„Wir müssen die Lehre aus dem Westfälischen Frieden ziehen“
Von Helga Zepp-LaRouche
Helga Zepp-LaRouche ist Vorsitzende des Schiller-Instituts und
Mitinitiatorin der Internationalen Friedenskoalition. In der Pressekonferenz
„Die Gefahr eines Atomkrieges ist real und muß gestoppt werden“ am 12. Juni
sagte sie folgendes.
Ich danke Ihnen. Wir haben jetzt das zweite [russische] Manöver, bei dem
der Einsatz von taktischen Atomwaffen geprobt wird. Das ist kein
Routinemanöver, sondern explizit eine Reaktion auf westliche Provokationen –
wie Macrons Ankündigung, Truppen in die Ukraine zu schicken, Camerons
Erlaubnis, daß die Ukrainer alle Waffen für Schläge auf russisches Territorium
einsetzen können, und natürlich der Angriff auf das Frühwarnradarsystem. Das
läuft jetzt gerade. Heute ist auch eine russische Schiffsflottille in Kuba
eingetroffen: eine Fregatte, ein Atom-U-Boot und zwei weitere Schiffe. Es
steht außer Frage, daß wir uns gerade in einer umgekehrten Kubakrise befinden,
nur daß diese aus den teilweise bereits genannten Gründen viel gefährlicher
ist als die erste Kubakrise.
Das schlimmste Problem ist, daß die westlichen Institutionen sich
eingeredet haben, daß Rußland nur blufft, egal was es tut. Gleichzeitig wird
der Bevölkerung nicht gesagt, daß das, was von Seiten der NATO geschieht, in
Wirklichkeit ein nukleares Hasardspiel ist, bei dem die Grenzen immer weiter
hinausgeschoben werden und ständig rote Linien überschritten werden, und wir
tatsächlich am Rande einer möglichen Katastrophe stehen.
Ich möchte auf eine Lösung hinweisen, die von Dennis [Speed] erwähnt wurde:
Wir müssen unbedingt die gesamte Sichtweise ändern. Wir müssen zu einem neuen
Paradigma übergehen, und der offensichtlichste Bezugspunkt ist der
Westfälische Friede, der 150 Jahre Religionskriege in Europa beendete.
Er kam zustande, weil die Kriegsteilnehmer erkannten, daß, wenn sie
weitermachen würden, niemand mehr überleben würde, um den Sieg zu genießen.
Denn zu diesem Zeitpunkt waren bereits ein Drittel aller Dörfer, Menschen und
Tiere zerstört, und eine Fortsetzung hätte alle anderen vernichtet. Und auch
jetzt, in der Zeit der Atomwaffen, ist klar, daß, wenn es jemals zu einem
Atomkrieg käme, niemand mehr übrig wäre, der überleben und den Sieg genießen
könnte.
Nun gibt es eine Debatte darüber, daß es nicht so tödlich sein wird, daß
man einen taktischen Atomkrieg führen kann. Aber ich denke, man sollte die
Schriften von Ted Postol studieren, der sehr klar herausgearbeitet hat, was
der grundlegende Unterschied zwischen einem konventionellen Krieg und einem
Atomkrieg ist. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß es zu einem totalen,
globalen Krieg kommt, in dem alle Atomwaffen eingesetzt werden, gefolgt von
einem wahrscheinlich zehnjährigen nuklearen Winter, in dem alles Leben auf dem
Planeten ausgelöscht wird, so daß nicht einmal ein Historiker übrigbleibt, um
zu untersuchen, wie es dazu kommen konnte.
Deshalb müssen wir die Lehre aus dem Westfälischen Frieden ziehen. Wir
sollten sofort eine neue Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur schaffen,
die die Interessen eines jeden Landes auf dem Planeten berücksichtigt. Denn
das ist die Lehre aus dem Westfälischen Frieden: Wenn man die Interessen der
anderen – und das heißt aller anderen – nicht berücksichtigt, ist Frieden
unmöglich. Wann immer dieses Prinzip angewandt wurde, führte es zum Frieden.
Wenn es nicht angewandt wurde, wie im Versailler Vertrag, war das nur ein
Sprungbrett für den nächsten Krieg, in diesem Fall der Zweite Weltkrieg.
Der Westfälische Friede ist also ein Modell für eine solche Konferenz, und
ich habe zehn Grundsätze verfaßt, um den Menschen eine Vorstellung davon zu
vermitteln, was eine solche neue Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur
unbedingt berücksichtigen muß. Ich würde alle bitten, diese Zehn Prinzipien zu
lesen.1 Ich halte sie für absolut machbar.
Was wäre nun die Institution, die eine solche Idee umsetzen könnte? Nun,
wenn nichts anderes hilft, muß es der UN-Vollversammlung vorgelegt werden,
denn es betrifft alle Menschen auf der Erde, ob wir leben oder sterben
werden.
Die chinesische Regierung hat bereits mehrere Vorschläge gemacht. Xi
Jinping hat die Globale Sicherheitsinitiative, die Globale
Entwicklungsinitiative und die Globale Zivilisationsinitiative vorgeschlagen,
die genau diesen Ansatz verfolgt: eine allumfassende Idee, an der alle
Nationen beteiligt sein müssen.
Auch der jüngste brasilianisch-chinesische Vorschlag für eine
Ukraine-Friedenskonferenz ist allumfassend, im Gegensatz zur Schweizer
Bürgenstock-Konferenz, die zum Scheitern verurteilt ist, weil Rußland nicht
zur Teilnahme eingeladen ist und weil sie auf einer Prämisse beruht, die in
keinem Fall zu einem Ergebnis führen kann.
Ich denke also, wir sind an einem Punkt angelangt, an dem die Völker der
Welt aufgerufen sind, ihre Stimme einzubringen. Denn schon auf der Konferenz
von Bandung 1955 sagten die Präsidenten Sukarno und Nehru: Wenn es jemals zu
einem Weltkrieg kommen sollte, werden die Länder des Globalen Südens
vielleicht ein paar Wochen später sterben, aber sie werden auf jeden Fall
sterben. Deshalb ist die Frage von Krieg und Frieden nicht nur eine
Angelegenheit der NATO oder eines Militärisch-Industriellen Komplexes oder was
auch immer. Es ist eine Frage eines jeden Bürgers auf der Welt, der aufgrund
der Natur eines globalen Krieges als Weltbürger handeln muß.
Deshalb denke ich, daß wir eine öffentliche Debatte über eine solche Idee
führen müssen, denn wenn wir mit der geopolitischen Konfrontation
weitermachen, ist es nur eine Frage der Zeit, wann es zu spät ist. Aber wir
sind die intelligente Gattung, wir sind die kreative Gattung, und deshalb
sollten wir darauf vertrauen, daß wir für ein so absolut existentielles
Problem wie die tödliche Bedrohung unserer Existenz eine Lösung finden
können.
Anmerkung
1. Siehe https://solidaritaet.com/neuesol/2022/48/hzl.htm
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