„Man kann keinen Frieden haben,
wenn es Indikatoren für strukturelle Gewalt gibt“
Von Prof. Henry Baldelomar
Henry Baldelomar ist Geschäftsträger an der bolivianischen
Botschaft in Washington. Bei der Konferenz des Schiller-Instituts am 15. Juni
sprach er in seiner Eigenschaft als Professor für internationale
Angelegenheiten an der Nur-Universität in Santa Cruz, Bolivien. (Übersetzung
aus dem Spanischen, Zwischenüberschriften wurden hinzugefügt.)
Guten Morgen, es ist mir eine Freude, hier bei Ihnen auf dieser Konferenz
des Schiller-Instituts zu sein.
Zweifellos sind diese Gefühle der Besorgnis, die die gesamte internationale
Gemeinschaft aufgrund der Geschehnisse verdunkeln, auch das Ergebnis eines
langen Prozesses, wie das internationale System gestaltet wurde. Erinnern wir
uns daran, daß das internationale System seit 1991 einen sehr komplizierten
Prozeß durchlaufen hat, vielleicht den längsten, um eine neue internationale
Ordnung zu schaffen, der sich fast der gesamte globale Süden angeschlossen
hat, um das Blatt zu wenden, das bis zu einem gewissen Grad ein
Verhaltensmuster der Beziehungen zwischen Nord und Süd war. Es ist in der Tat
so, daß wir einige mit dem Kolonialismus verbundene Schemata und Architekturen
der Macht hinter uns gelassen haben.
Nichtsdestotrotz war die gesamte Periode, insbesondere seit 1945 bis 1991
oder vielleicht etwas später, durch eine systematische Betonung der
Abhängigkeit in all ihren Verästelungen gekennzeichnet. Eine enorme
Abhängigkeit in wirtschaftlicher und technologischer Hinsicht, eine
Abhängigkeit im Handel, denn unsere Handelsbilanz zwischen dem Süden und dem
Norden ist für den Süden äußerst ungünstig.
Auch im Hinblick auf die für die öffentliche Gesundheit erforderlichen
Technologien hat die COVID-Pandemie die ,franziskanischen‘ Verhältnisse
aufgedeckt, bei denen ein großer Teil der Gesundheitsbedingungen nicht nur im
Süden, sondern auch in den Ländern des Nordens zu finden ist. Die Länder des
Südens haben jedoch enorme Anstrengungen unternehmen müssen, um die Folgen der
COVID-Pandemie zu überwinden.
Zweifellos stehen wir an einem Scheideweg, wenn es darum geht, eine neue
Wirtschaftsordnung zu konsolidieren. Bolivien hat sich die Notwendigkeit zu
eigen gemacht, dieses Streben nach einer multipolaren Ordnung zu
konkretisieren, denn diese neue Konfiguration wird es dem globalen Süden
ermöglichen, ein höheres Entwicklungsniveau zu erreichen.
Wenn wir über diese Entwicklungsniveaus sprechen, meinen wir natürlich
nicht die 1960er und 70er Jahre, die Idee, die zum Beispiel die ECLAC
[Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika und die
Karibik] propagiert hatte. Das ist das ECLAC-Modell der Entwicklung, das bis
zu einem gewissen Grad ein sehr begrenzter Ansatz war. In der Tat ist es viel
zu klein für die Herausforderungen, denen sich der Süden gegenübersieht, um
wirklich Entwicklung betreiben zu können. Denn wenn wir von Entwicklung
sprechen, muß diese zweifellos in die Beseitigung aller Indikatoren für
strukturelle Gewalt umgesetzt werden.
Eine Region des Friedens?
Lateinamerika ist eine Region, die sich dadurch auszeichnet, daß sie eine
Region des Friedens ist, und wenn wir uns die anderen Kontinente ansehen,
vielleicht abgesehen von Ozeanien, dann ist die Zahl der bewaffneten Konflikte
in unserer Region deutlich geringer als in anderen Kontinenten. Auf die eine
oder andere Weise bedeutet dieses Attribut, daß es uns ein gewisses Prestige
verleiht, man könnte sagen, eine Region des Friedens zu sein.
Dies wird jedoch durch die schwerwiegenden strukturellen Indikatoren in den
Hintergrund gedrängt oder zumindest verdunkelt, die Schwierigkeiten enormer
sozialer Sektoren, grundlegende Dienstleistungen - wie Abwassersysteme, wie
das Bildungssystem, das in vielen Ländern Lateinamerikas mit großen
Schwierigkeiten zu kämpfen hat - zu gewährleisten. Die Technologie ist nahezu
veraltet. Auch im Gesundheitswesen gibt es Probleme, und Armut und Elend sind
die schlimmsten Anzeichen für soziale Gewalt.
