„Es gibt keine von der Diplomatie unterstützte Vision für den Frieden“
Von Botschafter a.D. Chas W. Freeman
Chas W. Freeman war stellvertretender US-Verteidigungsminister
für internationale Sicherheitsangelegenheiten (1993–1994).
Ich stehe als Amerikaner vor Ihnen. Mir ist sehr bewußt, daß das jüngste
Verhalten meines Landes es seine moralische Autorität gekostet und einen
Großteil der Welt gegen es aufgebracht hat. Einige amerikanische Reisende geben
sich bereits als Kanadier aus, um der Schmach zu entgehen. Zu Hause in Amerika
sucht die Mehrheit Trost und Sicherheit in der Verleugnung oder im vorsichtigen
Schweigen. Wir leben in einer Welt, in der es wichtiger zu sein scheint, wer
etwas sagt, als was gesagt wird. Aber jede Aussage, die nicht mit der
offiziellen Darstellung übereinstimmt, wird sofort als „Desinformation“
gebrandmarkt – ihr wird keine Beachtung geschenkt und sie wird aus den
öffentlichen Aufzeichnungen gelöscht.
Unter diesen Umständen gibt es eindeutig Anlaß zu Selbsttäuschung und
politischer Feigheit – was man als „Vogel-Strauß-Politik“ bezeichnen könnte.
Aber die Realität ist unveränderlich da draußen, ob wir sie anerkennen oder
nicht. Nichts zu sagen und nichts zu tun, kann und wird die Risiken der
gegenwärtigen globalen Krisen nicht mindern. Aber die Initiative zu ergreifen,
ist unerläßlich, wenn wir und unsere Gattung in Frieden überleben und gedeihen
wollen.
Die menschliche Gattung hat sich noch nie einer so großen Gefahr ausgesetzt
wie jetzt. Wenn der Klimawandel unseren Planeten nicht unbewohnbar macht,
könnten mehrere drohende Atomkriege genau das erreichen.
In der bipolaren Weltordnung des Kalten Krieges erinnerte die Kubakrise alle
an die Risiken, die ein nuklearer Schlagabtausch für die menschliche Existenz
mit sich bringen würde. Danach beschlossen die Staats- und Regierungschefs in
Moskau und Washington, einen Krieg zu vermeiden, der auf nuklearer Ebene
eskalieren könnte. In den letzten Phasen des Kalten Krieges schlossen
kooperative Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und China jeden
Gedanken an einen nuklearen Schlagabtausch zwischen den beiden aus. Indien und
Pakistan – ein weiteres nukleares Zweigespann – zeigten, daß Atommächte
gegeneinander kämpfen können, ohne unbedingt auf nuklearer Ebene zu eskalieren.
Aber die Welt hat sich verändert und die „nukleare Allergie“, die zur Vorsicht
veranlaßte, ist nicht mehr das, was sie einmal war.
Die humane Weltordnung, die die Sieger des Zweiten Weltkriegs anstrebten, ist
nicht mehr aktuell. Schwerwiegende Verstöße gegen das Völkerrecht – Invasionen,
Völkermorde, Gebietserweiterungen, grobe Menschenrechtsverletzungen – finden nun
ungestraft statt. In der einseitig festgelegten „regelbasierten Ordnung“, die
das Völkerrecht und den Respekt ablösen, tun die Starken wieder, was sie können,
während die Schwachen leiden. Die Aussage, daß ein Atomkrieg nicht zu gewinnen
ist und niemals geführt werden darf, wurde beiseite geschoben, da alle neun
Atommächte neue Sprengköpfe und Trägersysteme einführen und ihre gegenseitigen
Drohungen eskalieren.
Die Gefahr eines Atomkriegs zwischen der Russischen Föderation und dem
gesamten Westen ist aufgrund von Unachtsamkeit zu einer drohenden Möglichkeit
geworden. China und die Vereinigten Staaten bereiten sich jeweils auf einen
Krieg um Taiwan vor, von dem beide Länder wissen, daß er nuklear werden könnte.
Nordkorea verspricht, auf einen versuchten Regimewechsel mit einem Atomangriff
auf die Vereinigten Staaten zu reagieren. Israel strebt einen Krieg an, um den
Iran als Gegenmaßnahme zu seiner völkermörderischen Politik und territorialen
Expansion zu eliminieren, und schließt den Einsatz seines nuklearen Arsenals
nicht aus, um dies zu erreichen.
Das Fehlen wirksamer Kommunikationsmittel zwischen den Atommächten erhöht das
Risiko. Wichtige Rüstungskontrollabkommen sind ausgelaufen oder wurden
aufgegeben. Niemand versucht, sie zu ersetzen. Es gibt derzeit keine
funktionierenden Mechanismen zur Eskalationskontrolle zwischen atomar
bewaffneten Kriegsparteien. Ein diplomatischer Dialog zwischen den großen
Atommächten findet nur selten oder gar nicht statt.
In seinen vier Jahren als Außenminister hat Antony Blinken Moskau kein
einziges Mal besucht. Der russische Außenminister Lawrow wurde zuletzt vor fünf
Jahren in Washington empfangen. Anstatt einander zuzuhören, tauschen Washington
und Peking unnütze kämpferische Standpunkte aus. Israel und der Iran haben
Washington, Moskau und Peking bei der gegenseitigen Dämonisierung und Ächtung
übertroffen. Da es keine von der Diplomatie unterstützte Vision für den Frieden
gibt, schreitet die weitere Eskalation in der Ukraine, in Westasien, in der
Taiwanstraße und in Korea unvermindert voran.
