„Es ist an der Zeit, das diplomatische Erbe wiederzuentdecken“
Von Botschafter Chas Freeman
Chas Freeman ist US-Botschafter a.D. und Experte für die USA-China-Beziehungen.
Meine Damen und Herren!
Es ist mir eine Ehre, mit dem Schiller-Institut an der heutigen Konferenz
teilzunehmen. Jemand muß sich für den Frieden einsetzen. Jemand muß Diplomatie
statt Krieg als Antwort auf die Spannungen, die Europa derzeit plagen,
befürworten und organisieren. Ich unterstütze das Schiller-Institut und seine
Gründerin und Leiterin Helga Zepp-LaRouche darin, sich offen zu äußern und uns
zusammenzubringen.
Wir sind hier, um Alarm zu schlagen, wohin der Kreislauf von Eskalation und
Gegeneskalation zwischen der NATO und der Russischen Föderation Europa, Rußland
und Amerika führt, und zu überlegen, was wir dagegen tun können. Rote Linien
wurden gezogen und dann wiederholt überschritten. Jede Seite hat gesagt, daß
sie dies oder jenes nicht tun wird, und dann hat sie es doch getan. Jetzt, da
die NATO direkte ukrainische Angriffe auf Ziele tief auf russischem Territorium
unterstützt, schlägt Rußland nicht nur auf strategische Ziele in der Ukraine
zurück, sondern droht auch mit Vergeltung an anderer Stelle. Was bisher ein
Stellvertreterkrieg war, droht nun zu einem direkten Konflikt zwischen den
Vereinigten Staaten, der NATO und der Russischen Föderation zu werden.
Die gute Nachricht ist, daß Präsident Putin erklärt hat, daß er vorerst
nicht vorhat, die Eskalation der Angriffe des Westens auf sein Heimatland mit
seinem enormen Atomwaffenarsenal zu vergelten. Aber es ist ein Zeichen dafür,
wie gefährlich dieser Moment ist, daß er angekündigt hat, stattdessen die
Feinde der Vereinigten Staaten und anderer NATO-Länder, die an Angriffen auf
Rußland beteiligt sind, zu bewaffnen. Es ist unklar, ob er diesen
Vergeltungsschlag auf Staaten beschränken will oder ob er auch nichtstaatliche
Akteure einbeziehen will. Das ist schon schlimm genug, aber angesichts der
kurzen Halbwertszeit jeder roten Linie, die die Ukraine betrifft, könnte sein
nächster Vergeltungsschritt durchaus nuklear sein.
Manchmal ist die Geschichte das Ergebnis strategischer Planung, manchmal von
Fehlkalkulationen und Fehlern. Der Frieden, der durch das Konzert Europas
erreicht wurde, war ein Artefakt der Staatskunst. Der Erste Weltkrieg war ein
Unglück, das fast ein halbes Jahrhundert ruinöser Unruhen einleitete. Bretton
Woods und die Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Schöpfungen von
Staatsmännern. Wir leben in einem Zeitalter irrationaler Antagonismen, die aus
strategischen Fehleinschätzungen und Stümperei entstanden sind. Ein
gefährlicher Anfang ist gemacht.
Zwischen den Großmächten in Europa herrscht wieder Krieg, und zwischen den
Vereinigten Staaten und China herrscht offene Feindschaft. Es ist müßig zu
fragen, wer die Schuld daran trägt. Künftige Generationen von Historikern
werden darüber ein Urteil fällen, das über unsere gegenwärtigen Interessen
hinausgeht.
Der Stellvertreterkrieg war ein Fehlschlag
Das internationale System, in dem wir zusammengearbeitet haben und in dem es
uns gut ging, löst sich auf. 73 Jahre lang – von 1944 bis 2017 – wurde die Welt
hauptsächlich durch international vereinbarte Normen, Verpflichtungen und
Konventionen geregelt, die in der Charta der Vereinten Nationen verankert sind.
Dieses System wurde ursprünglich von Washington befürwortet, auch wenn es nicht
unbedingt immer von Washington respektiert wurde. Es funktionierte gut für die
Vereinigten Staaten, bis viele Amerikaner der Meinung waren, daß es das nicht
tat. Dann wählte ein verärgertes amerikanisches Wahlvolk eine populistische
Regierung, die voller Groll über die Zwänge der internationalen Ordnung, in
Staatskunst ungebildet, wirtschaftlich nationalistisch und gegenüber kritischen
ausländischen Meinungen gleichgültig war.
