Über die Dämonisierung der russischen Kultur
Von Tatjana Zdanoka
Tatjana Zdanoka ist Europaabgeordnete der Lettisch-Russischen
Union aus Lettland.
Wir pflegten zu sagen: „Bewahre mich davor, mein Gott, in einer Ära der
großen Veränderungen zu leben.“ Aber wir leben jetzt in einer Ära der großen
Veränderungen.
Die Managementmethoden, die darauf ausgerichtet sind, die Bevölkerung
Europas und der Welt nach den Werten des „homo oeconomicus“ - des
autarken rationalen Verbrauchers – zu vereinheitlichen, befinden sich in einer
Systemkrise. Der „Wirtschaftsmensch“ ist nicht einmal eine Abstraktion, er ist
eine Reduktion, eine flache Projektion eines von mehreren Maßstäben eines
jeden Menschen. Die Realität ist, daß alle Menschen – Westeuropäer,
Osteuropäer, Chinesen, Inder oder Russen – nicht auf die Summe ihrer
wirtschaftlichen Bedürfnisse und auf ihr Funktionieren als Konsumenten von
Gütern und Leistungen reduziert werden können.
Jeder Mensch existiert nur in den Wechselbeziehungen und den Beziehungen zu
anderen Menschen, und diese Kommunikationen sind nicht auf den für beide
Seiten vorteilhaften oder akzeptablen wirtschaftlichen Austausch reduzierbar.
Es handelt sich dabei um soziale und politische Kommunikationen – die
Zugehörigkeit zu einer Sprache, Kultur, nationalen oder subnationalen
Gemeinschaft oder zu einer Religionsgemeinschaft. Sowohl diese Kommunikationen
als auch die Interessen sind außerhalb der Gemeinschaft, außerhalb des
politischen Raums, nicht realisierbar.
Das folgende Phänomen ist offensichtlich: Mit dem Wachstum der Integration
steigt im Gegenteil das Bewußtsein für die Originalität. Es gibt die bekannte
mathematische Regel: Der Prozeß der Integration muß von einem Prozeß der
Differenzierung begleitet werden. Ich zitiere oft die Worte von Yehudi
Menuhin: „Entweder wird Europa zum Europa der Kulturen, oder Europa wird
untergehen.“
Der Titel meines Beitrags lautet „Über die Dämonisierung der russischen
Kultur“.
Man braucht nicht darüber zu diskutieren, daß die EU mit Russophobie
infiziert ist. Hier ist nur ein einziges Beispiel von Tausenden.
© Rasa Juknevičiené/Raphaël Gluksmann
Abb. 1: Rußland-Gegner im Europäischen Parlament verunglimpfen Puschkins
Dichtung als Ausdruck des „russischen Imperialismus“.
Auf dieser Folie (Abbildung 1) sehen Sie die Einladung zur
Diskussion „Pushing Pushkin: der Imperialismus und die Dekolonisierung der
russischen Kultur“, die von Rasa Juknevičiené, Mitglied des Europäischen
Parlaments aus Litauen, und Raphaël Gluksmann, MdEP aus Frankreich, gemeinsam
veranstaltet wurde.
Der Hauptgedanke, den die Organisatoren und Gäste dieser Diskussion
vertraten, ist, daß Rußland jedes Werk der Kultur als „Waffe der
Kolonisierung“ eingesetzt hat und weiterhin einsetzt.
Der brennende Haß in den baltischen Staaten, insbesondere in meinem Land,
Lettland, auf alles Russische ist irrational und wird durch einen
Minderwertigkeitskomplex der nationalen Eliten verursacht.
Im Moment steht die russische Minderheit in Lettland am Rande einer
Katastrophe unter den Schlägen der Entscheidungen der regierenden Politiker,
die ausschließlich die nationale Mehrheit vertreten. Seit dem letzten Frühjahr
hat sich die Situation erheblich verschlechtert. Der Krieg in der Ukraine
diente als Signal für eine neue Verfolgung der russischsprachigen Bevölkerung
Lettlands.