Die Ukraine hat sich tapfer gegen eine Invasion durch Rußland gewehrt, aber
jetzt den Krieg eindeutig verloren. Sie ist militärisch erschöpft. Der Krieg hat
ihre Infrastruktur verwüstet und ihre Wirtschaft ruiniert. Rußland nimmt immer
mehr von ihrem Territorium ein. Die Ukraine ist entvölkert. Der Westen besteht
weiterhin darauf, daß sie Rußland bis zum letzten Ukrainer bekämpft. Aber die
verbliebenen Ukrainer brauchen Frieden, keinen Krieg.
Um den Krieg ohne weitere Verluste zu beenden, muß die Ukraine zu den
„unannehmbaren“ russischen Bedingungen zurückkehren, denen sie vor zweieinhalb
Jahren in Istanbul zugestimmt hat. Weder der Westen noch die Ukraine haben
realistische Alternativen vorgeschlagen. Statt dessen haben beide Rußland Ziele
unterstellt, die es nie vertreten hat und die es auch nicht erreichen kann –
nämlich die Eroberung der gesamten Ukraine als ersten Schritt zur Eroberung ganz
Europas. Dies ist Propaganda, die die europäische Unterstützung für die
„Schwächung und Isolierung Rußlands“ stärken soll – eine Panikmache, die auf
unbegründeten Vermutungen beruht, die durch die Paranoia des Kalten Krieges
angeheizt wurden.
Die Bedingungen Moskaus für Frieden in der Ukraine und in Europa sind kein
Geheimnis. Sie wurden in der Forderung nach Verhandlungen vom Dezember 2021 klar
dargelegt. Die russische Position war keine Überraschung. Moskau hatte sie
erstmals 1994 geäußert. Aber die Weigerung des Westens, angesichts eines klaren
Ultimatums zu verhandeln, überraschte Moskau. Dies löste zwei Monate später die
sogenannte „besondere Militäroperation“ in der Ukraine aus.
Die erklärten Ziele Rußlands in der Ukraine sind:
- „Entnazifizierung“ und „Entmilitarisierung“ – ein Ende der
Verfolgung von Russen und anderen Minderheiten in der Ukraine und ein Ende der
Sicherheitsbedrohungen für Rußland, die von der Ukraine ausgehen.
- Die Wiederherstellung des neutralen, blockfreien Status, in dem die
Ukraine entstanden ist.
- Verhandlungen mit den USA und anderen Ländern über die Schaffung einer
europäischen Sicherheitsarchitektur, die die Interessen sowohl Rußlands als auch
des Westens berücksichtigt.
Die ersten beiden Ziele entsprechen den Bestimmungen des österreichischen
Staatsvertrags von 1955. Dieser beendete die Besetzung dieses Teils des
ehemaligen Dritten Reiches durch britische, französische, sowjetische und
US-amerikanische Streitkräfte. Er schuf einen unabhängigen, neutralen
österreichischen Staat, in dem die sprachlichen und kulturellen Rechte von
Minderheiten international garantiert wurden. Es wurde eine solide Grundlage für
die heutige prosperierende österreichische Demokratie geschaffen. Es wurde ein
Präzedenzfall geschaffen, auf dem eine neutrale, unabhängige und demokratische
Ukraine aufgebaut werden könnte.
Eine solche Ukraine wäre sowohl ein Puffer als auch eine Brücke zwischen
Rußland und dem Rest Europas. Der EU-Beitrittsprozeß könnte viele der aktuellen
Mißstände der Ukraine heilen – darunter auch die notorische Korruption.
Bemerkenswert ist, daß Rußland nie Einwände gegen die Idee eines Beitritts der
Ukraine zur Europäischen Union erhoben hat.
Die Partnerschaft für den Frieden, der Rußland im Juni 1994 beitrat, hat das
Potential, ein kooperatives Sicherheitssystem für Europa zu werden, das von der
NATO unterstützt wird. Die europäische Geschichte vor dem Kalten Krieg zeigt,
daß Europa ohne die Beteiligung Rußlands an der Verwaltung von Frieden und
Sicherheit nicht stabil sein kann.
Angesichts der Ablehnung der Minsker Abkommen durch Kiew und des Blutes, das
Rußland vergossen hat, um die russischsprachige Bevölkerung in den offiziell
annektierten Gebieten zu schützen, erwartet Moskau, diese Gebiete zu behalten.
Es besteht kaum Zweifel daran, daß dies dem Willen der Einwohner entspricht.
Rußland muß jedoch die Bedenken des Westens hinsichtlich seiner strategischen
Absichten zerstreuen. Dies ist eine Voraussetzung für die Erreichung eines
stabilen Friedens in Europa. Rußland sollte, so widerwillig es auch sein mag, in
Erwägung ziehen, international überwachte Referenden in den von ihm besetzten
Teilen der Ukraine zuzulassen.
In der Ukraine wie auch im Koreakonflikt werden die Verhandlungen
wahrscheinlich erst nach einem Ende der Kämpfe stattfinden. Ein Waffenstillstand
nach koreanischem Vorbild würde die Spannungen und Feindseligkeiten
aufrechterhalten, anstatt einen ukrainischen Frieden zu schaffen, auf dem ein
umfassenderer europäischer Frieden aufbauen kann. Ukrainer und Russen müssen
Grenzen festlegen, die ihnen in Zukunft ein friedliches Zusammenleben
ermöglichen.
Wie im Westfälischen Frieden werden die Verhandlungen komplex sein, Zeit in
Anspruch nehmen und Gespräche in verschiedenen Foren mit unterschiedlichen
Teilnehmern beinhalten. Doch so schwierig sie auch sein mögen,
Verhandlungslösungen für die Ukraine und ein neues europäisches
Sicherheitssystem sind überfällig und dringend erforderlich.
Ich hätte noch mehr zu sagen, aber meine Zeit ist um.
Vielen Dank.
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