Deutschland muß seine eigenen Interessen verfolgen
Folker Hellmeyer Chefvolkswirt der Netfonds AG (Deutschland),
gab Helga Zepp-LaRouche das folgende Interview als Beitrag zur
Internetkonferenz des Schiller-Instituts am 15. und 16. Juni. Es wurde aus dem
Englischen übersetzt.
Helga Zepp-LaRouche: Hallo, Herr Hellmeyer, ich freue mich
sehr, daß Sie uns die Ehre geben, an dieser Konferenz teilzunehmen, denn Sie
sind mit Ihren Ansichten in diesen Tagen eher wie ein einsamer Rufer in einem
Meer von Unvernunft in Deutschland. Ich möchte Sie nach dem Interview fragen,
das Sie vor einigen Tagen der Schwäbischen Zeitung gegeben haben, worin
Sie unter der Überschrift „Quo Vadis Deutschland“ davor gewarnt haben, daß
Deutschland vor die Wand fährt. Können Sie Ihre Befürchtungen bitte
erläutern?
Folker Hellmeyer: Ja, zunächst einmal vielen Dank, daß ich
hier sprechen kann, und ich wünsche Ihnen alles Gute, um in dieser Welt etwas
zu verändern, denn das ist dringend nötig.
Es gibt drei Themen, die Deutschland betreffen. Das erste Thema ist
Energie. Unsere Energiepreise sind im internationalen Vergleich nicht
wettbewerbsfähig. Deshalb haben wir hier einen Standortnachteil. Die
Versorgungsprobleme im Energiebereich sind langfristig nicht gelöst, und diese
beiden Probleme spielen eine große Rolle bei den Kapitalinvestitionen. Nur mit
ständigen Kapitalinvestitionen können Volkswirtschaften florieren.
Das nächste Problem ist, daß die Sanktionspolitik, die nicht im Einklang
mit dem WTO-Recht steht – Sanktionen, bei denen wir den Vereinigten Staaten,
dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union folgen –, unser
Geschäftsmodell in hohem Maße einschränkt, da wir wichtige Importmärkte und
auch Exportmärkte verlieren. Das untergräbt unser Geschäftsmodell hier in
Deutschland und in Europa.
Der dritte Punkt betrifft das Vertrauen. Die deutsche Wirtschaft hat das
Vertrauen in unsere Politiker verloren. Wenn man kein Vertrauen hat,
investiert man nicht. Daher erodiert der Kapitalstock hierzulande, und das ist
es, was wir sehen. Deutschland ist in der Weltrangliste für
Wettbewerbsfähigkeit von 2014 bis 2023 von Platz 5 auf Platz 22
zurückgefallen. Das ist eine Aufforderung an die deutschen Politiker und auch
an die Politiker der Europäischen Union, in vielen Fragen eine Kehrtwende zu
vollziehen – sei es in der Außenpolitik oder bei den Kapitalinvestitionen, und
daß wir unsere eigenen Interessen und nicht die Interessen Dritter
verfolgen.
Zepp-LaRouche: Wenn man das, was in Deutschland diskutiert
wird, mit dem vergleicht, was auf der internationalen Bühne passiert, ist die
Diskrepanz erstaunlich. Es sind tektonische Verschiebungen im Gange, mit den
BRICS formiert sich ein ganz neues System. Sie vertreten zunehmend die
Mehrheit der Weltbevölkerung, des weltweiten BIP. Warum sehen die Menschen in
Deutschland und Europa nicht das unglaubliche Potential, das in einer
einfachen Zusammenarbeit mit dieser neuen, aufstrebenden Gruppe von Ländern
liegen würde?
Hellmeyer: Die Antwort ist ganz einfach. Natürlich kann man
das sehen, und einige Ökonomen wie ich haben das schon sehr früh gesehen, und
wir waren schon lange in Kontakt. Wir haben darüber gesprochen – die
Seidenstraße, die BRICS, all diese Themen hängen zusammen. Tatsache ist, daß
die westliche Welt ihre Machtposition in der Welt nicht verlieren will. Im
Jahr 1980 hatte die westliche Welt einen Anteil von 80 Prozent am weltweiten
BIP, bei vergleichbarer Machtparität. Heute sind wir auf etwa 30 Prozent
gefallen. Der Globale Süden ist also von 20% auf jetzt 70% gestiegen, aber er
wächst jedes Jahr um 100-150% stärker als die westliche Welt. Sie werden also
in absehbarer Zeit 75% bis 80% erreichen. Das ist eine wirtschaftliche und
finanzielle Machtverschiebung, die bereits stattgefunden hat.
