Das Geheimnis von Chinas wirtschaftlichem Erfolg
Von Prof. Wen Yi
Prof. Wen Yi ist Volkswirtschaftler und war Forschungsleiter
bei der Federal Reserve Bank der Vereinigten Staaten. In der Internetkonferenz
des Schiller-Instituts am 15. April 2023 hielt er den folgenden Vortrag, die
Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion hinzugefügt.
Vielen Dank, daß Sie mich zu dieser wunderbaren Konferenz eingeladen haben.
Ich möchte vorausschicken, daß ich sehr kurzfristig eingeladen wurde und Ihnen
daher keine PowerPoint-Präsentation vorlegen kann, aber ich möchte Ihnen etwas
über das Wesen oder das „Geheimnis“ von Chinas schneller Entwicklung sagen.
Denn ich denke, daß Chinas Erfahrungen sehr wichtig sind, um sie mit anderen
Entwicklungsländern zu teilen.
Leider war die gesamte konventionelle, westliche Wirtschaftstheorie bisher
nicht in der Lage, eine schlüssige Erklärung für Chinas rasanten Aufstieg zu
liefern, und sie konnte auch keine gute Erklärung für die britische
industrielle Revolution liefern.
Meiner Meinung hängen beide Phänomene eng miteinander zusammen. Wenn wir
Chinas wirtschaftliche Entwicklung nicht erklären können, dann kann man auch
nicht hoffen, die industrielle Revolution erklären zu können, die sich vor
etwa 250 Jahren in Großbritannien ereignete. Umgekehrt gibt es keine gute
Theorie zur Erklärung der industriellen Revolution, und das ist der Grund,
warum die Menschen die Entwicklung Chinas immer noch nicht sehr gut verstehen
können.
Ich werde hier also etwas anbieten, das anders ist als die herkömmliche
Wirtschaftstheorie. Lassen Sie mich zunächst drei oberflächliche Unterschiede
zwischen dem chinesischen Modell und dem westlichen kapitalistischen
Entwicklungsmodell nennen. Danach werde ich versuchen, auf die grundlegende
Logik dahinter einzugehen.
- Wenn man Chinas Aufstieg oder Chinas Entwicklung mit der Entwicklung
Europas oder des Westens vergleicht, ist der große Unterschied natürlich die
Dimension. Noch heute, nach fast 250 Jahren industrieller Revolution, die von
Großbritannien ausging, leben nicht einmal 15% der Weltbevölkerung in
industrialisierten Gesellschaften. Mehr als 85% der Weltbevölkerung sind immer
noch nicht industrialisiert. Das ist eine sehr unglückliche Situation. Wenn es
China gelingt, seinen Industrialisierungsprozeß abzuschließen, kommen allein
dadurch weitere 20% der Weltbevölkerung zu dieser Gruppe von Menschen hinzu,
die in einer industrialisierten Gesellschaft leben. Das ist also der erste
Punkt.
- Zweitens verlief der Industrialisierungsprozeß in China trotz vieler
Schwierigkeiten sehr, sehr schnell, wenn man etwa Deng Xiaopings
Wirtschaftsreform als Ausgangspunkt nimmt. Sinnvollerweise sollte man
vielleicht mit der Gründung der Volksrepublik China beginnen, das sind immer
noch nur 70 Jahre. Dabei haben die westlichen Mächte mehrere Jahrhunderte für
ihre Entwicklung gebraucht, die schließlich zur Industrialisierung führte.
Selbst nachdem Großbritannien die industrielle Revolution in Gang gesetzt
hatte, brauchte der Westen noch 250 Jahre, um diese Phase abzuschließen. Was
die Geschwindigkeit angeht, ist das also auch sehr dramatisch.
- Und nicht zuletzt unterscheidet sich die chinesische Art der
Industrialisierung stark von der westlichen Art der Industrialisierung. Sie
ist sehr friedlich, zumindest bis jetzt. Wir wissen, daß die westliche
Industrialisierung sehr schmerzhaft und voller Kriege war. Deshalb nennen wir
den westlichen Kapitalismus auch den „Kriegskapitalismus“.
Das sind also drei, sagen wir, oberflächliche Merkmale,
dennoch ist die zugrundeliegende wirtschaftliche Logik doch sehr ähnlich.
