Eine wahre Kultur des Friedens
Von Jacques Cheminade
Jacques Cheminade ist Vorsitzender der Partei Solidarité et
Progrès und war mehrfach Kandidat für das Amt des Staatspräsidenten in
Frankreich. Er eröffnete den vierten Abschnitt der Internetkonferenz des
Schiller-Instituts am 16. Juni mit dem folgenden Vortrag. (Übersetzung aus dem
Englischen, Zwischenüberschriften wurden hinzugefügt.)
Wir leben in einer Kultur des Krieges. Die Möglichkeit eines Dritten
Weltkriegs, eines Krieges zur Auslöschung der Menschheit, wird jeden Morgen
realer. Wenn man sich das Versagen unserer Präsidenten und der Männer neben
ihnen anschaut, die den Atomknopf im Koffer haben, muß jeder vernünftige
Mensch bangen und Frieden fordern. Während dieser ganzen Konferenz wurden wir
gewarnt und aufgerüttelt, während unsere Bevölkerung die Gefahr mehr und mehr
spürt.
Unsere westlichen Regierungen führen das Wort Demokratie im Munde, aber für
sie liegt die Schuld an der militärischen Eskalation immer im Verhalten des
Gegners. Unsere herrschenden Prediger mögen von Frieden sprechen, aber sie
geben ständig den anderen die Schuld und sind in Kriege gegen sie verwickelt.
Es ist eine Orwellsche Welt, in der Krieg gleich Frieden und Realität gleich
Narrativ ist. Spektakel werden veranstaltet, um die Völker zu betrügen. Die
obszönen Feierlichkeiten zum Jahrestag der Landung in der Normandie sind nur
ein extremes Beispiel, sie fanden ohne die Russen, die Hauptgewinner des
Zweiten Weltkriegs, statt, und Selenskyj wurde als heutiger Held der „freien
Welt“ gefeiert.
Die Herausforderung für unsere Internationale Friedenskoalition und das
Schiller-Institut besteht darin, die Lügen aufzudecken – eine Kultur des
Krieges ist immer eine Kultur der Lüge – und die Herausforderung anzunehmen,
eine wahre Kultur des Friedens aufzubauen. Ich bin fest davon überzeugt, daß
wir erfolgreich sein werden, nicht ohne gefährliche und dunkle Momente zu
durchleben wie jetzt, aber wir werden erfolgreich sein, weil es in der Natur
des Menschen liegt, eine bessere Welt für die Zukunft zu schaffen, und heute
sind wir alle hier, um uns dafür einzusetzen.
Prinzipien für eine Kultur des Friedens
Wie gehen wir vor? Wir müssen in den Köpfen unserer Mitbürger das
Realitätsprinzip erzeugen. Zunächst müssen wir ihnen klar machen, was ein
Atomkrieg bedeuten würde. Eine Kultur des Friedens beginnt damit, die Folgen
des Bösen zu erkennen.
Kenneth Starr und Scott Ritter haben uns gezeigt, wie wir vorgehen müssen:
Wir müssen die Menschen mit der Aussicht auf den Tod konfrontieren und ihnen
vor Augen führen, wie häßlich das Gesicht eines Atomkriegs sein würde. Machen
Sie sich klar, was die Zerstörung der schönsten Schöpfungen der Menschheit
bedeuten würde, das Ende des langen Marsches der menschlichen Zivilisation.
Verstehen Sie, wie unsere politischen Führer, in jedem unserer westlichen
Länder, ein hinterlistiges Pokerspiel mit unserem Leben spielen.
Dann zeigen wir, wie diese perverse Logik funktioniert: Das kollabierende
westliche Finanzsystem muß, um seine Geldwetten zu decken, wahllos plündern
und die produktive physische Wirtschaft zerstören – eine neue Form von
„Lebensraum“. Das ist es, was das Wort „Kriegswirtschaft“ bedeutet: die
Illusion, daß die Blase aller Wetten durch die Blase der nuklearen
Vorherrschaft gesichert werden könnte, auch mit der Androhung eines
Erstschlags wie in der derzeitigen amerikanischen Nukleardoktrin.
Aber nur Angst zu machen, könnte ein Gefühl von selbstzerstörerischem
Pessimismus verbreiten. Angstmacherei wirkt destruktiv, wenn man keine
Hoffnung macht. Helga Zepp-LaRouches Zehn Prinzipien1 vermitteln
den wahren Charakter der Menschheit und rütteln uns aus der „Versuchung
verdrießlicher Vergnügungen“, wie die Jesuiten zu sagen pflegten. Sie geben
uns wieder ein Gefühl für unser souveränes Gutes, unsere Macht, Gutes zu tun.