Bisher waren alle diese Länder des Südens auf sich allein gestellt. Sie
hatten keinen Einfluß auf die Weltpolitik. Jetzt, wo sich die BRICS formieren
und erweitern – ich glaube, es gibt 40 weitere Länder, die beitreten wollen –,
werden sie zu einem wichtigen Akteur. Deutschland handelt nicht im eigenen
Interesse, indem es auf den Globalen Süden und die BRICS-Länder zuginge,
sondern folgt den Vorgaben aus New York und Washington und auch aus London.
Das ist ein großer Fehler, denn am Ende gewinnen wir vielleicht eine Schlacht,
aber wir verlieren den Krieg. Durch den Einsatz von Mitteln, die außerhalb des
Rahmens des legalen Geschäfts in der Welt liegen – zum Beispiel der WTO, der
Welthandelsorganisation – verlieren wir jeden Tag das Ansehen des Globalen
Südens. Wir schaden uns also selbst, wenn wir dabei nicht mitmachen, und ich
weiß das, weil ich mich sehr bemüht habe, uns auf den Weg der BRICS zu
bringen, auf den Weg der Chancen. Das hat nicht sehr gut funktioniert, um es
sehr diplomatisch auszudrücken.
Zepp-LaRouche: Ich kann Ihnen nur zustimmen, daß das Ansehen
Deutschlands sehr schnell sinkt. Ich spreche mit vielen Leuten. Heute ist der
letzte Tag des Internationalen Wirtschaftsforums in St. Petersburg mit 19.000
Teilnehmern aus 130 Ländern. Es wurde über 850 große Geschäftsabschlüsse
berichtet. Man kann also nicht sagen, daß Rußland isoliert ist. In diesem Jahr
hat Rußland den BRICS-Vorsitz inne, und im Oktober findet der nächste große
BRICS-Gipfel statt, bei dem wahrscheinlich viele neue Länder den BRICS
beitreten werden. Warum können wir diese Realität nicht irgendwie in die
Diskussion in Deutschland einbringen?
Hellmeyer: Um etwas in die Diskussion zu bringen, braucht man
die Medien. Die Medien verweigern sich den Diskussionen, die von Berlin gerade
in Hinsicht der internationalen Politik unerwünscht sind. Ich habe
diesbezüglich meine persönlichen Erfahrungen.
Werfen wir einen Blick auf das St. Petersburger Wirtschaftsforum. Es ist
ein großer Erfolg. Und ich behaupte ganz klar, daß der Westen seit 1944, als
der IWF und die Weltbank in Bretton Woods gegründet wurden, noch nie so
isoliert war. Im Grunde ist jedes einzelne Ziel, das der Westen nach dem 24.
Februar 2022 verfolgte, nach hinten losgegangen. Insbesondere haben wir
Rußland wirtschaftlich nicht in die Knie gezwungen; statt dessen blüht seine
Wirtschaft. Unsere Wirtschaft in Europa leidet.
Zweitens, es gibt keine internationale Isolation Rußlands. Es gibt aber
eine Isolation zwischen dem Westen und dem Globalen Süden, die sich latent
verschärft. Wenn Sie sich die Handelsströme zwischen dem Globalen Süden und
Rußland ansehen, haben sie zugenommen. Die von Europa sind zurückgegangen.
Wenn Sie all diese Dinge zusammen betrachten, werden wir diese Märkte für
einen sehr langen Zeitraum verlieren. Und es gibt noch ein weiteres Problem.
Die Globalisierung hat die Armut in der Welt verringert, doch heute
de-globalisieren wir im Grunde genommen; wir spalten den Westen vom Globalen
Süden durch die von den USA gesteuerte Politik, die von der Europäischen Union
übernommen wurde. Wir entfernen uns von der Globalisierung und verlieren damit
potentielles Wachstum. Der Globale Süden mit den BRICS, der Shanghaier
Organisation für Zusammenarbeit und der RCEP [Regional Comprehensive Economic
Partnership] hingegen globalisiert weiter. Daher haben sie in Zukunft höhere
potentielle Wachstumsraten. Sie sind klug, und für mich ist das Forum in St.
Petersburg eine Bestätigung dafür. 130 Länder sind dort vertreten; und es gibt
193 Länder in den Vereinten Nationen. Das spricht für sich.
Zepp-LaRouche: Ich stimme Ihnen zu, aber zum Glück gibt es
eine Stimme der Vernunft, nämlich Papst Franziskus, der gerade eine neue
internationale Finanzarchitektur gefordert hat. Er hat dies in den Kontext des
Heiligen Jahres 2025 gestellt, das immer ein Thema war, um einen Schuldenerlaß
für die Entwicklungsländer zu fordern. Vielleicht paßt das zu den aktuellen
Bestrebungen der BRICS, eine neue Finanzwährung, eine neue
Finanzhandelswährung, vielleicht sogar eine Reservewährung zu schaffen und die
Funktion der Neuen Entwicklungsbank, die ihren Sitz in Shanghai hat,
auszuweiten. Könnten Sie dazu etwas sagen?