Darauf möchte ich hinweisen und deshalb diese chinesische Erfahrung und die
britische industrielle Revolution beleuchten und daraus einige Lehren für die
Entwicklungsländer ziehen, denn wie der Titel dieser Konferenz sagt, kann es ohne
die Entwicklung oder Industrialisierung aller Nationen keinen dauerhaften
Frieden geben. Ich denke, das ist eine sehr tiefgründige Botschaft.
Massenproduktion braucht einen Massenmarkt
Betrachten wir also rückblickend Chinas Erfahrungen. Das
Geheimrezept der industriellen Revolution, wie ich es nenne, weist folgende
Merkmale auf.
Erstens: Die Armut hat ihre Wurzeln in der Unfähigkeit zur Massenproduktion
von Gütern – von Kleidung über Unterkünfte bis hin zu Autos, einfach alles.
Diese mangelnde Fähigkeit zur Massenproduktion ist also der Hauptgrund für
Armut. Um Dinge in Massen zu produzieren, denken wir normalerweise an
Technologie. Aber heute ist die Technologie nicht das eigentliche Problem. Was
wir vergessen haben, ist, daß wir einen Massenmarkt oder einen einheitlichen
Markt brauchen, damit die Massenproduktionstechnologie rentabel ist und von
jeder Nation – insbesondere vom privaten Sektor – übernommen werden kann. Ohne
einen Massenmarkt kann all das, was in großen Mengen produziert wird, nicht
verkauft werden, und deshalb kann man auch keinen Gewinn erzielen.
Wir haben die Erfahrung mit der Sozialplanung gemacht, die versucht hat,
die Massenproduktion durchzusetzen, ohne sich auf den Markt zu verlassen. Aber
diese Methode war im Grunde nicht in der Lage, mit dem Kapitalismus zu
konkurrieren, denn sie machte Verluste. Deshalb muß die Massenproduktion durch
den Massenmarkt unterstützt werden.
In dieser Hinsicht sind wir nicht über die traditionelle Wirtschaftstheorie
hinausgegangen, denn Adam Smith selbst hat darauf hingewiesen, daß die
Industrialisierung der Arbeitsteilung durch die Größe des Marktes begrenzt
wird. Ohne einen Markt kann man nicht hoffen, eine Arbeitsteilung einzuführen,
weil das zu Verlusten führen wird. Diesen Teil kennen wir also.
Was wir aber nicht wissen – worauf Adam Smith nie hingewiesen hat und was
uns die herkömmliche Wirtschaftstheorie nicht lehrt –, ist folgendes: Der
Markt selbst ist ein grundlegendes öffentliches Gut. Kein einzelner Bauer ist
in der Lage, ihn zu schaffen, also kann dieses öffentliche Gut nur mit Hilfe
des Staates geschaffen werden.
Und der Markt hat drei Säulen, ohne sie gibt es keinen Markt:
Die erste Säule ist die politische Stabilität.
Die zweite Säule ist das soziale Vertrauen.
Die dritte Säule ist die Infrastruktur.
Ohne das gibt es keinen Markt. Der Markt ist also ein öffentliches Gut, das
kollektiv geschaffen werden muß, besonders von der Regierung.
Wir wissen auch, daß die Infrastruktur wichtig ist, aber wir wissen noch
nicht wirklich, wie sehr sie den Markt prägt. Zum Beispiel bestimmt sie direkt
die Form, die Raum-Zeit-Form des Marktes, und sie bestimmt den Fluß, die
Richtung, das Volumen und die Geschwindigkeit des Warenflusses. Doch die
Infrastruktur selbst ist bekanntlich ein öffentliches Gut, und sie ist neben
politischer Stabilität und sozialem Vertrauen eine der Säulen, die einen Markt
stützen.
Der neue Imperialismus ignoriert völlig die politische Stabilität als
Pfeiler des Marktes, er ignoriert auch völlig das soziale Vertrauen als
Pfeiler des Marktes. Und natürlich wissen diese Leute auch nicht, wie man
Infrastruktur aufbaut, denn dafür braucht man Geld.