Die derzeitige US-Regierung hat den auf die nationale Sicherheit
ausgerichteten Protektionismus ihres Vorgängers und die wirtschaftliche
Kriegsführung gegen vermeintliche Feinde noch verstärkt. Und sie versucht
hartnäckig, die amerikanische Einflußsphäre in Europa bis an die Grenzen
Rußlands auszudehnen, während sie Moskaus Einwände übergeht und sich weigert,
dessen strategische Bedenken anzuerkennen, geschweige denn darauf einzugehen.
Rußland schlägt immer wieder Verhandlungen über eine Sicherheitsarchitektur in
Europa vor, in der es sich nicht von den Vereinigten Staaten und seinen
europäischen Verbündeten bedroht fühlt und die Europäer ihrerseits sich nicht
von Rußland bedroht fühlen. Die Vereinigten Staaten und die NATO haben sich
stets geweigert, darüber zu reden.
Das erklärte Kriegsziel des Westens ist es, „Rußland zu isolieren und zu
schwächen“. Die Ergebnisse dieser Politik und der zu ihrer Durchsetzung
beschlossenen Sanktionen sind:
- die Abkopplung Rußlands von Europa und Nordamerika und seine
Umorientierung nach China, Indien, dem Nahen Osten und Afrika;
- die Erneuerung der russischen Wirtschaft und die Deindustrialisierung
Deutschlands und anderer Mitglieder der Europäischen Union, die früher von den
russischen Energieexporten abhängig waren; gemessen an der Kaufkraft ist
Rußland heute die größte Volkswirtschaft in Europa;
- die Verdoppelung von Rußlands Verteidigungshaushalt, Streitkräften und
Rüstungsproduktion sowie die Förderung der russischen Entwicklung von
Gegenmaßnahmen zu den Militärdoktrinen und Waffen der NATO;
- die Entfremdung des sogenannten Globalen Südens oder der Globalen
Mehrheit vom Westen und die Isolierung des Westens in den globalen
Institutionen.
Für die Ukraine, deren Aufgabe ihrer Neutralität den Casus Belli für Rußland
lieferte, war der Krieg eine nationale Katastrophe. Die Ukraine hat ein Drittel
ihrer Bevölkerung und eine ganze Generation tapferer Männer im wehrfähigen
Alter verloren. Sie hat bereits ein Fünftel ihres Territoriums verloren und
kann weitere Verluste nicht verhindern. Die Infrastruktur des Landes ist
verwüstet. Vor dem Krieg war die Ukraine das ärmste und korrupteste Land in
Europa. Sie ist weiter verarmt. Krieg fördert die Korruption, und die Ukraine
ist korrupter als je zuvor. Die Demokratie in der Ukraine wurde durch das
Kriegsrecht abgelöst. Die politischen Parteien wurden verboten, die Medien
verstaatlicht und die Wahlen annulliert. Das Land ist heute autoritärer als
Rußland und weit weniger tolerant gegenüber ethnisch-sprachlicher Vielfalt.
Der Stellvertreterkrieg des Westens gegen Rußland war ein Fehlschlag. Er hat
Rußlands globalen Einfluß vergrößert und es militärisch gestärkt. Er hat
Rußland nicht daran gehindert, die Ukraine zu zerstören. Und er hat die Ängste
vor einem größeren Krieg in Europa eher geschürt als zerstreut. Es droht nun
ein Atomkrieg.
Man könnte meinen, daß die Geschehnisse den Westen und die Ukraine dazu
veranlassen würden, das Scheitern nicht länger zu verschlimmern und eine
diplomatische statt einer militärischen Lösung für eine Situation zu suchen,
die zunehmend nicht nur den Frieden und den Wohlstand in Europa gefährdet,
sondern in der auch eine Eskalation bis hin zur nuklearen Ebene droht. Aber
nein.
Die Vereinigten Staaten und die NATO halten an einem rein militärischen
Ansatz zur Gestaltung der europäischen Sicherheit und der Beziehungen zur
Russischen Föderation fest. Der Westen hat keine Strategie, die eine
realistische Aussicht auf die Rückgewinnung der verloren Gebiete der Ukraine
bietet. Die Ukraine läuft Gefahr, noch mehr zu verlieren und damit
möglicherweise ihren Zugang zum Schwarzen Meer zu gefährden. Und es gibt keine
Strategie zur Beendigung des Krieges. Stattdessen schlägt der Westen vor, bis
zum letzten Ukrainer zu kämpfen, und träumt weiter davon, Rußland eine
demütigende Niederlage zuzufügen – genau das Ergebnis, das nach der russischen
Militärdoktrin den Einsatz von Atomwaffen gegen seine Angreifer rechtfertigen
würde. Präsident Selenskij schließt sich dem Westen an und besteht darauf, daß
es keine Verhandlungen mit Rußland zur Beendigung des Krieges geben kann.