Hellmeyer: Ja. Wenn Sie sich die Anteile am Welt-BIP
anschauen, habe ich erwähnt, daß der Globale Süden bei 70 Prozent liegt. Wenn
man sich die Qualität der statistischen Daten anschaut, dann hatte der Westen
in der Vergangenheit – in den 50er, 60er, 70er, 80er, 90er und 2000er Jahren –
immer bessere Strukturdaten. Es gab die lateinamerikanische Krise, die
Fernostkrise usw. und der Globale Süden hatte schwache Strukturdaten. Auch das
hat sich geändert. Es ist also eine Veränderung in der Quantität und in der
Qualität.
Jetzt bauen sie Strukturen auf, um ihre wirtschaftliche Macht und ihre
Qualität in Modelle einzubringen, die es erlauben, auf ausgewogene Art und
Weise miteinander umzugehen. Das westliche System mit dem IWF und der Weltbank
war immer ein Mittel, um westliche Interessen durchzusetzen. Und es ist
bekannt, daß für eine Entscheidung des IWF oder der Weltbank eine Zustimmung
von 85 Prozent erforderlich ist. Die USA haben eine Sperrminorität, also
können sie alles stoppen, was sie wollen. Mit der Neuen Entwicklungsbank und
all diesen Themen haben wir jetzt die Chance, neue Strukturen zu schaffen. Es
wird Zeit brauchen, und ich empfehle dem Süden, sich Zeit zu nehmen, harte und
gute Arbeit zu leisten und nicht zu schnell zu sein. Schauen Sie sich den Euro
an, das war ein schneller Weg, nicht der beste, sondern ein schneller Weg.
Zepp-LaRouche: Vor ein paar Tagen hat Harald Kujat, der
ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr und frühere Vorsitzende des
NATO-Militärausschusses, gewarnt, daß sich der Ukraine-Krieg zur Urkatastrophe
des 21. Jahrhunderts entwickeln könnte, eine eindeutige Anspielung auf den
Ersten Weltkrieg, der diese Funktion für das 20. Jahrhundert hatte. Viele
internationale Experten wie Scott Ritter, Jeffrey Sachs, Prof. Mearsheimer und
andere warnen ebenfalls vor der Gefahr, daß sich die Krise bzw. der Krieg zu
einem globalen Atomkrieg ausweiten könnte. Was ist Ihre Meinung dazu, und was
muß getan werden, um das zu verhindern?
Hellmeyer: Ich sehe diese Gefahr, weil sich die Mentalität in
Europa geändert hat – die Mentalität der Politiker. Die Lehren aus dem letzten
Jahrhundert werden nicht mehr gezogen, nein. Was wir in der Ukraine-Krise
sehen, ist eine ständige Eskalation durch den Westen. Wir erreichen nicht die
Ziele, die wir erreichen wollen, und sobald wir das sehen, eskalieren wir
einfach. Das erinnert mich an Christopher Clarks Buch über den Ersten
Weltkrieg, wie die Länder in den Ersten Weltkrieg gezogen sind. Wir sind genau
auf dem gleichen Weg. In dieser Hinsicht stimme ich voll und ganz mit Scott
Ritter, Jeffrey Sachs, John Mearsheimer und einigen anderen überein. Das ist
meine größte Sorge für die Zukunft.
Die Wirtschaft ist das eine. Sollen wir die Welt wegen der Ukraine
zerstören? Und es ist ja nicht wegen der Ukraine. Die Ukraine ist ein Opfer
der Politik des Westens, der nach der Weltmacht greift, während seine
Grundlage für die Weltmacht im Bereich der Wirtschaft und der Finanzen
schwindet. Das ist das Hauptproblem. Es geht um Macht; mit Menschlichkeit hat
das nichts zu tun, nicht mit der Moral, die wir verbal an den Tag legen.
Unsere wahren Farben sind andere.
Zepp-LaRouche: Vielen Dank, und lassen Sie uns daran
arbeiten, das zu verhindern.
Hellmeyer: In der Tat, und ich wünsche Ihnen das Allerbeste.
Ich möchte Ihnen für all Ihre Bemühungen danken, die Sie in den letzten
Jahrzehnten unternommen haben, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
Ich danke Ihnen.
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