„Wir müssen Druck auf die politischen Entscheidungsträger ausüben“
Ein Interview mit Dr. Izzeldin Abuelaish
Im Rahmen des zweiten Konferenzabschnitts wurde der folgende
Auszug aus einem Interview gezeigt, das der palästinensische Arzt und
Friedensaktivist Dr. Izzeldin Abuelaish, Autor des Buches „Ich werde nicht
hassen“, kürzlich Michelle Rasmussen vom dänischen Schiller-Institut gegeben
hat.
Frage: Welche Bedeutung haben die Idee des „Friedens durch
wirtschaftliche Entwicklung“ und der „Oasenplan“, eine Zukunftsvision der
Zusammenarbeit zwischen einem freien Palästina und Israel, für die
wirtschaftliche Entwicklung des gesamten Gebiets, und wie könnte dies ein
wichtiger Weg zum Frieden sein?
Dr. Abuelaish: Ja, Frieden ist ein dynamischer Zustand; er
ist nicht statisch. Frieden ist eine Beziehung zwischen und innerhalb von
Menschen, und diese Beziehung kann sozial, ökologisch, erzieherisch,
politisch, kulturell und gesellschaftlich sein. Wir brauchen die Mittel dafür.
Frieden ist mehr als das, was wir als Konflikt und Gewalt bezeichnen. Das, was
wir als „negativen Frieden“ bezeichnen, ist die Abwesenheit von Krieg und
Konflikt. Wir brauchen aber den menschlichen und positiven Frieden, der mit
vielen anderen Faktoren und Sektoren zusammenhängt und verbunden ist.
Ein negativer Frieden ist natürlich die Grundlage für friedliche
Beziehungen: ein negativer Frieden ohne Krieg und Konflikte, der zu Stabilität
und Nachhaltigkeit bei der Entwicklung anderer Beziehungen in den Bereichen
Bildung, Soziales und Umwelt führt, und ein Teil davon ist wirtschaftliche
Entwicklung. Wirtschaftliche Entwicklung ist sehr wichtig, aber man braucht
die Grundlage. Das Kernstück des Friedens ist die Abwesenheit von Krieg und
Konflikten, die zu wirtschaftlicher Entwicklung und sozialen Beziehungen
zwischen den Menschen führt, auf der Grundlage von Gleichheit, Gerechtigkeit,
Freiheit, Respekt, Mitgefühl und Würde aller. Daran müssen wir in einem
umfassenden, ganzheitlichen Ansatz arbeiten, nicht in einer fragmentierten
Weise. Denn es gibt eine Wechselwirkung zwischen diesen Bereichen: Wirtschaft,
Soziales, Politik und Umwelt.
Man sieht es an den Verhältnissen. Was ist zu tun? Leben wir im Frieden mit
unserer Umwelt oder nicht? Wir fügen unserer Umwelt Schaden zu, man sieht das
an den Umweltveränderungen, dem Klimawandel und dem, was in unserer Welt mit
der Erde, auf der wir leben, geschieht. Wir müssen also lernen, daß Frieden
eine Beziehung ist, die auf Zusammenarbeit, Partnerschaft und gemeinsamen
Interessen beruht, die zu Stabilität und Nachhaltigkeit führen. Und es ist
sehr wichtig, daß dieser Frieden dynamisch ist und sich den Bedürfnissen und
Aktualisierungen anpaßt, denn das Leben ist nicht statisch, es verändert sich.
Also brauchen wir diesen Frieden, um daran zu arbeiten.
Ich sage dazu, daß Frieden eine Reise ist, und auf dieser Reise müssen wir
flexibel sein, um mit der Reise, mit den Bedürfnissen Schritt zu halten. Denn
Frieden, Gesundheit, Demokratie, Freiheit, Entwicklung, Gleichheit,
Gerechtigkeit, Leben und Bildung – alles hängt davon ab, wer du bist und wo du
bist. Ob du ein Mann bist, ob du eine Frau bist, ob du ein Kind bist, ob du
alt bist, ob du Palästinenser bist, ob du ein Däne bist. Wir müssen also etwas
Gemeinsames zwischen den Menschen schaffen, damit sie daran glauben, ihre
Bedürfnisse befriedigen und nach ihren Bedürfnissen handeln.
Daher glaube ich, daß wirtschaftliche Entwicklung von entscheidender
Bedeutung ist, sobald wir den negativen Frieden, das Ende von Krieg und
Konflikten erreicht haben und damit beginnen können, die Lücke in der
Gleichberechtigung zu schließen und Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit und
Würde zu erreichen. Und natürlich, was am wichtigsten ist, Respekt für
alle.
Frage: Was müssen die Palästinenser und die Israelis, aber
auch die internationale Gemeinschaft tun, um angesichts des Völkermords in
Gaza diesen Frieden zu schaffen?