Vielleicht sollten wir auch über die Idee sprechen, daß Lateinamerika eine
Region des Friedens ist, denn man kann keinen Frieden haben, wenn es
Indikatoren für strukturelle Gewalt gibt. Man kann keinen Frieden haben, wenn
es weite Gebiete gibt, die nicht einmal die Möglichkeit haben, die minimalen
Bedürfnisse zu befriedigen, wie z.B. die Möglichkeit, Lebensmittel nach Hause
zu bringen. Sie können nicht von Frieden sprechen, wenn es in einer Region
Diskriminierung gibt. Sie können nicht von Frieden sprechen, wenn die
Unsicherheit für die Bürger in einigen Städten zunimmt. Man kann nicht von
Frieden sprechen, wenn die internationalen kriminellen Organisationen, wie der
Menschen- und Drogenhandel und in etwas geringerem Maße auch der Waffenhandel,
die Zivilgesellschaft in den lateinamerikanischen Ländern treffen.
Dennoch haben wir vielleicht trotz dieses schwierigen Bildes, das wir im
ersten Panel gehört haben, jenseits der wirtschaftlichen und sozialen
Indikatoren, die wir in Südamerika sehen, die Möglichkeit, das Blatt zu wenden
und die Chance auf Entwicklung zu haben.
Umfassende Entwicklung statt bloßer Gewinnung von Rohstoffen
In Südamerika und insbesondere in Bolivien, einem Land, das in seiner
Geschichte seit der Kolonialzeit bis vor kurzem ein Exporteur von Rohstoffen
war, war Bolivien so gut wie ein Monoproduzent von Rohstoffen. In der
Vergangenheit war es Silber, dann Zinn, und in den letzten Jahren Erdgas; in
den letzten Jahren ist Bolivien zu einem großen Exporteur von Erdgas geworden;
die wichtigsten Märkte waren Argentinien und Brasilien.
Wenn wir über Entwicklung sprechen, wollen wir jedoch nicht einfach
dasselbe Schema der Gewinnung von Ressourcen reproduzieren, die wichtig waren,
um die Lebensbedingungen bis zu einem gewissen Grad verbessern zu können.
Natürlich ist das natürlich nicht der effektivste und effizienteste Weg, um
die enormen Mengen an natürlichen Ressourcen, die Bolivien besitzt, zu
nutzen.
Unsere Absicht ist es daher, daß die BRICS, denen Bolivien beitreten
möchte, nicht nur eine neue Machtstruktur auf internationaler Ebene werden, so
daß wir im Süden gegenüber dem Norden nicht mehr untergeordnet sind, sobald es
uns gelingt, die BRICS aufzubauen und zu stärken. Wir werden in der Lage sein,
internationale Beziehungen im Rahmen der Grundsätze der Gleichheit und
Solidarität zu unterhalten, so daß alle Völker der Welt ein bestimmtes
Entwicklungsniveau erreichen können.
Unser Ziel, die BRICS, muß auch in die Schaffung einer neuen
internationalen Wirtschaftsordnung umgesetzt werden. Traditionell sind die
Institutionen, die aus Bretton Woods hervorgegangen sind - insbesondere der
IWF und die Weltbank - fast ausschließlich als Garanten nicht für die
Entwicklung der Länder des Südens, sondern für die wirtschaftlichen Interessen
der größten Mächte tätig, insbesondere derjenigen, die bis zu einem gewissen
Grad die meisten Anteile an diesen beiden wichtigen Institutionen besitzen.
Diese etwas asymmetrische Beziehung, die man an der Zusammensetzung und den
Entscheidungsgremien dieser Organisationen erkennen kann, war für die Länder
Lateinamerikas und insbesondere für die Länder des Globalen Südens schon immer
ein Hindernis oder eine Schwierigkeit, wenn es darum ging, ein erfolgreicheres
Niveau und die gesamte Entwicklung zu erreichen, die sie benötigen.
Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, haben damit zu tun, daß wir
ein höheres Maß an Integration in unseren Ländern in Südamerika erreichen
müssen. Wir haben eine Reihe von Integrationserfahrungen gemacht, mit der
Gemeinschaft der Andenstaaten, MERCOSUR, ALBA [Bolivarische Allianz für die
Völker unseres Amerikas] und anderen derartigen Gremien. Einige der
Einschränkungen, die diese Integrationsprozesse mit sich bringen, haben mit
den Schwächen der Autobahnen und anderer Infrastrukturen zu tun.
