Der Oasenplan, ein Beitrag zur
wirtschaftlichen Stabilität Südwestasiens
Von Ilja Andrejew
Ilja Andrejew ist Erster Sekretär und Experte für humanitäre
Angelegenheiten an der Mission der Russischen Föderation bei den Vereinten
Nationen. Im zweiten Abschnitt der Konferenz zum Oasenplan am 13. April sagte
er folgendes. (Übersetzung aus dem Englischen.)
Guten Tag, verehrte Kollegen. Zunächst möchte ich mich bei den
Veranstaltern der heutigen Konferenz für die Gelegenheit bedanken, unsere
Ansichten zur Lage im Gazastreifen und allgemein zu den
Entwicklungsperspektiven der Region Südwestasien darzulegen.
Leider sind wir Zeugen einer katastrophalen humanitären Situation im
Gazastreifen, wo die rücksichtslose Militäroperation Israels entgegen der
Resolution 2728 des UN-Sicherheitsrates, die einen sofortigen Waffenstillstand
fordert, weitergeht. Zwei zuvor angenommene Resolutionen des
UN-Sicherheitsrats zur Frage des Zugangs für humanitäre Hilfe sind ebenfalls
„nicht wirksam“. Israel schafft weiterhin Hindernisse für die humanitären
Helfer vor Ort, denen angemessene und sichere Bedingungen vorenthalten werden.
Der Beschuß geht weiter und tötet Zivilisten, medizinisches und humanitäres
Personal sowie Freiwillige, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, den
Bedürftigen in dieser schwierigen Situation zu helfen.
Eines der jüngsten Beispiele ist der Angriff auf die Organisation World
Central Kitchen. Leider handelt es sich dabei nicht um einen Einzelfall.
Dieser spezielle Fall wurde in der Öffentlichkeit breitgetreten, weil Bürger
aus westlichen Ländern getötet wurden.
Unter den derzeitigen Umständen ist es natürlich wichtig und notwendig,
über den Wiederaufbau Palästinas zu sprechen und das Entwicklungsparadigma der
gesamten Region zu ändern, auch wenn das im Moment nicht die wichtigste
Aufgabe ist. Die Hauptsache ist heute ein dringend nötiger, echter
Waffenstillstand. Nur so kann die Apokalypse verhindert werden, nach der es
vielleicht nichts mehr wiederaufzubauen gibt. Man muß bedenken, daß der
„palästinensische Kollaps“ unweigerlich die gesamte Region erfassen wird, wenn
es den Parteien nicht gelingt, in naher Zukunft ein Friedensabkommen zu
schließen.
Verehrte Teilnehmerinnen und Teilnehmer, am Vorabend der Konferenz haben
die Veranstalter einen Ausschnitt aus einem Interview mit der Gründerin des
internationalen Schiller-Instituts, Frau Helga Zepp-LaRouche, als „Denkanstoß“
veröffentlicht. Wir unterstützen die Hauptbotschaft in Bezug auf die Umsetzung
des großangelegten Oasenplans zur Versorgung der Region mit Wasser, auch für
die Bewässerung. Gerade ein solches großes internationales
Infrastrukturprojekt könnte als Anreiz für die Wirtschaft Palästinas, Syriens,
Jemens und anderer Länder dienen. Sein Start hätte mit Sicherheit positive
Auswirkungen auf die Schaffung von Arbeitsplätzen für junge Menschen, auch
qualifizierte, auf die Schaffung von Voraussetzungen für die Rückkehr von
Flüchtlingen und auf die wirtschaftliche Stabilität der gesamten Region. Das
ist sicherlich eine sehr attraktive Idee.
Natürlich hängt ihre Umsetzung nicht nur vom politischen Willen der
Staaten, sondern auch von erheblichen Investitionen ab. Verschiedenen
Expertenschätzungen zufolge hat Israel bereits mehr als 100 Milliarden Dollar
für den Krieg in Gaza ausgegeben, und dabei ist die humanitäre Hilfe, die die
internationale Gemeinschaft in die Region schickt oder zu schicken versucht,
um die Folgen zu bewältigen, noch gar nicht mitgerechnet. Ich lasse die
Argumente zu dem Preis an Menschenleben außen vor - er läßt sich überhaupt
nicht bemessen.
Stellen Sie sich einfach vor, diese Mittel könnten für friedliche Zwecke
verwendet werden, was theoretisch auch im Interesse Israels sein müßte.
Vielleicht hätten diese Mittel nicht ausgereicht, um ein solches Großprojekt,
von dem Frau Zepp-LaRouche erzählt hat, zu realisieren, aber die Grundlage
dafür wäre auf jeden Fall geschaffen worden. Wir könnten den
Multiplikatoreffekt in der Wirtschaft bereits sehen, und Wachstumsanreize
würden definitiv auftreten.
Es gibt auch Schätzungen der Weltbank und des Entwicklungsprogramms der
Vereinten Nationen, daß der Wiederaufbau des Gazastreifens nach dem heutigen
Stand rund 18 Milliarden Dollar erfordern wird. Auch die UNCTAD arbeitet an
solchen Berechnungen. Aber inzwischen sind auch die Grundwasserleiter im
Gazastreifen beschädigt. Daher ist es zum jetzigen Zeitpunkt schwierig zu
berechnen, wieviel Zeit und Geld es braucht, um eine so komplexe
Umweltsituation im Gazastreifen zu verbessern.
Wir sind nach wie vor der Ansicht, daß die wirtschaftliche Entwicklung von
Staaten auf der Grundlage eines offenen Handels die entscheidende Basis für
Stabilität ist. Der Kampf gegen die Armut, von dem im UN-System so oft die
Rede ist, beruht ebenfalls auf dem Prinzip der wirtschaftlichen Entwicklung.
Es ist unmöglich, den Hunger zu beseitigen, wenn man nur verzehrfertige
Lebensmittel anbietet; man muß den Bedürftigen die sprichwörtliche Angelrute
geben. Die Staaten sollten Infrastrukturprojekten, auch internationalen, mehr
Aufmerksamkeit schenken. Eine solche Zusammenarbeit, die auf den Grundsätzen
der gegenseitigen Achtung beruht, schafft in der Tat die starken industriellen
Bindungen und Gemeinsamkeiten, die es den Völkern ermöglichen, in Frieden und
Harmonie zu leben.
Sehr geehrte Damen und Herren, leider ist heute nicht der beste Zeitpunkt,
um über die langfristigen Aussichten für eine israelisch-palästinensische
Lösung zu sprechen. Wie ich bereits sagte, besteht die Hauptaufgabe im Moment
darin, dafür zu sorgen, daß die „eisernen Schwerter“ so schnell wie möglich
wieder in die Scheide gesteckt werden. Das hält uns natürlich nicht davon ab,
über neue Ansätze für die langfristige Lösung eines der komplexesten und
verwirrendsten Konflikte unserer Zeit nachzudenken.
Wir sind froh, daß solche Arbeiten, auch unter der Schirmherrschaft des
Schiller-Instituts, im Gange sind, und wir sind zuversichtlich, daß sie nach
dem Beginn der bisher verzögerten, aber dennoch unvermeidlichen grundlegenden
Veränderungen, die sowohl die palästinensische als auch die israelische
Gesellschaft zunehmend verändern werden, gefragt sein werden.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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