Wir müssen also über Adam Smith hinausgehen und erkennen, daß der Markt für
die Unterstützung der Massenproduktion von grundlegender Bedeutung ist, aber
daß der Markt ein öffentliches Gut ist, das nur mit Hilfe des Staates
geschaffen werden kann.
Während der gemeinsamen Reformen in den 1980er und 90er Jahren sagte der
Washingtoner Konsens den Entwicklungsländern, der Staat müsse sich aus der
Wirtschaft zurückziehen, die Regierung müsse einfach nichts tun und den Staat
kollabieren lassen, dann werde sich der Markt hoffentlich von selbst
entwickeln.
Das ist falsch, wenn Sie an die Geschichte Europas denken. Die britische
Regierung, die niederländische Regierung, die deutsche Regierung, die
französische Regierung, die US-Regierung und die japanische Regierung – sie
alle haben dazu beigetragen, den Markt für ihre eigenen Unternehmen zu
fördern.
Der Markt muß Schritt für Schritt geschaffen werden
Ein weiterer Grundsatz ist, daß der Markt zur Unterstützung von Industrien
nicht durch einen einzigen großen Schub oder eine Schocktherapie geschaffen
werden kann. Er kann nur nach und nach geschaffen werden, Schritt für Schritt,
denn der Markt hat Strukturen.
Die primitivste Art von Markt, mit der man in jeder Agrargesellschaft
beginnen kann, ist der sogenannte protoindustrielle Markt, der Handwerker und
kleine, winzige Unternehmen unterstützt. Diese Phase ist wesentlich,
insbesondere für Länder wie Afrika und China in den 1980er Jahren.
Meist versuchen die Länder, wichtige Phasen zu überspringen, um die
Industrialisierung voranzutreiben, und überspringen daher frühere Phasen, um
den Markt zu entwickeln und Industrien zu gründen. Letztendlich geraten sie
dann in eine Finanzkrise. Die Erfahrungen in Lateinamerika, sei es in
Brasilien, Argentinien, Chile und vielen anderen Ländern, zeigen dies
anschaulich.
Das ist also der falsche Weg, um einen Markt zu schaffen. Man muß
bescheiden sein und einen Markt von Grund auf und Schritt für Schritt
aufbauen.
Schauen Sie sich die chinesischen Erfahrungen in den 1980er Jahren an, als
Deng Xiaoping die Wirtschaftsreform einleitete. Zuallererst sorgte er für
politische Stabilität, denn er wußte, daß man ohne politische Stabilität kein
ausländisches Kapital anziehen und keine Wirtschaft haben konnte. Gleichzeitig
wollte er, daß die gesamte Staatsverwaltung, nicht nur die Zentralregierung,
sondern auch die lokalen Regierungen, die Wirtschaft fördern und im
wesentlichen einen Markt schaffen. Aber Deng Xiaoping war sehr bescheiden,
sein Ziel war nur, bis zum Jahr 2000 ein Pro-Kopf-Einkommen von 200 oder 500
Dollar pro Person zu erreichen.
Dieses bescheidene Ziel erwies sich als richtig. Denn wenn man sich
überhastet in die Industrialisierung stürzt und gleich versucht,
Schwerindustrie aufzubauen, wird das scheitern, weil die Schwerindustrie eine
Leichtindustrie benötigt, um ihre Marktnachfrage zu schaffen. Und die
Leichtindustrie, wenn wir Technologie zur Massenproduktion einsetzen wollen,
benötigt eine Protoindustrie, um den Markt zu schaffen. Chinas Erfahrung
begann also in den ländlichen Gebieten mit den sogenannten Dorf-Stadt-Firmen.
Sie waren sehr primitiv, in sehr kleinem Maßstab, aber sehr wichtig.
Millionen, ja Milliarden von Menschen waren an diesem Prozeß beteiligt, der
schließlich den Markt schuf...
Wenn ich also die Entwicklung des Marktes genauer beschreiben möchte, wie
ein Markt in einem stufenweisen Prozeß geschaffen wird, unterteile ich ihn in
drei Phasen.
