„Das Hauptproblem der Europäer ist:
Wir sind in eine Falle getappt“
Von Caroline Galactéros
Caroline Galactéros ist Politikwissenschaftlerin und Oberst der
Reserve in Frankreich. Im ersten Abschnitt der Internetkonferenz des
Schiller-Instituts am 15. Juni sagte sie folgendes. (Übersetzung aus dem
Französischen.)
Guten Abend, meine Damen und Herren, ich freue mich sehr, zu Ihnen sprechen
zu können, und bedaure, daß ich dies aus der Ferne tun muß. Ich möchte dem
Schiller-Institut dafür danken, daß es mich eingeladen hat, einige Fragen zu
beantworten.
Der Einfachheit halber werde ich die Fragen, die mir gestellt wurden,
wiederholen.
Die erste Frage lautete: Was können Sie über die Kriegspropaganda sagen,
sowohl aus europäischer als auch vor allem aus französischer Sicht?
Ich werde mich auf den russisch-ukrainischen Konflikt beschränken, oder
besser gesagt auf den Konflikt zwischen Rußland und der NATO. Es ist
offensichtlich, daß die Propaganda in den letzten zweieinhalb Jahren total,
massiv, permanent, dramatisch in ihren Auswirkungen und Folgen war, sowohl in
Bezug auf die Dynamik des Konflikts selbst – denn sie bringt uns dazu,
Positionen einzunehmen, die auf einem Narrativ basieren, das nicht mit der
Realität übereinstimmt – als auch in Bezug auf die Dynamik und die Folgen, die
sie haben kann, einschließlich der Entwicklung der öffentlichen Meinung, mit
ziemlich direkten politischen Folgen. Ich glaube, wir erleben das gerade jetzt
in Frankreich mit der gestrigen Ankündigung der Auflösung der
Nationalversammlung durch unseren Staatspräsidenten.
In diesem Konflikt wird die Propaganda zunehmend durch die von den
politischen Mächten in Europa und insbesondere in Frankreich wahrgenommene
Notwendigkeit angetrieben, die kriegstreiberische Haltung zu nähren. Je
schlimmer die Lage auf dem Schlachtfeld wird, desto mehr Propaganda kommt
hinzu und erreicht jeden Tag neue Höhen der Absurdität.
Der jüngste Höhepunkt ist natürlich die Erklärung des französischen
Präsidenten, in der gesagt wird, daß Frankreich auf der Seite des Friedens
steht, was sehr schwer zu verstehen ist, wenn man sich die Absichtserklärungen
ansieht, die wir in Bezug auf Waffenlieferungen abgeben, wenn man sich eine
ganze Reihe von Entscheidungen ansieht, die in Bezug auf eingefrorene
russische Guthaben getroffen wurden, in Bezug auf unsere Unterstützung über
das bilaterale Sicherheitsabkommen zwischen der Ukraine und Frankreich usw.
usw. Wir stehen auf der Seite des Friedens, aber in Wirklichkeit nähren wir
den Krieg.
Und es fällt mir schwer zu glauben, daß wir uns der Konsequenzen unserer
Positionen nicht bewußt sind. Eine weitere aktuelle Haltung, die unserer
Glaubwürdigkeit ebenfalls extrem schadet, ist natürlich die Erklärung des
Präsidenten, der erklärte, daß wir, wenn wir Rußlands Einschüchterungspolitik
gegenüber dem Westen nachgegeben hätten, nicht all die Waffen geliefert
hätten, die wir an die Ukraine geliefert haben, und daß die Ukraine deshalb
nicht in der Lage wäre, in der sie sich heute befindet... Ich würde sagen, das
ist der letzte Strohhalm, denn ich stimme Ihnen vollkommen zu! Wären wir
vorsichtig und gemäßigt genug gewesen, der Versuchung nicht nachzugeben, diese
Lieferungen zu tätigen und den Konflikt anzuheizen, wäre die Ukraine nicht in
der Lage, in der sie sich heute befindet, d.h. in einer militärisch und
menschlich äußerst bedenklichen Lage, die ihren Interessen als Land extrem
schadet.
Ein Friedensabkommen war nach einigen Tagen, einigen Wochen des Konflikts
nach dem Beginn der russischen militärischen Sonderoperation ausgehandelt
worden, und es war ein Abkommen, das zerstört wurde – obwohl Präsident
Selenskyj dazu bereit war. Es wurde von uns und insbesondere von den Briten
zerstört, durch Boris Johnson, der kam, um der Ukraine zu erklären, daß sie
dazu da sei, Krieg zu führen und nicht Frieden zu schließen.
