsamen humanitären, rechtlichen und wirtschaftlichen Raum zu erschaffen, der Groß-Europa einbeziehen sollte. Rußlands Mitgliedschaft im Europarat ab 1996 bis März 2022 war der sichtbarste Beweis dieses Kurses.

Bevor ich meine Nachzeichnung der europäischen Integration fortsetze, erlauben Sie mir, Ihre Aufmerksamkeit auf einen Umstand zu lenken, der entscheidend für das Verständnis der weiteren Entwicklungen ist. Nach dem gescheiterten Staatsstreich im August 1991 wurde die Sowjetunion im Dezember desselben Jahres friedlich aufgelöst.

Lassen Sie mich die beiden unterschiedlichen Versionen dessen hervorheben, was damals passierte: Die amerikanische Führung (namentlich Präsident Bush Senior) begann bereits im Wahlkampf 1992 vom „Sieg“ im Kalten Krieg und den Kollaps der Sowjetunion wegen dieses „Sieges“ zu sprechen. Für uns in der ehemaligen Sowjetunion sah die Wahrnehmung der Ereignisse total anders aus. Wir hatten nie den Eindruck, den Kalten Krieg verloren zu haben. Tatsächlich war es unser Präsident gewesen, der ihn beendet hatte.

Die Auflösung der UdSSR wurde zu einer Art „Kollateralschaden“ des gigantischen Wandels russischer Politik. Und glauben Sie mir, als das passierte, verstand so gut wie niemand, was genau passierte. Die meisten Völker in den früheren Sowjetrepubliken, mit Ausnahme der Balten und Georgien, wollten weiter zusammenleben. Und ich kann mich noch sehr gut an das Gefühl während der ersten Monate von 1992 erinnern, daß bald eine Art neue Union dieser Republiken entstehen würde. Die Realität stellte sich allerdings unglücklicherweise anders heraus: eine schwere Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, Kriminalität, interethnische Konflikte in einer Reihe post-sowjetischer Republiken.

Trotz all dieser Schwierigkeiten war Rußland weiterhin fest davon überzeugt, ein Teil der westlichen Welt zu werden. 1996 traten wir dem Europäischen Rat mit seinem Gerichtshof für Menschenrechte und vielen anderen Institutionen und Instrumenten bei. 2002 wurde der NATO-Rußland-Rat gegründet. Von 2003 an kamen wir mit der Europäischen Union darin überein, daß vier gemeinsame Räume geschaffen werden sollten, die wirtschaftliche Fragen, Fragen von Freiheit, Sicherheit und Justiz, äußere Sicherheit, sowie schließlich Forschung und Bildung einschließen sollten.

Mittlerweise hatte ich im Jahr 2000 die Abschlußprüfungen an der MGIMO-Universität – der bekannten russischen Diplomaten-Hochschule – absolviert und wurde auf meinen ersten diplomatischen Posten nach Chile berufen.

An dieser Stelle würde ich gerne noch ein weiteres persönliches Erlebnis aus den späten 90ern darstellen. Im Frühjahr 1999 machte ich meinen Master in internationalen Beziehungen in Madrid in Spanien. Ich lebte damals in einer Gemeinschaftsunterkunft mit anderen Studenten, u.a. einem Yankee-Boy, der Stephen hieß. Wir kamen ganz gut miteinander aus – bis die NATO begann, Jugoslawien zu bombardieren.