Abuelaish: Der erste Schritt, die Priorität ist, daß wir
diesen anhaltenden Völkermord beenden müssen. Wir müssen das Blutvergießen
beenden, um einen sofortigen, dauerhaften Waffenstillstand und ein Ende des
Krieges zu erreichen. Zweitens müssen wir ernsthafte Verhandlungen aufnehmen,
um zu sagen: „Das ist das letzte Mal, daß es Blutvergießen und Krieg
gibt.“
Wir müssen dem, wie gesagt, ein Ende setzen, auf der Grundlage der
internationalen Resolutionen. Denn ich frage: Wo stehen wir bei den
Menschenrechtskonventionen? Wo stehen wir bei der Genfer Konvention? Wo stehen
wir mit den Resolutionen der Vereinten Nationen? Wir wollen die Hoffnung in
diese Institutionen wiederbeleben, denn die Welt hat ihr Vertrauen verloren –
die Öffentlichkeit, die Menschen haben ihr Vertrauen in diese Institutionen
verloren. Wir müssen den internationalen Resolutionen und den internationalen
Institutionen wieder eine Aufgabe zuweisen. Wir leben in einer zerrissenen
Welt, die größtenteils von politischen Agenden bestimmt ist, um der
politischen Agenda der politischen Führer zu dienen, die dort sitzen, um zu
kontrollieren, um zu dominieren. Sie sind völlig losgelöst von den
Bedürfnissen der Öffentlichkeit.
Wir brauchen also erstens ein Ende dieses Völkermords und zweitens
ernsthafte Verhandlungen auf der Grundlage internationaler Resolutionen, um
die Besatzung und die Ungerechtigkeit zu beenden und vor allem, um zur
Rechenschaft zu ziehen, denn wir brauchen Rechenschaft in unserer Welt. Wenn
wir von Gewalt sprechen, dann ist jeder, der die Würde, die Rechte, die
Freiheit und natürlich das Leben eines Menschen verletzt, ein Gewalttäter. Wir
müssen also zur Rechenschaft ziehen und parallel dazu mit der wirtschaftlichen
Entwicklung beginnen, die mit der Stabilität und Nachhaltigkeit im Einklang
stehen sollte. Glauben Sie mir, das wird bei den Menschen die Hoffnung wecken,
daß sich ihr Leben ändert. Das ist der Schlüssel zum Erfolg einer
wirtschaftlichen Entwicklung, auf der Grundlage der Beendigung der Gewalt und
des Konflikts, der Besatzung und der Ungerechtigkeit.
Frage: Sie haben ein Buch geschrieben, Ich werde nicht
hassen, nach einer schrecklichen Tragödie in Ihrer eigenen Familie, bei
der Ihre drei Töchter und Ihre Nichte im letzten Hamas-Israel-Krieg 2009 von
einem israelischen Panzer getötet wurden. Was ist Ihre Botschaft an die
Menschen, um diesen Kreislauf der Gewalt zu beenden und nicht mehr zu
hassen?
Abuelaish: Meine Botschaft an die Menschen ist, sich bewußt
zu machen, daß das, was im Gazastreifen und in den palästinensischen Gebieten
geschieht, ein Völkermord ist, wie Sie ihn beschrieben haben. Es ist ein
Massenschlachten, Massenmord, Massenvertreibung, Massenvernichtung.
All diese Grausamkeiten, denen die Palästinenser unter den Augen der
Weltgemeinschaft ausgesetzt sind, werden offengelegt, und das täglich. Das tun
bekannte, angesehene Journalisten. Viele Journalisten, mehr als hundert wurden
getötet. Und Kinder wurden getötet, Eltern, sie haben ihre Familien verloren,
es gibt 17.000 Waisen. Mehr als 34.000 unschuldige Palästinenser sind getötet
worden. Die meisten von ihnen sind Kinder, etwa 14.000, und etwa 10.000
Frauen. Warum tun sie das, wenn Frauen die Zukunft sind und ihre Kinder ihre
Zukunft und ihr Leben sind? Sie töten das Leben. Ich bezeichne das als
Zukunftsmord, als Tötung der Zukunft. Wir müssen das stoppen.
Deshalb appelliere ich an die Welt, sich einzumischen, aktiv zu werden und
nicht einfach nur zuzusehen, was passiert. Es hat Auswirkungen auf uns alle,
wenn wir zusehen, was passiert. Es ist schmerzhaft, es ist eine schreckliche
Situation, entsetzlich und herzzerreißend. Erst gestern haben Palästinenser
und Muslime das Zuckerfest gefeiert. Viele Palästinenser haben sich alte
Videos angesehen. Sie sagten: „Wie kann man da essen? Alle, die wir geliebt
haben, die wir auf den Videos sehen, mein Bruder, meine Schwester, meine
Familien, sie sind alle weg.“ Neulich, Sie werden es kaum glauben, ging mein
Bruder zu den Gräbern meiner Töchter, von denen Sie sprachen. Sogar die Gräber
meiner Töchter wurden zerstört; die Steine wurden heruntergerissen. Es gibt
nicht einmal Gnade für die Toten.
Was können wir also tun? Ich appelliere an die internationale Gemeinschaft,
die von den Geschehnissen betroffen ist – denn die Geschehnisse in Palästina
sind grenzüberschreitend, und die Welt ist jetzt zwischen der politischen
Führung und der Öffentlichkeit gespalten. Aber die Öffentlichkeit steht auf,
und ich bin sicher, eines Tages wird die Öffentlichkeit sagen: „Es ist an der
Zeit, human zu werden, auszugleichen, zu stabilisieren und zu handeln.“
Und wir müssen Druck auf die politischen Entscheidungsträger ausüben, die
voreingenommen, mitschuldig und gleichgültig sind oder sogar selektiv handeln,
um ihre eigene Agenda zu verfolgen. Es ist an der Zeit, ihnen Einhalt zu
gebieten und sie für ihre Taten zur Rechenschaft zu ziehen und aus ihren
Ämtern zu vertreiben. Das wird die Garantie dafür sein, daß die Zukunft die
Zukunft des Volkes ist und nicht die Zukunft der politischen Führer.
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