Ein neuer und letzter Krieg –
oder ein neues Paradigma der vereinten Menschheit?
Von Ján Čarnogurský,
ehemaliger Ministerpräsident der Slowakei (1991–1992)
Als der (erste) Kalte Krieg 1990 endete, traten der Osten und der Westen,
genauer gesagt Rußland und die Vereinigten Staaten, mit gegensätzlichen
Vorstellungen in ein neues Zeitalter ein.
Die vorherrschende Meinung unter der russischen Intelligenz war, daß nur der
Kommunismus Rußland und den Westen trennte, und wenn der Kommunismus in Rußland
fiele, würden sich beide Subzivilisationen in die Arme fallen und in
Freundschaft und Zusammenarbeit leben.
Im Westen, insbesondere in den Vereinigten Staaten, herrschte eine andere
Meinung vor. Sie betrachteten sich als Sieger des Kalten Krieges, als Weltmacht,
die Globalisierung hatte begonnen und die NATO-Osterweiterung hatte begonnen. Im
November 1990 unterzeichneten die ehemaligen Gegner des Warschauer Pakts und der
NATO die Charta von Paris, in der sie Freundschaft und Zusammenarbeit
versprachen, aber die ersten östlichen Staaten wurden bald in die NATO
aufgenommen, obwohl die USA und Deutschland Gorbatschow 1990 versprochen hatten,
daß die NATO nicht nach Osten expandieren würde.
Die Bombardierung Jugoslawiens ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrats im März
1999 führte zur Wahl von Wladimir Putin zum Präsidenten Rußlands, der sich nicht
für eine sanfte Politik gegenüber dem Westen einsetzt. In den Vereinigten
Staaten unterzeichnete Präsident George Bush sen. die Direktive Nr. 10, die
besagt, daß die Vereinigten Staaten eine Politik verfolgen würden, die
sicherstellt, daß in Zukunft kein Gegner entsteht, der der Macht der Vereinigten
Staaten ebenbürtig ist. Das letzte freundliche Signal aus Rußland war Wladimir
Putins Zustimmung im Oktober 2001, daß die Vereinigten Staaten für den Krieg,
der gerade begann, um Osama bin Laden habhaft zu werden, Truppen und Waffen
durch russisches Gebiet nach Afghanistan transportieren könnten.
Dann folgte Wladimir Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz im
Februar 2007, in der er erklärte, daß Rußland ähnliche Sicherheitsmaßnahmen
gegen den Westen ergreifen werde, wie der Westen gegen Rußland. Der Westen schuf
die politischen und militärischen Voraussetzungen für die Abspaltung des Kosovo
von Serbien, obwohl die Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrats zum Ende des
Krieges in Jugoslawien dies nicht zuließ.
Die Vereinigten Staaten gaben 2014 fünf Milliarden Dollar für einen
Regimewechsel in der Ukraine aus. Rußland schuf im selben Jahr die politischen
und machtpolitischen Voraussetzungen für die Abspaltung der Krim von der Ukraine
und die Verteidigung eines Teils der Republiken Donezk und Luhansk gegen die
Ukraine. Die Ukraine unterbrach die Trinkwasserzufuhr zur Halbinsel, und die USA
begannen mit dem Bau ihrer Militärbasis in Otschakowo am Schwarzen Meer. Diese
Entwicklungen führten zu Rußlands aktueller Militäroperation gegen die
Ukraine.
Zu Beginn der Operation erklärte der EU-Kommissar für Außenbeziehungen,
Joseph Borrell, das Ergebnis der Operation werde auf dem Schlachtfeld
entschieden. Jetzt, da die russische Armee die ukrainische Armee zurückdrängt,
die vom gesamten NATO-Block bewaffnet und unterstützt wird, werden im Westen
Stimmen laut, daß der Krieg zumindest am Verhandlungstisch gestoppt werden
sollte. Die Bedingungen solcher Verhandlungen, die in westlichen Medien erwähnt
werden, sind jedoch völlig unrealistisch. Die Verhandlungen über Frieden oder
zumindest einen Waffenstillstand in der Ukraine stoßen auf mehrere Hindernisse,
die ich benennen möchte.
