Wir befinden uns in einer Zeit des totalen Nihilismus
Von Obert a.D. Alain Corvez
Oberst a.D. Alain Corvez ist Berater für internationale
Angelegenheiten und ehemaliger Berater des französischen Innenministeriums. Im
ersten Abschnitt der Internetkonferenz des Schiller-Instituts am 15. Juni
sagte er folgendes. (Übersetzung aus dem Französischen.)
Danke für Ihre Einladung… Ich habe auf dieser Konferenz bisher sehr
sinnvolle und vernünftige Reden gehört. In Gesprächen mit vielen Experten auf
der ganzen Welt höre ich etwas anderes, und die Schlußfolgerung ist, daß
solche ausgewogenen Reden wie diese nicht beachtet werden. Warum? Weil wir uns
in einer Situation des totalen Nihilismus befinden.
Ich möchte als Einleitung, als Präambel, etwas von Nietzsche zitieren, aus
seinen posthumanistischen Fragmenten, die er gegen Ende seines Lebens schrieb.
Was hier angekündigt wird, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte.
Es beschreibt, was kommen wird, was unausweichlich ist, nämlich die Ankunft
des Nihilismus. Nietzsche ist wahrscheinlich einer der großen Denker für das
gegenwärtige Jahrhundert. Ich denke, er ist schlecht bekannt und wird von
bestimmten Philosophen schlecht interpretiert. Es ist ein interessantes Denken
in diesem Aphorismus 125 Der tolle Mensch.1 Er schreibt:
„Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage
eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ,Ich suche
Gott! Ich suche Gott!'“ Es folgt eine sehr interessante Entwicklung, und dann
sagt er: „Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie
trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? ... Wer wischt dies Blut von uns ab?
Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen?“
Jetzt möchte ich mit der Gegenwart fortfahren, aber er sah es schon kommen,
wie der Nihilismus aufkommt und die Macht übernimmt, und wenn ich auf diesem
philosophischen Aspekt meiner Rede bestehe, dann eben deshalb, weil wir uns
heute in einer Zeit des totalen Nihilismus befinden. Präsident Putin und
Präsident Xi Jinping machen auf ruhige Art und Weise sehr vernünftige
Vorschläge – und im Westen haben wir Leute, die völlig dement sind. Im Westen
haben wir Verrückte, die am hellen Vormittag mit einer Laterne nach Dingen
suchen, die es gar nicht mehr gibt. Heute ist es unmöglich, diplomatische
Beziehungen zwischen Ost und West herzustellen, weil der Westen völlig dement
ist.
Das muß man berücksichtigen. Nur sehr mächtige Kräfte werden in der Lage
sein, das Blatt zu wenden. Wir sind heute Zeugen des Endes der amerikanischen
Hegemonie in der Welt, insbesondere der westlichen Welt. In Kanada, Australien
und Japan ist diese Hegemonie noch sehr stark, alle diese Länder folgen den
Weisungen aus Washington. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat Washington
eine Infrastruktur und Logistik aufgebaut, die mit Hilfe von Geld und der
Kontrolle über die Medien die westliche Hemisphäre beherrscht, auch wenn
einige Intellektuelle sich zu Wort melden, um diese inakzeptable Situation zu
entlarven.
Aber insgesamt erleben wir das Ende der US-Hegemonie in einer tragischen
Periode, in der Menschen sterben, in der es großes Leid für die Menschheit
gibt, weil die Vereinigten Staaten aus innenpolitischen Gründen in eine große
Krise stürzen und ihre Außenpolitik eine Katastrophe ist.
China und Rußland und andere Länder, sich anschließen, wie der Iran,
schaffen die neue Welt, und die Westmächte wollen das nicht akzeptieren. Sie
wollen es nicht wahrhaben, sie wollen kein rationales strategisches Umdenken.
So findet die Krise statt, mit vielen Toten in der Ukraine und in Palästina,
weil man sich weigert anzuerkennen, daß die globale Vorherrschaft verloren
ist. Das wird bis zu den nächsten US-Wahlen so bleiben, und diese Situation
hat Hunderttausende von Toten heraufbeschworen.
Das ist Nihilismus. Wir befinden uns in der Verweigerung des rationalen
Denkens. Diese Leute können sich nicht vorstellen, daß es eine Kraft geben
kann, die ihren eigenen Kräften überlegen ist, aber das gibt es bereits.
Irgendwann werden sie gezwungen sein, es zu akzeptieren. Die Vereinigten
Staaten werden eine Großmacht im Weltgeschehen bleiben, aber nicht unbedingt
alles in der ganzen Welt diktieren.
Das Schiller-Institut setzt sich bekanntlich für eine ausgewogenere
Situation auf der Welt ein. Die Zeit ist gekommen, die Nationalstaaten zu
respektieren. Helga Zepp-LaRouche hat über den Westfälischen Frieden
gesprochen. Er stammt aus dem Jahr 1648 und war ein klarer Aufruf, den
souveränen Nationalstaat, die jeweilige Kultur und Geschichte zu
respektieren.