Um eine effiziente Integration der Infrastrukturen zu erreichen, brauchen
wir ein ganzes System zur Integration der Autobahnen, das alle verschiedenen
Verkehrsträger nutzt. Ich spreche nicht nur von Autobahnen, sondern auch von
Eisenbahnen und Wasserwegen. Sie alle müssen entwickelt und integriert werden,
um unsere physische Integration zu verbessern und den Ländern Südamerikas,
insbesondere Bolivien, das - aufgrund eines 1879 ausgelösten Krieges - ein
Binnenland ist und daher leider nur unter Schwierigkeiten Zugang zu bestimmten
Häfen hat, die Anbindung an den internationalen Markt zu ermöglichen. Tatsache
ist, daß die BRICS für Bolivien nicht nur eine Art Schema der
Machtverhältnisse sind, sondern auch eine Chance, damit die Ressourcen fließen
können, die notwendig sind, um dieses Niveau der umfassenden Entwicklung zu
erreichen. Und daß wir das asymmetrische Verhältnis ändern, das im
internationalen Handel und in der Entwicklung besteht.
Schwächung des internationalen Rechts
Ich möchte bei dieser Gelegenheit auch kurz auf Situationen eingehen, die
mit der Schwächung des internationalen Rechts zusammenhängen. In den letzten
40 Jahren waren wir Zeugen von drei Entwicklungen, die uns veranlassen
sollten, sehr gründlich über die Rolle des internationalen Rechts
nachzudenken, um das zu verhindern, was jetzt in Gaza geschieht. In den
letzten Jahren gab es drei solcher Fälle, die uns zu einem gewissen Maß an
Scham für das internationale System veranlassen sollten: Was in Ruanda
geschah; was im Kosovo geschah; und jetzt, was in Gaza geschieht.
Im Rahmen dieser Bestrebungen nicht nur des Globalen Südens, sondern der
gesamten internationalen Gemeinschaft, der Menschheit als Ganzes, war es
wichtig, auch kreativere und effizientere Wege zu entwickeln, um zu
gewährleisten, daß es nie wieder zu einer solchen Entwicklung kommt, wie wir
sie jetzt in Gaza erleben. Zweifellos wirft es einen Schatten auf die Würde
des Menschen, wenn diese Art von Greueltaten an Völkern verübt werden.
Zweifellos handelt es sich um eine Art Ethnizid, eine Art Verbrechen, das in
Gaza im Gange ist.
Bolivien hofft, daß wir in dem Maße, in dem die BRICS mächtig werden und
die Zahl der Staaten wächst, nach und nach auch die Herausforderung annehmen
werden, der internationalen Gemeinschaft eine Sichtweise des Völkerrechts zu
vermitteln, die nicht von der Anwendung von Gewalt abhängt, so daß es nie
wieder zu Situationen wie den drei von mir genannten kommen wird. Diese liegen
nicht lange zurück, sie stammen aus dem Ende des letzten Jahrhunderts und die
jüngste Situation in Gaza aus dem Anfang dieses Jahrhunderts.
Ressourcen als Sprungbrett der Entwicklung
Abschließend möchte ich betonen, daß Bolivien nicht nur über wichtige
natürliche Ressourcen verfügt, sondern daß wir glauben, daß diese in eine Art
Trampolin für die Industrialisierung dieser Ressourcen umgewandelt werden
sollten. Wir glauben, daß insbesondere Südamerika eine enorme Chance bietet,
die Länder, die über große Lithiumvorkommen verfügen - das berühmte
Lithiumdreieck von Chile, Argentinien und Bolivien in Südamerika. Wir hoffen,
daß die Reife vorhanden ist, um langfristig und mit dem Ziel zu denken, in
Südamerika eine Region zu bilden, die nicht nur die natürliche Ressource
Lithium bereitstellen kann und natürlich dazu beiträgt, den Verbrauch an
fossilen Brennstoffen zu reduzieren, um effizienter zu sein, damit sich der
Klimawandel nicht verschlimmert.
Aber es wäre auch sehr wichtig, daß wir in der Lage sind, unseren Willen in
jedem dieser drei Staaten zu vereinen, um diese Ressource zu einer Ressource
zu machen, die der Menschheit dient und nicht einfach ein weiterer Fall wird,
wie es in der Vergangenheit der Fall war, wo natürliche Ressourcen ausgebeutet
wurden und die Völker, die sie besitzen, einfach leer ausgingen und zusahen,
wie diese Ressourcen in den Norden transferiert wurden. Die Mineralien der
Seltenen Erden sind ein weiteres Beispiel für die Möglichkeiten, die sich
Südamerika bieten, einen Beitrag zu leisten. Aber das muß auch in das Streben
nach vollständiger Entwicklung übersetzt werden, die diese wirtschaftlichen
Indikatoren, die in Wirklichkeit strukturelle Gewalt sind, verringern wird.
Das war's fürs Erste, und ich möchte Ihnen für diese Gelegenheit herzlich
danken.
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