Rußland hegt tiefes Mißtrauen gegenüber dem Westen, insbesondere gegenüber
den Vereinigten Staaten und Großbritannien, weil diese Rußland mehr als einmal
betrogen haben. Sie versprachen Gorbatschow, daß die NATO sich nicht nach Osten
ausdehnen würde, doch sie hat sich ausgedehnt. Deutschland, Polen und Frankreich
garantierten die Minsker Abkommen von 2015, aber Angela Merkel gab offen zu, daß
die Minsker Abkommen nur dazu dienten, der Ukraine Zeit zu verschaffen, sich zu
bewaffnen.
Ebenso garantierten sie im Februar 2014 die Einhaltung des Abkommens zwischen
den Demonstranten in Kiew und der Regierung Janukowitsch. Als die Demonstranten
das Abkommen buchstäblich wenige Stunden, nachdem Janukowitsch es eingehalten
hatte, brachen, besaßen die westlichen Garanten nicht einmal den moralischen
Anstand, zumindest zuzugeben, daß die Demonstranten das Abkommen verletzt
hatten. Ich persönlich war am meisten enttäuscht, daß selbst der derzeitige
deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der auch einer der Bürgen war,
nicht den Mut hatte, zuzugeben, daß das Abkommen verletzt worden war.
Im März 2022 paraphierten Rußland und die Ukraine in Istanbul ein Abkommen
zur Beendigung des Krieges. Der britische Premierminister Boris Johnson flog
sofort nach Kiew und übte Druck auf Präsident Selenskyj aus, das Abkommen
aufzukündigen. Der schwache Selenskyj tat dies und machte es von Anfang an
unmöglich, den Krieg zu beenden. Vor kurzem gab Boris Johnson in London
öffentlich zu, daß der Krieg gegen die Ukraine ein Stellvertreterkrieg des
Westens gegen Rußland ist.
Seitdem sind etwa eine halbe Million ukrainische Soldaten gestorben. Ich
möchte nicht, daß Nationen im Osten für die egoistischen Interessen der
Angelsachsen sterben.
Bis in das heutige Jahr reden die westlichen Medien ihren Lesern ein, die
Ukraine werde den Krieg gegen Rußland gewinnen, weil der gesamte Westen sie
unterstützt. Es stellte sich heraus, daß dies reine Propaganda war, schließlich
war von Anfang an klar, daß die Ukraine keine Chance gegen ein dreimal so großes
Rußland hatte. Wenn die NATO beschlösse, eigene Soldaten in die Ukraine zu
schicken, würde die Slowakei ihre Soldaten nicht schicken. Die Mehrheit der
Slowaken betrachtet Rußland nicht als ihren Feind, wie Meinungsumfragen
amerikanischer Agenturen belegen.
Ich halte die Behauptung, Rußland würde im Falle einer Niederlage der Ukraine
weiter nach Westen vordringen, für Propaganda. Rußland hat nicht die Kraft,
weiter nach Westen vorzurücken. Außerdem hat es auch historische Erfahrungen.
Während des Kalten Krieges reichte die Sowjetunion bis nach Mitteleuropa, aber
es kam zu Aufständen in Ostdeutschland, Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei.
Am Ende beschloß Gorbatschow, Mitteleuropa aufzugeben. Rußland müßte
Mitteleuropa nicht mit Gewalt kontrollieren. Es muß nur sicherstellen, daß es
dort keine Militärstützpunkte gegen Rußland gibt. Die mitteleuropäischen Staaten
würden auch nicht als Schlachtfeld zwischen dem Westen und Rußland dienen
wollen.