Das ist für mich ein weiterer Wendepunkt der europäischen Geschichte der letzten 30 Jahre. Rußland wird heute vorgeworfen, es bringe wieder den Krieg nach Europa. Als ob die Aggression gegen Jugoslawien nie stattgefunden hätte! In der Nacht, als russische Fallschirmjäger die Kontrolle über den Flughafen von Pristina übernahmen, kam es zu Handgreiflichkeiten mit meinem amerikanischen Zimmernachbarn. Er fing an und rief dabei etwas über „russische Schweine“. Die USA waren vielleicht erfolgreich in Jugoslawien, aber nicht in dem Madrider Wohnheim…

In Hinsicht auf die Beziehungen zwischen dem Westen und Rußland ist die Kosovo-Krise bekannt durch die Umkehr des Flugzeugs von Ministerpräsident Primakow über dem Atlantik (am 24. März 1999) und der damit beginnenden Wende der russischen Außenpolitik. Allerdings brauchte mein Land, wie wir heute wissen, weitere 20 Jahre dazu, um diese Wende zu vollenden. Der frühere Ministerpräsident und Außenminister Primakow war ein wahrer Verfechter des Konzepts einer multipolaren Welt. In seinen aktiven Jahren in der Politik setzte er sich für ein multipolares System ein, das nun vor unseren Augen zur Realität wird.

2007 wurde ich zum ersten Mal nach Straßburg versetzt, zur ständigen Vertretung Rußlands beim Europäischen Rat (ER). Seitdem habe ich in unterschiedlichen Funktionen mit der ER-Akte zu tun. Am 10. Februar 2007 hielt Präsident Putin seine historische Münchner Rede. Er sprach über die Unteilbarkeit der Sicherheit, über das Scheitern der unipolaren Welt (vielleicht war das seinerzeit zu früh, aber vom heutigen Standpunkt betrachtet war dies die richtige Schlußfolgerung), über die exzessive Gewaltanwendung seitens der USA und der NATO…

Im Rückblick auf die Ereignisse Ende der 80er Jahre betonte Präsident Putin: „Der Fall der Berliner Mauer wurde möglich durch die historische Wahl des russischen Volkes, sich für Demokratie, Freiheit, Offenheit und ehrliche Partnerschaft mit allen Mitgliedern der europäischen Familie zu entscheiden.“ Und natürlich setzte er sich für ein ausgewogeneres System der Sicherheit ein (Punkt 1 von Helgas Prinzipien – internationale Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur als Partnerschaft zwischen souveränen Nationalstaaten).

Wurde mein Präsident in München gehört? Nach den Ereignissen zu schließen, die darauf folgten, sicherlich nicht. Im August 2008 ließ der georgische Staatsführer Saakaschwili Zivilisten und russische Blauhelmsoldaten in Zchinwali (Südossetien) angreifen. Zusammen mit meinen Kollegen verbrachte ich lange Stunden mit Diskussionen im Minister-Komitee damit, das Offensichtliche zu beweisen – daß die Attacke von der georgischen Seite kam. Eine internationale Untersuchungskommission unter Vorsitz der Schweizer Botschafterin Heidi Tagliavini kam zu derselben Schlußfolgerung. Allerdings konnte keine dieser Schlußfolgerungen verhindern, daß ein bewaffneter Konflikt zwischen der russischen Armee und US-amerikanisch trainierten und ausgestatteten georgischen Kampfverbänden stattfand. Glücklicherweise dauerte der Krieg nur ein paar Tage an und wurde, wie wir heute sehen können, zu einem ziemlich guten Impfstoff für die georgische Gesellschaft und Führung gegen jeden zukünftigen Versuch, einen bewaffneten Konflikt mit Rußland zu beginnen.

2009 feierten wir das 60. Jubiläum des Europäischen Rates. Ex-Präsident Gorbatschow wurde eingeladen, zu diesem feierlichen Anlaß die Hauptrede zu halten. Bei dieser Gelegenheit hatte ich das Glück, drei Tage mit dem Mann zu verbringen, der die Geschichte verändert hat. Er wird in meinem Land oft als zu pro-europäisch eingeschätzt, aber erlauben Sie mir, einige Schlüssel-Botschaften seiner Rede von 2009 zu zitieren: „Europa hat die Schlüsselfrage immer noch nicht beantwortet, nämlich die Schaffung einer soliden Basis für den Frieden durch eine neue Sicherheitsarchitektur.“ Das sagte Präsident Gorbatschow, nicht Putin, 2009… Ein weiteres Zitat: „Die Wurzeln der tatsächlichen Probleme liegen in der falschen Einschätzung der Ereignisse im Zusammenhang mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion.“

Entschuldigen Sie bitte den langen Ausflug in die Zeitgeschichte, aber ich bin fest davon überzeugt, daß wir die heutige Realität nur dann verstehen können, wenn wir einen klaren Blick darauf werfen, was gestern passiert ist.