In der ersten Phase, vor allem in armen Ländern wie in Afrika, wird ein
Markt geschaffen, um eine Proto-Industrie zu unterstützen, die sehr primitiv,
aber sehr wichtig ist. Sie beziehen die gesamte bäuerliche Bevölkerung in die
Produktion ein, die allerdings noch sehr primitiv ist.
Ist der Markt erst einmal gut entwickelt, vor allem mit einem
Liefernetzwerk – den kleinen Läden –, dann kann man die Massenproduktion von
Leichtindustrien wie der Textilindustrie unterstützen. Die Textilproduktion
ist eine sehr wichtige Etappe für den Aufstieg eines Landes.
Sobald die Industrialisierung der Leichtindustrie abgeschlossen ist,
entsteht ein enormer Bedarf an Transportmitteln und Maschinen, was wiederum
den Startschuß für die schwerindustrielle Revolution, die Schwerindustrie,
gibt. Das ist also die dritte Stufe.
Und erst wenn Sie die Schwerindustrialisierung abgeschlossen haben,
verwenden Sie Kapital, um Kapital zu produzieren, Sie verwenden Maschinen, um
Maschinen zu produzieren. Jetzt wird die Produktivität so hoch sein, daß man
die Landmaschinen sehr billig machen kann, und die Bauern werden sie kaufen
können. Erst dann wird die Modernisierung der Landwirtschaft möglich.
Viele Länder haben in der falschen Reihenfolge begonnen. Sie beginnen mit
der Schwerindustrialisierung, beginnen mit der Finanzreform – das ist völlig
falsch. Sie haben die falsche Reihenfolge gewählt. So kann man keine Märkte
schaffen, vor allem nicht für den industriellen Markt.
Erst wenn die Produktivität der arbeitenden Bevölkerung hoch genug ist und
die Lohnquote hoch ist, so daß die Arbeitskräfte knapp werden und Kapital
billig und reichlich vorhanden ist, dann kann die Gesellschaft in einen
Sozialstaat übergehen. Sie können also Wohlfahrt unterstützen.
Wohlfahrt hat zwei Aspekte: Der erste ist die wirtschaftliche Wohlfahrt,
wie Renten, Arbeitslosenversicherung, kostenlose Bildung, kostenlose
medizinische Versorgung. Der andere Aspekt ist die politische Wohlfahrt:
Menschenrechte und andere Dinge. Aber ohne die wirtschaftliche Grundlage
werden Sie scheitern, wenn Sie zu früh mit dem Sozialstaat beginnen. Ihre
Wirtschaft ist nicht in der Lage, ihn zu tragen.
Ich denke, das faßt die chinesische Erfahrung zusammen, und diese Erfahrung
folgt der gleichen wirtschaftlichen Logik wie die britische industrielle
Revolution, die amerikanische industrielle Revolution und die japanische
industrielle Revolution. Wenn wir also heute versuchen, Entwicklungsländern
bei der Entwicklung ihrer Wirtschaft zu helfen, müssen wir daraus Lehren
ziehen, anstatt ihnen nur mit modernen Industrien zu helfen, weil ihre
Wirtschaft nicht in der Lage ist, sie zu erhalten. Der Markt wird nicht auf
diese Weise geschaffen, er kann nur nach und nach entstehen. Ich denke, das
ist im wesentlichen mein Punkt.
Wenn man sich die europäische Geschichte anschaut, haben die Regierungen
eine sehr wichtige Rolle bei der Schaffung eines Marktes gespielt,
insbesondere eines globalen Marktes. Ohne die Schaffung des Weltmarktes durch
die Kolonisierung, durch die großen Fahrten, hätte es die industrielle
Revolution nie gegeben.
Aber natürlich hat uns Chinas Erfahrung gezeigt, daß wir Märkte auch auf
friedliche Weise schaffen können, ohne den Kriegskapitalismus westlicher
Prägung zu wiederholen. Das ist eine der wichtigsten Lehren, die China anderen
Entwicklungsländern anbieten kann. Der Staat, die Regierung, auf zentraler und
lokaler Ebene, muß eine sehr wichtige Rolle spielen, um der eigenen Wirtschaft
zu helfen, einen Markt für die eigene Wirtschaft zu schaffen.
Ich denke, das ist das Ende meines Vortrags. Vielen Dank, daß Sie mir
zugehört haben.
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