Die Vereinigten Staaten scheinen die Situation um Rußland am Ende der
Amtszeit von Joe Biden absichtlich eskaliert zu haben. Aber Biden ist mental
nicht mehr in der Lage, selbst auf der Grundlage der Analysen seiner Mitarbeiter
über so ernste Fragen zu entscheiden, die auf dem Spiel stehen und die einen
großen Weltkrieg auslösen könnten. Die derzeitige US-Politik scheint zu
bestätigen, daß die Vereinigten Staaten nicht von einem gewählten Präsidenten
regiert werden, sondern von einer Art Schattenregierung.
Die Vereinigten Staaten unterstützten 2014 den Sturz des ordnungsgemäß
gewählten Präsidenten in der Ukraine, jetzt unterstützen sie Präsidentin Salome
Surabischwili in Georgien, die nicht zugunsten eines ordnungsgemäß gewählten
Präsidenten zurücktreten will. Es gibt zu viele Hinweise darauf, daß die
Vereinigten Staaten an der Zerstörung der Nord-Stream-Gaspipeline in der Ostsee
beteiligt waren. Die Vereinigten Staaten, unterstützt von Großbritannien und der
gesamten NATO, sind derzeit der größte Zerstörer der demokratischen Ordnung in
der Welt.
Die russischen Medien sind seit langem der Meinung, daß die westlichen Eliten
intellektuell und moralisch verkommen sind. Es ist schwierig, mit solchen Eliten
ernsthafte Verhandlungen zu führen und sich vor allem darauf zu verlassen, daß
sie die getroffenen Vereinbarungen einhalten. Wie kann man Respekt vor
westlichen Politikern haben, die intellektuell nicht in der Lage waren, die
strategische Lage auf dem ukrainischen Schlachtfeld richtig einzuschätzen? Die
nicht den politischen Mut haben, die Ergebnisse der Untersuchung der Explosionen
auf der Nord-Stream-Gaspipeline zu veröffentlichen? Die Gesetze verabschieden,
die die Redefreiheit in Ländern der Europäischen Union einschränken? Die sich
nicht trauen, den Anweisungen der Schattenregierung zu trotzen?
Im Vergleich dazu fällt mir ein, daß Henry Kissinger als US-Außenminister
unter Präsident Richard Nixon dem sowjetischen Gesandten einen bevorzugten
Parkplatz im Außenministerium sicherte, weil Parkplätze schon damals ein Problem
waren.
Wenn die Bewohner Mitteleuropas die Nachrichten über den Krieg in der Ukraine
hören, fragen sie sich, warum der Westen, insbesondere die Vereinigten Staaten,
bereit sind, so viel in den Krieg auf ukrainischer Seite zu investieren. 1938
waren Frankreich und Großbritannien überhaupt nicht bereit, sich an der Seite
der Tschechoslowakei gegen Hitler zu stellen, und zwangen die Tschechoslowakei,
Hitlers Bedingungen zu akzeptieren, obwohl wir Bündnisverträge mit Frankreich
und Großbritannien hatten. Im September 1939 genauso gegenüber Polen: Man war
nur bereit, einen „Sitzkrieg“ gegen Deutschland zu beginnen.
Eine Erklärung wurde vom US-Senator Lindsey Graham gegeben. Er berechnete,
wieviel Reichtum der Westen aus den Bodenschätzen der Ukraine gewinnen könnte.
Die zweite Erklärung ist geopolitischer Natur. Der Westen muß zuerst Rußland
besiegen, um dann China angreifen zu können. Aber sowohl Rußland als auch China
wissen das.
Noch eine Randbemerkung. Die gesamte militärische und finanzielle Hilfe des
Westens für die Ukraine wird in Form von Darlehen gewährt. Die Ukraine wäre
nicht in hundert Jahren in der Lage, die Darlehen zurückzuzahlen. Wenn die
Ukraine jedoch den Krieg verliert und dann ein Nachfolgestaat in einer anderen
Rechtsform fortbestehen würde, wären alle Darlehen an die derzeitige Ukraine nur
noch ein Stück Papier.
Alle genannten Probleme würden sich vereinfachen, wenn der Westen den Krieg
in der Ukraine verlieren würde.
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