2012-15 arbeitete ich als abgeordneter politischer Berater des Brüsseler Büros des Europäischen Rates. Das war eine einzigartige Gelegenheit, die „Brüsseler Blase“ kennenzulernen. Darüber hinaus war es eine Periode, in der die Grundzüge der gegenwärtigen Ukrainekrise geschaffen wurden.

Sie werden sich vielleicht daran erinnern, daß die EU und die Ukraine damals über ein Assoziierungsabkommen mit einer Freihandelszone verhandelten, welches mit der bereits bestehenden Freihandelszone zwischen Rußland und der Ukraine in Widerspruch geraten würde. Mein enger Kollege und Freund war unter den Top-Unterhändlern auf unserer Seite der EU-Rußland-Gespräche, um einen Weg aus der Sackgasse herauszufinden. Seiner Aussage nach gab es auf der EU-Seite keine Bereitschaft, in diesen Gesprächen zu einer für beide Seiten vorteilhaften Übereinstimmung zu kommen. Als Präsident Janukowitsch es ablehnte, das Assoziierungsabkommen zu unterzeichnen, wurde dies dazu benutzt, den Maidan-Putsch zu entfachen, der zu dem Bürgerkrieg in der Ukraine führte. Und wiederum wurden wir Zeuge des Unwillens der westlichen Führungen, das Minsker Abkommen umzusetzen, das die offenen Feindseligkeiten zwischen 2015 und 2022 stoppte.

Inzwischen haben wir alle die Geständnisse von Herrn Hollande und Frau Merkel gehört, daß sie keinerlei Absicht hatten, das Minsk-Paket umzusetzen, und das einzige Ziel dieses Deals darin bestand, der Ukraine mehr Zeit zu geben, sich wieder zu bewaffnen und die Rebellen-Regionen mit Gewalt zu erobern.

Was war die Absicht der russischen Führung? Für mich ist die Antwort darauf ziemlich klar. Mein Präsident, unterstützt von der politischen Klasse, wollte einen ernstgemeinten Friedensvertrag, natürlich unter angemessenen Bedingungen, deren Schlüssel die Anerkennung von Rußlands maßgeblicher Rolle bei der Bereitstellung von Sicherheit in Europa darstellt. Die Jungs in Washington sahen offenbar keine derartige Rolle für mein Land vor. Zu einem großen Teil erklärt dies, warum wir uns immer noch im offenen Konflikt befinden.

Lassen Sie mich auf 2017 zurückkommen. Ich übernahm den Posten des Vizedirektors im Außenministerium Rußlands, verantwortlich für den Bereich Europäischer Rat. Am meisten Kopfschmerzen bereitete mir die institutionelle Krise. Die russische Delegation im PACE war ihrer wichtigsten Rechte beraubt, weshalb meine Vorgesetzten entschieden, die Zahlung unseres Beitrags zum Budget des Europäischen Rates zu stoppen, bis diese Rechte vollumfänglich wiederhergestellt werden. Im Sommer 2019 waren wir in enger Zusammenarbeit mit dem Generalsekretär Jagland und dem vernünftigen Teil der Mitglieder des PACE in der Lage, dieses Problem zu lösen. Die russische Delegation kehrte mit ihren vollen Rechten in die Versammlung zurück. Der russische Beitrag zum ER-Budget wurde vollständig bezahlt. Wäre all dies möglich ohne das ernsthafte Verlangen meines Präsidenten und unserer politischen Klasse, daß Rußland Teil des größeren Europa bleibt? Definitiv nicht! Zudem hatten wir das Glück, in diesem historischen Moment die verantwortliche und unabhängige Führung im ER (Jagland) zu haben.