Ich zitiere das erste und das letzte Prinzip, die die dynamische Kraft von
ihnen allen umfassen, um die Grundlage für Frieden zu schaffen: ein „neues
Paradigma, auf das eine neue globale Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur
ausgerichtet sein sollte“, die Oligarchismus, Kolonialismus und Geopolitik
endgültig beseitigt.
Erstes Prinzip: „Die neue internationale Sicherheits- und
Entwicklungsarchitektur muß eine Partnerschaft vollkommen souveräner
Nationalstaaten sein, die sich auf die Fünf Prinzipien der friedlichen
Koexistenz und die UN-Charta stützt.“
Zehntes Prinzip: „Die Grundannahme des neuen Paradigmas ist, daß der
Mensch grundsätzlich gut ist und fähig, die Kreativität seines Geistes und die
Schönheit seiner Seele unendlich zu vervollkommnen, und daß er die am
weitesten entwickelte geologische Kraft im Universum ist, was beweist, daß die
Gesetzmäßigkeit des Geistes und die des physischen Universums in
Übereinstimmung und Kohäsion stehen und daß alles Böse das Ergebnis eines
Mangels an Entwicklung ist und daher überwunden werden kann.“
Diese Prinzipien sind wichtige Bezugspunkte, Standards für eine Kultur des
Friedens. Unser Urteil über das, was gesagt und getan wird, um den Frieden zu
sichern, sollte von ihrem Standpunkt aus erfolgen.
Die drei Initiativen von Xi Jinping und das Prinzip von „Gürtel und Straße“
sind wesentliche Schritte in diese Richtung. Eine Globale
Entwicklungsinitiative, eine Globale Sicherheitsinitiative und eine Globale
Zivilisationsinitiative bilden ein Ganzes, um das gemeinsame Schicksal der
Menschheit für eine bessere und schönere Welt in der Zukunft zu organisieren.
In diesem Sinne entsprechen die jüngsten Erklärungen von Papst Franziskus zum
Neuen Ablaßjahr 2025 und zum Frieden auf der Grundlage von Gerechtigkeit für
jede Nation und jeden Menschen auf der Erde dem, was Papst Paul VI. in seiner
Enzyklika Populorum Progressio gesagt hatte: „Der neue Name des
Friedens ist Entwicklung.“
Hinzu kommen die Erklärungen, die Wladimir Putin auf dem Gipfel in Sankt
Petersburg abgegeben hat – ich habe keine Zeit, sie zu zitieren, aber sie sind
es wert, berücksichtigt zu werden, um die Lügen der westlichen Medien zu
zerstreuen. Sein Besuch im Haus und Museum des großen russischen Humanisten
und Dichters Alexander Puschkin in der Stadt, die heute seinen Namen trägt und
früher Zarkoje Selo hieß, zeugt von seiner prinzipientreuen Haltung, trotz der
gegenwärtigen internationalen strategischen Spannungen.
Die mögliche Lösung für die Menschheit, jetzt, da wir alle im selben Boot
sitzen, liegt in dieser Richtung, vorausgesetzt, wir gehen weiter, bis hin zu
einer Weltlandbrücke, die für alle Nationen gebaut wird.
Wie Helga Zepp LaRouche unermüdlich wiederholt, ist dieses Eine mächtiger
als das Viele und erfordert ein Denken auf der Ebene von Jean Bodins Harmonie
der Dissonanzen und noch grundsätzlicher vor ihm, der Coincidentia
Oppositorum, des „Zusammenfalls der Gegensätze“ von Nikolaus von Kues.
Wer sich weigert, auf dieser Ebene zu denken, wer vom Besonderen statt vom
Einen ausgeht, ist dazu verdammt, eine Kultur des Krieges, eine Kultur des
Todes zu fördern oder aufrechtzuerhalten – so wie der berüchtigte Georg
Wilhelm Friedrich Hegel, der behauptete, daß das Völkerrecht nicht ohne
Zufälle existieren könne, weil jeder Staat seinen eigenen Partikularwillen
hat, und der daraus schloß, daß die einzige Methode, um Partikularwillen zu
harmonisieren, der Krieg sei. Ist das extrem ausgedrückt? Man nennt das
„Geopolitik“ und „regelbasierte Ordnung“, und es ist die Kriegskultur unserer
westlichen Führung. Unter dem Vorwand ihrer Verantwortung für den „Schutz der
Demokratie“ erzwingen sie die Plünderungsmethoden der Finanzmärkte und die
Aufrüstung zum Schutz ihrer Plünderung.