Vor vier Jahren hat mich meine Kollegin Inese Vaidere, ein Mitglied des
Europäischen Parlaments aus Lettland, beim Staatssicherheitsdienst angezeigt,
weil ich öffentlich gesagt hatte, daß sich die Russen in Lettland wie die
Juden am Vorabend des Zweiten Weltkriegs fühlten (mit den Worten, daß wir das
nicht vergleichen können, die Situation der Juden in Deutschland war
schlimmer). Jetzt twittert eine andere Kollegin, Sandra Kalniete, gelassen,
daß „wir das ,Fenster der Gelegenheit' nutzen sollten, das sich geöffnet hat,
um Fragen zu lösen, die für ,unser Volk‘ wichtig sind, vor allem die
Abschaffung des Unterrichts in russischer Sprache und den Abriß der Denkmäler
für die Befreier Lettlands von den Nazi-Invasoren.“
Ethnische Russen machen 25% der Bevölkerung Lettlands aus, die
russischsprachige Minderheit macht 37% der Bevölkerung des Landes aus. Dieser
Teil der Bevölkerung des Landes ist gemischter Herkunft – ein Teil sind die
Nachkommen der Bürger der Republik Lettland aus der Zeit von 1918-1940, ein
anderer Teil sind die Arbeitsmigranten der Sowjetära. Unter den Wählern des
Landes befinden sich etwa 25% russischsprachige Bürger, da 12% der
russischsprachigen Einwohner mit ständigem Wohnsitz in einem Status
verbleiben, der dem eines Staatenlosen nahe kommt, und nicht wählen können.
Der lettische Kollege sprach von einem „Fenster der Gelegenheit“ und meinte
damit: „Wir können jetzt unsere Ziele ohne große internationale Aufmerksamkeit
erreichen.“
Was sind das für Ziele? Es handelt sich um eine großangelegte Kampagne der
lettischen Behörden zur Entmenschlichung, Unterdrückung und Ausgrenzung der
russischsprachigen Bevölkerung des Landes. Die lettische Gesellschaft versinkt
in der Welle von Haßreden in den Mainstream-Medien und sozialen Netzwerken.
Kolumnisten und Kommentatoren vergleichen russischsprachige Landsleute ganz
offen mit „Tieren“, einer „fünften Kolonne“ und „aggressiven Besatzern“. Einer
der Abgeordneten der Regierungspartei im Nationalen Parlament (Saeima) rief
offen zu ethnischen Säuberungen auf, um den Anteil der ethnischen Letten an
der Bevölkerung des Landes zu erhöhen. Die Unterschriften werden auf einer
Petition für die Ausweisung „illoyaler Bürger“ aus dem Land und den Entzug
ihrer lettischen Staatsbürgerschaft gesammelt, sowie auf einer Petition für
ein Verbot meiner Partei, der Lettisch-Russischen Union, die sich für den
Schutz der Rechte der russischsprachigen Minderheit einsetzt.
Die Europäische Union verfügt nominell über ein Instrument zur Bekämpfung
dieser Art von Äußerungen. Es handelt sich um den Rahmenbeschluß 2008/913/JI
des Rates vom 28. November 2008 zur Bekämpfung bestimmter Formen und
Ausdrucksweisen von Rassismus. Dieses Dokument hat keine direkte Wirkung – es
verpflichtet die Staaten, die entsprechenden Handlungen in ihrer Gesetzgebung
unter Strafe zu stellen. Und das lettische Strafgesetzbuch enthält einen
Artikel, der die Aufstachelung zu nationalem, ethnischem und Rassenhaß unter
Strafe stellt. Der springende Punkt ist, daß dieser Artikel in meinem Land nur
selektiv angewendet wird.
Appelle an die Polizei und die staatlichen Sicherheitsorgane bezüglich der
Verwendung von Haßreden und Aufrufen zur Gewalt gegen russischsprachige
Einwohner Lettlands sind fruchtlos. Die Einleitung von Strafverfahren wird
immer wieder abgelehnt. Gleichzeitig wurde gegen mehrere Journalisten, die auf
Russisch schreiben, Anklage wegen angeblicher Aufstachelung zum Haß gegen die
Titularbevölkerung erhoben. Die prominentesten von ihnen sind Juri Aleksejew
und Wladimir Linderman.