Was passierte dann? Rußland erkannte, daß die Vereinigten Staaten in der Ukraine das schlimmste Szenario vorbereiteten. Wir unternahmen die letzte Anstrengung – die „diplomatische Offensive“ im Dezember 2021 und Januar 2022. Es kam so, daß ich diese Ereignisse persönlich mit zwei Hauptgesandten Rußlands diskutieren konnte – Vizeminister Rjabkow (er arbeitete mit den USA) und Vizeminister Gruschko (er kümmerte sich um die NATO-Seite). Die parallele Schlußfolgerung beider angesehener Kollegen war: Es gab keine Bereitschaft von Seiten der USA und NATO, irgendeinen Kompromiß mit Rußland zu suchen.

Unter diesen Umständen wurde die Militärische Spezialoperation der gerechte und alternativlose Schritt, um Rußlands Sicherheit zu garantieren und russische Menschen zu schützen, denen das Kiewer Regime ihre Sprache, Religion, Kultur und Werte vorenthalten wollte.

Was war die Reaktion des Westens? Haß und das Mantra, die einzige Lösung sei eine „strategische Niederlage Rußlands auf dem Schlachtfeld“. Und keine Anstrengung wird unterlassen, um dieses Ziel zu erreichen – laut offen zugänglichen Quellen wurden bereits mehr als 150 Mrd. Dollar für die Bewaffnung der Ukraine ausgegeben. Übrigens hat die G20 vor ein paar Jahren beschlossen, 100 Mrd. Dollar zusammenzutragen, um den Entwicklungsländern bei der grünen Wende zu helfen, und diese Zusage wurde nie umgesetzt!

Lassen Sie mich betonen, daß es nicht Rußland war, welches die Beziehungen mit Europa abbrach (dies war auch exakt der Fall bei unserem Rückzug aus dem Europäischen Rat). Der Bruch kam auf Initiative der westlichen Staaten (der zweite Teil des Titels unserer Sitzung – „Die unverzichtbare strategische Autonomie der europäischen Länder“). Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich behaupte, daß derzeit keinerlei derartige Autonomie besteht und daß die europäische politische Klasse beinahe vollständig von den USA kontrolliert wird.

Kann diese Situation verändert werden? Ich hoffe es, und die Tatsache, daß eine Organisation wie das Schiller-Institut existiert, bestärkt diese Hoffnung.

Die multipolare Welt ist am Entstehen. Das ist eine Tatsache, mit der man leben muß. Es gibt neue wirtschaftliche Wachstumszentren – China, Indien, Brasilien, Türkei, die Golfstaaten. Ihre Finanzkraft und ihr politischer Einfluß gehen mit dem wirtschaftlichen Erfolg Hand in Hand einher. Der Anteil der G7 am Welt-BIP ist bereits kleiner als jener der BRICS.

Der Hegemon, der seine Dominanz verliert, reagiert bösartig, durch die Ingangsetzung interner Konflikte und Kriege zwischen Brudernationen, wie denjenigen im ehemaligen Jugoslawien und der Sowjetunion. Wird Washington den Lauf der Geschichte aufhalten? Ich denke nicht. Ich bin mir sicher, daß die meisten Politiker im Westen dies verstehen. Die offene Frage ist: Wann wird Europa – vor allem Deutschland und Frankreich – aufwachen und sich von den Fesseln US-amerikanischer Kontrolle befreien? Sobald und wenn dies geschieht, wird Rußland zu einem für alle Seiten vorteilhaften Dialog unter Gleichen bereit sein, auf der Basis unserer fundamentalen Interessen; wir wollen keine Selbstisolation.