„Die ,Wunderwaffen‘ des Westens waren nicht in der Lage, das Blatt zu wenden“
Von Oberstleutnant a.D. Ralph Bosshard
Ralph Bosshard ist Oberstleutnant a.D. der Schweizer Armee und
Berater für militärische und strategische Angelegenheiten. Im ersten Abschnitt
der Internetkonferenz des Schiller-Instituts am 15. Juni sagte er folgendes.
(Übersetzung aus dem Englischen.)
Ein herzliches Willkommen an alle und einen guten Tag aus der Schweiz.
Insgesamt befinden wir uns derzeit in einer globalen Pattsituation, in der
alle voneinander abhängig sind und niemand in der Lage ist, einseitig zu
handeln. Im Moment kann Rußland die USA nicht zu ernsthaften Gesprächen über
die Ukraine oder andere Themen bewegen. Die USA können die Situation im Nahen
Osten nicht ohne Rußland und den Iran lösen. Rußland kann den Krieg nicht ohne
China und die BRICS-Plus-Staatengruppe weiterführen. Die USA können China
nicht drohen, um es dazu zu bringen, seine Politik gegenüber Moskau und/oder
den BRICS-Ländern zum Nachteil Moskaus zu ändern. Und die Ukraine kann kein
anderes Land dazu bringen, sich im Krieg gegen Rußland auf ihre Seite zu
stellen.
Es ist absehbar, daß eine grundlegende Änderung der Situation auf der
sogenannten Friedenskonferenz in der Schweiz an diesem Wochenende
unwahrscheinlich ist. Angesichts des drohenden Desinteresses der USA an einer
weiteren Beteiligung am Krieg und der militärischen Mißerfolge der Ukraine
bleibt nur die Frage, wer als eine Art „letzter Mohikaner“ in der Ukraine
weiterkämpfen will.
Seit dem Rückzug der Ukrainer aus Awdijiwka bröckelt die Front im Donbaß.
Es ist nicht so wichtig, daß die Russen jeden Tag ein oder zwei Soldaten
gefangennehmen, die ohnehin völlig am Boden zerstört sind, sondern daß sie die
Frontlinien durchbrochen haben, durch sehr gut befestigte Verteidigungslinien,
die die Ukrainer im Laufe von acht Jahren aufgebaut haben. Derzeit ist zu
beobachten, daß die Russen an weit voneinander entfernten Punkten der Front
kleinere Angriffe durchführen und daß sie ihre Angriffe vor allem auf
benachbarte Regionen wie das Gebiet Charkow und vor einigen Tagen auf Sumy
ausgeweitet haben. Sie sind zahlenmäßig eindeutig überlegen und können ihre
Truppen nach Belieben bewegen. Sie zwingen die Ukrainer zu wahrscheinlich
kostspieligen Gegenangriffen. Die Russen gehen langsam und vorsichtig vor, das
ist sicher. Und sie mußten bisher kaum jemals Gebiete aufgeben, die sie in den
letzten Wochen oder Monaten erobert hatten – zumindest seit dem letzten
Herbst.
Inzwischen haben die Ukrainer fast alle Gebietsgewinne wieder verloren, die
sie während der Sommeroffensive im vergangenen Jahr erzielt hatten. In den
letzten zwei Jahren hat der Westen also erlebt, wie all seine „Wunderwaffen“,
wie sie sie früher genannt haben, zwar auf russischer Seite Schaden
angerichtet haben, aber nicht in der Lage waren, das Blatt zu wenden.
Realistisch betrachtet, muß sich der Westen meiner Meinung nach darauf
einstellen, daß die von den USA gelieferten ATACMS-Raketen und
F-16-Kampfflugzeuge auch nicht das Blatt wenden werden.
Massive Angriffe weit im Inneren Rußlands
Der Krieg befindet sich nun in einer Phase, in der die Niederlage der
Ukraine nur durch massive Angriffe auf strategische Ziele weit im Inneren
Rußlands abgewendet werden kann. Darüber hinaus ist in der ukrainischen
Bevölkerung die große Angst zu spüren, daß die Vereinigten Staaten die Ukraine
im Stich lassen könnten. Diese Angst könnte Kiew dazu motivieren, sich als
nützlicher Partner der Vereinigten Staaten zu präsentieren, und zwar in einem
allgemeinen und möglicherweise bevorstehenden Atomkrieg gegen Rußland. Es gibt
einen Abschnitt entlang der gesamten Frontlinie in der Ostukraine, wo die
aktuelle Frontlinie noch der sogenannten Kontaktlinie der Jahre 2015-22
entspricht, und das ist das Gebiet von Gorlowka – oder Horliwka, wenn Sie so
wollen – und Donezk. Hier werden die Russen nicht nachlassen, bis die Städte
im Donbaß außerhalb der Reichweite der ukrainischen Artillerie und Raketen
liegen. Das Gleiche gilt übrigens für Belgorod. Rußland wird in Verhandlungen
– sollte es solche geben – wahrscheinlich eine Pufferzone fordern, und je mehr
Abstandswaffen der Westen der Ukraine liefert, desto breiter und tiefer wird
diese Pufferzone sein. Die Erlaubnis, westliche Abstandswaffen einzusetzen,
die vor kurzem erteilt wurde, natürlich gegen russisches Territorium, könnte
sich in zukünftigen Verhandlungen als Bumerang erweisen.