Der Kantianische Fehler
Fahren wir fort: Auch wenn gute Absichten nützlich und notwendig sind,
reichen sie nicht, um eine Kultur des Friedens zu sichern. Das ist sozusagen
der Kantianische Fehler bei den vielen Bemühungen, die wohlmeinende Menschen
für den Frieden unternommen haben und dabei gescheitert sind. Sie versuchten,
den Frieden außerhalb des Bereichs einer wahren Friedenskultur zu erreichen.
Daher ist unser gemeinsamer Denkprozeß innerhalb der Internationalen
Friedenskoalition und des Schiller-Instituts so wichtig, um eine Mobilisierung
für eine echte Friedenskultur zu erreichen, die der existentiellen Gefahr für
die Menschheit Rechnung trägt.
Ein entscheidendes Beispiel für ein solches Scheitern waren die Bemühungen,
die nach dem Fall der Berliner Mauer innerhalb der bestehenden internationalen
Organisationen unternommen wurden. Sie nannten es eine Kultur des Friedens,
aber es war keine echte. Die Überlegungen der Vereinten Nationen zu einer
„Kultur des Friedens“ begannen 1992 mit der Verabschiedung eines Programms für
eine Kultur des Friedens durch die UNESCO. Die Erklärung und das Programm für
eine Kultur des Friedens wurden von der Vollversammlung der Vereinten Nationen
am 13. September 1999 im Rahmen der Vorbereitungen für das Internationale Jahr
für die Kultur des Friedens angenommen.
Die UN-Resolution A/53/243 umfaßt verschiedene Bereiche des
Handelns, die insgesamt einen positiven Eindruck machen:2
- Kultur des Friedens durch Bildung,
- Nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung,
- Wahrung aller Menschenrechte,
- Gleichstellung von Frauen und Männern,
- Verständigung, Toleranz und Sicherheit,
- Partizipative Kommunikation und freie Verbreitung von Informationen
und Wissen,
- Internationaler Frieden und Sicherheit.
Dann gab es das Manifest 2000 für eine Kultur des Friedens und der
Gewaltlosigkeit, worin der einzelne aufgerufen wird, sich „in Alltag und
Familie, Gemeinschaft und Arbeit, in meinem Land und meiner Region“ zu
Grundsätzen wie diesen zu verpflichten:3
„1. Achtung der Würde jedes Menschen: Ich will ohne Unterschied
und Vorurteil das Leben und die Würde jedes Menschen anerkennen.
2. Gewaltfreie Konfliktbearbeitung: Ich will Gewaltlosigkeit leben,
indem ich selbst keine körperliche, sexuelle, seelische, wirtschaftliche oder
soziale Gewalt anwende, insbesondere nicht gegenüber Schwächeren und Wehrlosen
wie Kindern und Jugendlichen.
3. Solidarität: Ich will meine Zeit und meine Mittel großzügig mit
andern teilen, damit Ausgrenzung, Ungerechtigkeit sowie politische und
wirtschaftliche Unterdrückung ein Ende finden.“
Und so weiter und so fort – ein Katalog von „guten Vorsätzen“, der mit
verschiedenen hochrangigen Treffen der Vereinten Nationen zur Kultur des
Friedens einherging. Anwarul Karim Chowdury, der damalige Untergeneralsekretär
und Hohe Repräsentant für die am wenigsten entwickelten Länder, die
Binnenentwicklungsländer und die kleinen Inselentwicklungsstaaten, hielt immer
wieder gute Reden über „Gewaltlosigkeit und Friedenskultur als Teil unserer
täglichen Existenz, Friedenskultur als Prozeß der individuellen, kollektiven
und institutionellen Transformation“.
Schöne Worte, aber wo ist der Fehler? In Anbetracht der Tatsache, daß wir
heute von der nuklearen Auslöschung bedroht sind, haben solche wohlmeinenden
Persönlichkeiten nicht das bewirkt, was sie meinten. Wir müssen uns also
darüber im klaren sein, wo der Fehler liegt, um effektiv zu sein. Es liegt
nicht im wesentlichen an Personen, nicht einmal an einem politischen Regime,
es liegt in der Mentalität, in einem Umfeld, in dem die herrschenden Mächte
Prinzipien auf bloße Namen reduzieren, als wären sie Wetten an der Börse, eine
nominelle Tarnung für ihre wahren Absichten. Wer ihre Herrschaft über das
Gedankenspiel akzeptiert, ist dazu verurteilt, am Prinzip zu scheitern. Der
Fehler ist das, was ich nach Lyndon LaRouche den „Kantschen Fehler“ nenne.