Prinzipien des Friedens
Der Kurs, den wir verfolgen, basiert auf Fehleinschätzungen und Fehlern. Es
ist ein Marsch der Torheit, der, wenn er fortgesetzt wird, nur zur Tragödie
führt. Er vernichtet die Ukraine. Er hat uns an den Rand eines Atomkriegs
zwischen den Vereinigten Staaten, der NATO und der Russischen Föderation
gebracht. Aber es ist noch nicht zu spät, einen anderen Weg einzuschlagen.
Schon einmal zitterte die Welt vor der Aussicht auf einen atomaren
Schlagabtausch, der unseren Planeten unbewohnbar gemacht hätte. Das war die
Kubakrise 1962. Sie veranlaßte Präsident John F. Kennedy zu dem Schluß: „Wir
sollten niemals aus Angst verhandeln. Aber wir sollten niemals Angst davor
haben, zu verhandeln.“ Dieser Rat ist heute noch genauso wertvoll wie vor 62
Jahren.
Wir sollten aus dem Kontrast lernen zwischen der Art und Weise, wie die
Napoleonischen Kriege endeten, und der Art und Weise, wie wir den Ersten
Weltkrieg beendeten. Diejenigen, die den Wiener Kongreß einberiefen, waren
darauf bedacht, ihren ehemaligen französischen Feind in die Ausarbeitung dessen
einzubeziehen, was zum „Konzert Europas“ wurde – eine Vereinbarung, die auf
einem Gleichgewicht der Kräfte beruhte und Europa ein Jahrhundert lang
weitgehend in Frieden hielt. Die Sieger des Ersten Weltkriegs dagegen schlossen
sowohl Deutschland als auch Rußland von jeder Rolle bei der Verwaltung des in
Versailles ausgehandelten Friedens aus. Das Ergebnis war der Zweite Weltkrieg,
gefolgt vom Kalten Krieg. Es kann keinen Frieden in Europa geben, der auf der
Ächtung Rußlands oder einer anderen europäischen Großmacht beruht.
In vielerlei Hinsicht hat uns das Scheitern des Friedens in Europa nach dem
Kalten Krieg an einen Punkt gebracht, den Bundeskanzler Scholz eine
„Zeitenwende“ nannte – einen Wendepunkt in der Geschichte, der die Schaffung
einer neuen Ordnung in den internationalen Beziehungen erfordert.
Helga Zepp-LaRouche hat diese Herausforderung mit der verglichen, vor der
die europäischen Nationen nach dem Dreißigjährigen Krieg standen. Es bedurfte
langwieriger Verhandlungen, um die religiösen, territorialen und
Regimewechsel-Impulse zu überwinden, die Mitteleuropa vor dem Westfälischen
Frieden verwüstet hatten. Die Übereinkünfte, die aus diesem Frieden erwuchsen,
leben weiter. Sie wurden von den neuen unabhängigen Staaten der postkolonialen
Ära 1955 in Bandung in Form der „Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz“
bekräftigt. Es handelt sich dabei um die gegenseitige Achtung der territorialen
Integrität und Souveränität, den gegenseitigen Verzicht auf Aggression, die
gegenseitige Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des anderen,
Gleichheit und Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen sowie die friedliche
Koexistenz. Es ist an der Zeit, daß Europa, einschließlich Rußland, dieses
diplomatische Erbe wiederentdeckt und an die Herausforderungen der Zeit
anpaßt.
Das Ergebnis der jüngsten Wahlen zum Europäischen Parlament deutet darauf
hin, daß die Europäer bereit sind, über die Zukunft Europas neu nachzudenken.
Interessanterweise ist es die europäische Rechte, ähnlich wie die amerikanische
Rechte, die durch den ewigen Krieg in der Ukraine am meisten desillusioniert
ist und am unzufriedensten mit dem wirtschaftlichen Niedergang des Westens ist.
Es gibt eine Grundlage für Konferenzen wie die in Münster und Osnabrück, die
den Westfälischen Frieden ausgearbeitet haben, um Prinzipien für eine neue
europäische Ordnung zu erforschen und zu bekräftigen, die der Ukraine Frieden
bringen, die europäisch-amerikanischen Beziehungen für mehr strategische
Autonomie Europas neu gestalten, Rußland zu einer angemessenen Beziehung mit
dem Rest Europas zurückführen und internationale Absprachen zur
Aufrechterhaltung von Sicherheit und Stabilität in Europa schaffen kann. Aber
gibt es Staatsmänner mit der nötigen Vorstellungskraft, Tatkraft und
diplomatischem Geschick, um das zu erreichen?
Wir sollten hoffen, daß es sie gibt. Wenn nicht, sind die Risiken hoch und
die Aussichten düster. Ich freue mich auf eine lebhafte Diskussion unter den
Teilnehmern dieser Konferenz.
Ich danke Ihnen.
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