Wir müssen diesen Geist des Westfälischen Friedens wiederbeleben, in dem
die Interessen und der Respekt für andere berücksichtigt werden müssen. Man
sollte zwischen den Interessen der anderen und unseren eigenen Interessen
abwägen. Die westlichen Führungen sind dement geworden, wie dieser von
Nietzsche beschriebene Wahnsinnige. Wir sind in einer Welt, in der die USA bis
zu den Wahlen im November nicht für einen vernünftigen Diskurs zur Verfügung
stehen. Es gibt starke Kräfte, die darauf drängen, den Konflikt in der Ukraine
fortzusetzen.
Ich stimme nicht mit Helga Zepp-LaRouche überein, wenn sie sagt, Rußland
halte nur seine militärische Front aufrecht. Ich denke, daß Rußland durchaus
in der Lage wäre, eine umfassende Militäroffensive zu starten, aber Rußland
hat nicht die Absicht, das zu tun. Rußland will keine Zivilisten in der
Ukraine bombardieren. Das passiert natürlich leider unvermeidlich in solchen
Konfliktzeiten, aber Rußland könnte sofort nach Odessa marschieren, wenn es
wollte, doch Rußland will das nicht. Vielleicht werden sie irgendwann einmal
nach Odessa gehen.
Es ist nicht mehr die ukrainische Armee, die sich mit Rußland im Krieg
befindet, sondern es sind die Militärberater der NATO, die aus Polen, Kanada,
den USA, den Niederlanden, Frankreich, praktisch aus allen NATO-Staaten
kommen. Diese Experten setzen die NATO-Waffen auf ukrainischem Boden ein, sie
haben die entsprechende Ausbildung dafür. Es handelt sich also um einen Krieg
der NATO gegen Rußland, während sie gleichzeitig, in den Reden von Biden,
Macron und Stoltenberg, nach außen hin behaupten: „O nein, wir wollen keinen
Krieg mit Rußland!“ Das sagen sie tagein tagaus, aber es ist nicht wahr: Es
sind heute die NATO-Streitkräfte, die mit Hilfe von NATO-Informationen
NATO-Waffen einsetzen und russisches Territorium mit hochentwickelten Waffen
beschießen. Es ist also schlimmer als Heuchelei; es ist völlig inkohärent.
Ich möchte nicht noch mehr Zeit in Anspruch nehmen, aber ich möchte darauf
hinweisen, daß das auch einen wirtschaftlichen Aspekt hat. Die russische
Wirtschaft entwickelt sich, und die europäischen Volkswirtschaften – vor allem
Deutschland und Frankreich – brechen zusammen. Es wäre vernünftig, wenn
Westeuropa mit Osteuropa, Rußland und Asien zusammenarbeiten würde. Rußland
hat bekanntlich die Energieressourcen, die für die westliche Wirtschaft
lebenswichtig wären. Doch die ehemalige Weltmacht USA hat kein Interesse
daran, ein vereintes Europa mit Osteuropa und Rußland zu sehen.
Ich möchte mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt schließen, denn
die beiden Konflikte lassen sich nicht voneinander trennen. Es handelt sich um
zwei Symptome der ehemals allmächtigen Vereinigten Staaten, die die
Palästinenser und die Ukrainer benutzen, um vor der Welt zu vertuschen, daß es
in Wirklichkeit ihr eigenes Endspiel ist. Das israelische Kriegskabinett ist
ein klares Beispiel für Demenz; diese Leute sind nicht mehr in der Lage,
rational zu denken. Sie haben den Krieg, den sogenannten „Krieg gegen die
Hamas“, verloren. Sie haben nachgelegt, und jetzt weiß die Welt alles darüber,
wie sie an Einfluß verlieren.
Ich möchte nur einen Artikel aus der Jerusalem Post vom 9. Juni
zitieren. Dort sagt ein israelischer General a.D., Itzhak Brik: Die
israelische Bevölkerung ist gegen dieses Kriegskabinett, weil es uns in den
Abgrund führt. Wir wissen, daß dieser Kampf gegen die Palästinenser den
aufgeklärten Teil der Welt jetzt hinter der Unterstützung Palästinas und gegen
uns versammelt. Noch haben wir die Unterstützung der US-Regierung, aber wie
lange noch?
Dieser General ist intelligent, aber das israelische Kriegskabinett hat
Israels Einfluß in der Welt völlig zerstört.
Abschließend möchte ich sagen, daß wir unsere Regierungen zur Vernunft
bringen müssen, auch die französische Regierung. Das Volk sollte eingreifen
und der Kriegstreiberei Einhalt gebieten, die unsere Volkswirtschaften
zerstört, in der vergeblichen Hoffnung, das Überleben der amerikanischen
Hegemonie zu sichern, obwohl sie eindeutig verloren ist. Ich danke Ihnen
nochmals dafür, daß Sie mir die Gelegenheit gegeben haben, heute hier das Wort
zu ergreifen.
Anmerkung
1. Nietzsche, Friedrich, Die fröhliche Wissenschaft, Drittes Buch, 125. Der
tolle Mensch (Zeno.org)
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