Kant schrieb 1795 Zum Ewigen Frieden, ein Buch, das später mit
„demokratischem Frieden, Handelsfrieden und institutionellem Frieden“ in
Verbindung gebracht wurde. Es ist eine Summe von Kategorien, so wie die
Dokumente der Vereinten Nationen, eine Art Skelett, das auf die Realität
projiziert wird. Kant trennt zwischen „Nomen“ und „Phänomen“, wobei das Nomen
der Bereich der Vernunft und der Seele ist, der der Erkenntnis nicht
zugänglich ist (die Dinge an sich), und das Phänomen sind die sichtbaren
Objekte der Wahrnehmung. Diese Kluft verurteilt den Menschen zum Gefangenen
der Logik eines gegebenen Systems – mehr oder weniger ausgearbeitet, ohne
Zugang zur Vernunft in der Welt der Wahrnehmungen, ohne Zugang zur Vernunft,
um die Umwelt zu verändern.
Die Wissenschaft der physischen Ökonomie ist dieser Denkweise fremd, weil
letztere sich an die Kategorien der Welt, so wie sie ist, anpaßt. Die
Metaphysik ist von der Physik getrennt. Eine solche Denkweise verurteilt dazu,
innerhalb eines gegebenen Systems gute Reden zu schwingen, ohne daß dies in
der Realität, bei der erfolgreichen Veränderung, etwas bewirken kann. Grob
ausgedrückt: Man wird entweder zum begabten Diener, wie ein Henry Kissinger,
oder zum wütenden und ohnmächtigen Anarchisten, wie ein IS-Terrorist, oder zum
wohlsituierten Statthalter dessen, was unser Freund Ray McGovern als MICIMATT
bezeichnet: Militär, Industrie, Kongreß, Geheimdienste, Medien, Hochschulen,
Denkfabriken.
Als menschliche Wesen nicht besonders nützlich, verbreiten sie einen mehr
oder weniger unterwürfigen und oft wohlgepflegten Pessimismus oder falschen
Idealismus. Im Extremfall können sie so weit gehen wie Bertrand Russell und
dazu aufrufen, Atombomben auf die Russen zu werfen, um die „freie Welt“ zu
retten, oder falschen Umweltschutz zu betreiben, um die Weltbevölkerung zu
reduzieren! Mit dem Wort „Frieden“ im Mund und einer Kultur des Todes im Kopf.
Traurige Leben, die dazu verdammt sind, kriminell zu werden.
Wir, die wir Prinzipien verkörpern und in die Offensive gehen, um sie in
der realen Welt durchzusetzen, die wir uns für eine für alle Beteiligten
vorteilhafte wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit einsetzen, haben
den Auftrag, Vorbilder der Hoffnung zu sein. Es ist unsere Verpflichtung,
„alle Individuen der menschlichen Gattung zur Würde des Menschen zu erheben“,
wie es Lazare Carnot ausdrückte, der Mitgründer der Ecole Polytechnique und
„Organisator des Sieges“ der französischen republikanischen Armeen gegen die
aggressive Koalition der europäischen Oligarchie. Bei unserem Kampf sollten
wir es so machen wie José Vega und sein Wahlkampfteam: frühmorgens Beethoven
hören, bevor wir zum Organisieren gehen, und abends Gedichte lesen. So
veredeln wir unsere Charaktere, um unser Mandat nicht als Pflicht, sondern mit
Freude zu erfüllen.
Hören Sie, was Carnot, ein Bewunderer Friedrich Schillers, uns mitten im
Kampf erzählt, während er Gedichte schreibt: „Die Begeisterung, die Liebe zum
Schönen, der erhabene Aufstieg der großen Seelen.“ Wir streben danach, eine
solche Ebene des Seins zu erreichen, und ein solches Streben ist die
kulturelle Grundlage für eine wahre Kultur des Friedens, „um die politische
Ordnung so zu gestalten, daß der wahre Charakter der Menschheit als
schöpferische Gattung verwirklicht werden kann“.
Anmerkungen
1. Zehn Prinzipien für eine neue internationale Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur
2. Erklärung über eine Kultur des Friedens, Resolution A/RES/53/243 der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 13. September 1999
3. Manifest 2000 für eine Kultur des Friedens
und der Gewaltlosigkeit
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