Wenn Sie mit den Russen sprechen – und ich spreche natürlich auch
regelmäßig mit meinen ehemaligen Kameraden an der Generalstabsakademie –
werden Sie feststellen, daß die Menschen glauben, daß sie nicht so sehr mit
der Ukraine im Krieg stehen, sondern mit der NATO und dem Westen insgesamt,
der ihrer Meinung nach versucht, Rußland zu zerstören. Dementsprechend ist die
Entschlossenheit, Widerstand zu leisten, hoch, aber der Schwerpunkt der
Konfrontation könnte sich vom Donbaß und der Ukraine im Allgemeinen auf andere
Weltregionen verlagern. Rußland wird versuchen zu zeigen, daß es sich
verteidigen kann. Und die Politik des Westens erscheint kein Anlaß für Alarm
mehr zu sein, nicht im Kreml, nicht in Rußland im Allgemeinen. Das liegt
daran, daß die ukrainische Armee, die von NATO-Offizieren ausgerüstet,
ausgebildet, unterstützt und möglicherweise sogar geführt wird, in den letzten
Monaten nicht erfolgreich genug war.
Die russischen Schiffe vor der Küste Kubas sind eine Demonstration, daß die
Anstifter von Angriffen auf russisches Territorium auch ihren Teil des
Schadens erleiden werden. Und ich bin überzeugt, daß Frankreich,
Großbritannien und Deutschland ebenfalls Ziel von Angriffen sein werden –
sollte es notwendig werden, natürlich. Aber bisher bieten sich Rußland viele
Möglichkeiten, gegen die Europäer und den Westen vorzugehen, ohne sie direkt
auf ihrem eigenen Territorium anzugreifen, und ohne den Einsatz von
Atomwaffen. Griechenland ist ein Land, in dem westliche Streitkräfte oder
Geheimdienste operieren, obwohl sie dort eigentlich nicht sein sollten,
genauso wie im Irak. Griechenland könnte beispielsweise Schauplatz von
Demonstrationen werden und auch die Seehandelsrouten sind gefährdet:
NATO-Schiffe und -Außenposten sind in diesen Tagen besonders gefährdet. Das
Einzige, was meiner Meinung nach in Rußland Respekt hervorruft, sind die
Atomwaffen des Westens.
Trotz alledem glaube ich immer noch, daß die russische Armee nicht in der
Lage ist, ganz Westeuropa zu überrennen, wie uns heutzutage so oft gesagt
wird. Ich frage mich auch, warum Rußland das tun sollte. Behauptungen, Rußland
wolle bis nach Berlin oder sogar Bern vorstoßen, beruhen sicherlich auf einer
Unterschätzung der Schwierigkeiten und des Aufwands. Sie sind als Inkompetenz
oder vielleicht einfach nur als reine Propaganda zu betrachten.
Andererseits kann ich nur davor warnen, zu glauben, daß Rußland militärisch
leicht in die Knie gezwungen werden kann. Und glauben Sie mir, ich habe
eineinhalb Jahre in den russischen Streitkräften verbracht und habe eine
ungefähre Vorstellung von ihren Fähigkeiten und vor allem von dem, wozu sie
nicht in der Lage sind. Es scheint mir, daß die westlichen Streitkräfte dazu
neigen, sich selbst zu überschätzen, und das manchmal auf geradezu groteske
Weise.
Was die absehbare Zukunft angeht, glaube ich, daß wir turbulente Zeiten vor
uns haben. Ich erwarte, daß der „Bürgenstock-Friedensgipfel“, wie man ihn in
der Schweiz nennt, in einer Autohändler-Atmosphäre stattfinden wird. Ich
denke, daß diese sogenannte Friedenskonferenz für die Russen nicht wichtig
genug ist, um sie zu stören. Derzeit versammeln sich die politischen Verlierer
der Wahlen vom vergangenen Wochenende in Europa auf dem G7-Gipfel in Italien,
und sie werden in die Schweiz weiterziehen. Aber es könnte den Russen in den
Sinn kommen, ihnen die Show zu stehlen, die Biden, Macron, Scholz und von der
Leyen sicherlich für die nächsten Wochen und Monate vorbereitet haben: Ich
spreche über den US-Wahlkampf, ich spreche über die Olympischen Spiele in
Paris und die Fußball-EM in Deutschland. Wir könnten also in eine turbulente
Phase eintreten. Und wenn eine Eskalation oder gar ein Atomkrieg vermieden
werden kann, dann eher aufgrund russischer Gelassenheit und russischer
Rationalität als aufgrund eines hohen Standards westlicher Staatskunst.
Entschuldigen Sie, daß ich das so sage, aber so schätze ich die aktuelle
Situation ehrlich ein. Natürlich erwarten wir das Schlimmste und hoffen auf
das Beste. Aber aus meiner Erfahrung von 20 Jahren Dienst als
Generalstabsoffizier auf verschiedenen Ebenen weiß ich, daß Hoffnung keine
militärische Planungsmethode ist, und darauf sollten wir uns nicht
verlassen.
Vielen Dank und auf Wiedersehen aus der Schweiz.
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