Die Regierung hat ein Paket von Initiativen zur Zerstörung von
Gedenkstätten vorbereitet, die den Soldaten der sowjetischen Armee gewidmet
sind, die Lettland während des Zweiten Weltkriegs von der Nazi-Besatzung
befreit haben. Etwa 150.000 sowjetische Soldaten starben in den Kämpfen um die
Befreiung Lettlands. In fast jeder Familie russischsprachiger Letten und in
vielen lettischen Familien wird die Erinnerung an die Opfer des Krieges und an
die Vorfahren, die auf der Seite der Anti-Hitler-Koalition gekämpft haben,
bewahrt. Durch diese Initiative wird den Menschen die Möglichkeit genommen,
die Erinnerung an ihre Familien zu bewahren.
© Tatjana Zdanoka
Abb. 2: Die lettische Regierung läßt systematisch Denkmäler zur Erinnerung an die Befreiung des Landes vom Faschismus demontieren.
Abb. 3: Dieses Puschkin-Denkmal in Riga wurde im Rahmen der
russenfeindlichen Kampagne der lettischen Regierung abgerissen.
Dank der Bemühungen unserer Partei wurden Beschwerden beim
UN-Menschenrechtsausschuß eingereicht und eine vorläufige Regelung beantragt,
d.h. ein Verbot des Abrisses von acht Denkmälern, bis die Beschwerden
abgeschlossen sind. All diesen Anträgen wurde stattgegeben. Die Regierung
ignorierte jedoch die Entscheidung des UN-Menschenrechtsausschusses mit der
Begründung, daß sie nur beratenden Charakter habe.
Im vergangenen Sommer und Herbst wurden mehr als 70 Denkmäler für die
Befreier Lettlands von den deutschen faschistischen Besatzern abgerissen,
obwohl der UN-Menschenrechtsausschuß Lettland dazu verpflichtet hatte, den
Abriß zu unterlassen.
Ich war unter denjenigen, die sich an den Ausschuß wandten. Das Schicksal
wollte es so, daß das Grundstück, auf dem eines der Denkmäler stand, meinen
Vorfahren gehörte, die Opfer des Holocaust waren. Es ist das Alosha-Denkmal in
der Stadt Rezekne, der Hauptstadt von Latgale (Abbildung 2).
Neben dem Abriß der Denkmäler aus dem Zweiten Weltkrieg haben sich die
Behörden in letzter Zeit auch anderer Stätten angenommen. Auf diesem Bild
sehen Sie die Skulptur von Puschkin in einem der Parks in Riga, die kürzlich
abgerissen wurde (Abbildung 3).
Der Kampf gegen Denkmäler der Vergangenheit geht weiter mit Repressionen
gegen Menschen, die heute in Lettland leben.
Einige der älteren Menschen sind in Gefahr, illegal zu werden. Die neue,
rückwirkende Norm sieht vor, daß bei schlechten Kenntnissen der lettischen
Sprache die Daueraufenthaltsgenehmigung für diejenigen, die die russische
Staatsbürgerschaft erworben haben, aufgehoben wird. Aber die schwerwiegendsten
Folgen der Nutzung des „Fensters der Gelegenheit“ betreffen die junge
Generation. Die fortschreitende Zerstörung des Bildungswesens der Minderheiten
hat 1995 begonnen (Hochschulbildung) und wurde 2004 (Sekundarbildung) und 2018
(Grundschulbildung) fortgesetzt. Die jüngsten Änderungen der Bildungsgesetze
in der Republik Lettland sehen die vollständige Abschaffung des Unterrichts in
russischer Sprache vor. Dies wird sowohl für öffentliche als auch für private
Schulen gelten.
Ich möchte meinen Beitrag mit einem Ausschnitt aus dem Videoclip beenden,
den unser Team 2003 produziert hat, als die Massenproteste der
Russischsprachigen gegen die Bildungsreform begannen. Mit der freundlichen
Genehmigung von Roger Waters wurden die Fragmente des berühmten Pink
Floyd-Clips verwendet.
Die Schulbildung in den Muttersprachen der traditionellen ethnischen und
sprachlichen Minderheiten ist einer der wichtigsten Werte der EU. Die
russischsprachige Gemeinschaft in Lettland ist eine dieser traditionellen
sprachlichen Minderheiten in der Europäischen Union wie viele andere auch, und
ihre Rechte sollten respektiert werden.
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