Da haben wir es also. Und dann gerieten wir leider in die schreckliche
Spirale, in der wir uns heute befinden. Wir hätten also viel schneller und mit
viel weniger Toten Frieden haben können, mit Hunderttausenden von Toten und
Verwundeten weniger.
Wir befinden uns also in einer Art Schizophrenie: ist es taktisch oder ist
es real? Begeben wir uns in eine zum Scheitern verurteilte, sich selbst
erfüllende Prophezeiung? Ist dies die Strategie des Schlimmsten? Es fällt mir
schwer, das zu glauben. Natürlich gibt es Arroganz, natürlich gibt es
Ignoranz, aber vor allem fehlt es an Verständnis für die militärische Realität
und die tatsächliche Lage des Kräfteverhältnisses.
Mir wurden dann noch zwei weitere Fragen gestellt. Die zweite lautete: Was
könnte Frankreich zu einer positiven Lösung beitragen, aus rein nationaler
Sicht oder darüber hinaus?
Und die dritte Frage: De Gaulle hat sich mehrfach über die französische
Tendenz geärgert, schon vor dem Kampf aufzugeben. Was können wir Ihrer Meinung
nach heute nach den Ergebnissen der Europawahlen tun?
Meine Botschaft kommt zum richtigen Zeitpunkt, nach den Ergebnissen der
Europawahlen und nach der Entscheidung des Präsidenten der Republik, unsere
Nationalversammlung aufzulösen.
Nun, ich denke, daß dies, wie alle Krisen, eine Chance ist, und so sollten
wir es auch sehen. Aber was auch immer die Gründe für diese Auflösung sind,
sie sind nicht unbedingt... sie können sehr taktisch sein. Aber
nichtsdestotrotz befinden wir uns in dieser Situation, und ich denke, es ist
eine Gelegenheit für Frankreich, einen klaren Kurswechsel vorzunehmen. Und das
erfordert natürlich Mut. Aber vielleicht kann eine Kohabitation diese
Kehrtwende ermöglichen.
Paradoxerweise müssen wir diese Kohabitation nutzen und eine ziemlich
radikale Wende in unserer Herangehensweise an den Konflikt vollziehen und
versuchen, uns nützlich zu machen. Und wir machen uns vor allem dann nützlich,
wenn wir eine Macht wie Frankreich sind, eine Atommacht natürlich, aber vor
allem eine, die auf eine große Geschichte zurückblicken kann.
Wir müssen, um uns De Gaulle anzuschließen, eine große Außenpolitik
wiederentdecken. Und um in diesem Konflikt nützlich zu sein, müssen wir uns
natürlich nicht mit Rußland oder irgend jemand anderem verbünden, sondern uns
vielleicht in einer Allianz der Umstände zusammenschließen, die dem
Weltfrieden und der Wiederherstellung der europäischen Sicherheit dienen
würde.
Und dabei denke ich an China, denn mit China könnten wir vielleicht
versuchen, einen Weg der Beschwichtigung zu fördern, nicht indem wir China
erklären, daß es sich von Rußland trennen muß – das wird wahrscheinlich nicht
passieren.
Andererseits, um die Bedingungen eines Abkommens über die Einstellung der
Feindseligkeiten und die Stabilisierung der Sicherheit in Europa zu
definieren, was ja das Hauptproblem der Europäer ist: Wir sind sicherlich in
eine Falle getappt, eine doppelte Falle, und Europa ist eindeutig ein
amerikanischer Stellvertreter in diesem Konflikt, ebenso wie die Ukraine.
Nicht wie die Ukraine, die unglückliche Ukraine; aber wir sind direkt
dahinter, und das ist das Dramatischste. Wir müssen aus dieser Abwärtsspirale
herauskommen, die auch extrem gefährlich wird, weil wir die russischen
Positionen nicht abschätzen oder verstehen.
Und auf dieses Verständnis müssen wir uns zubewegen.
Es gibt eine Reihe von Punkten, die heute bereits von großen Diplomaten
angesprochen und aufgelistet wurden, von Menschen, die durchaus in der Lage
sind zu verstehen, wie die Bedingungen für ein realistisches Abkommen aussehen
würden, das die Einstellung der Feindseligkeiten in der Ukraine ermöglicht und
das schützt, was von der Ukraine und ihrer Bevölkerung heute noch übrig
ist.
Das ist alles, was ich sagen wollte. Ich bedauere nochmals, daß ich nicht
an den Debatten und den verschiedenen Fragen teilnehmen kann, aber das wird
sicherlich ein anderes Mal der Fall sein, wenn ich hoffentlich die Gelegenheit
habe, persönlich anwesend zu sein. Vielen Dank, und ich wünsche Ihnen eine
sehr gute Konferenz.
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