Den Dialog für das Gemeinwohl suchen
Von Dr. Olga Lasorkina
Dr. Olga Lasorkina ist Leiterin der Abteilung für Außenpolitik
des Belarussischen Instituts für Strategische Forschung (BISR).
Vielen Dank. Ich möchte den Veranstaltern für die Einladung danken, auf
dieser Konferenz zu sprechen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Länder
waren immer durch die Geographie, durch große Entfernungen getrennt, aber das
war nie ein Hindernis für die normale menschliche Kommunikation. Hier in
Belarus verstehen wir, daß heute jedes Land seine politischen, wirtschaftlichen
und analytischen Prioritäten setzt, aber wir leben alle auf einem Planeten. Wir
sind verantwortlich für alles, was passiert. Deshalb ist es so wichtig, nicht
nur unsere Prioritäten zu verkünden, sondern auch eine gemeinsame Basis mit
anderen zu finden. Darin sehe ich die Aufgabe unseres Landes: Unter allen
Umständen den Dialog für das Gemeinwohl zu suchen.
Ich möchte Ihnen einige Trends vorstellen, die die globale und regionale
Agenda für Belarus bestimmen. Die Analyse der gegenwärtigen globalen
wirtschaftlichen und politischen Prozesse zeigt, daß die Welt in eine Phase der
Transformation eingetreten ist, die in vielerlei Hinsicht unvermeidlich war.
Viele Veränderungen, denen wir nicht immer Bedeutung beigemessen haben, haben
nun eine kritische Masse erreicht und Prozesse in Gang gesetzt, die wir nicht
mehr aufhalten können. Wir sehen eine geopolitische Konfrontation, die zu einer
weiteren Eskalation großen Ausmaßes zu werden droht, die auf der Erschöpfung
der ideologischen und wertebezogenen Narrative der westlichen Welt beruht. Sie
sind zu einem echten Entwicklungshindernis geworden, nicht nur für ihre
Anhänger, sondern auch für die Länder, die sie einst respektiert haben.
Die wirtschaftliche Globalisierung, die von den meisten Ländern als ein
Element des gemeinsamen Zukunftsbildes wahrgenommen wird, hat sich in einen
gewaltigen Mechanismus des Drucks und der Hemmung der wirtschaftlichen
Entwicklung verwandelt. Wir sehen jedoch in diesem Rahmen auch positive Trends:
Die Bedeutung nationaler Interessen, der Souveränität, der Bewahrung der
Vielfalt der Kulturen und Traditionen hat zugenommen.
Zum ersten Mal seit 1945 steht die Weltgemeinschaft vor einem neuen Krieg.
Das Schlimmste daran ist, daß jeder weiß, wie er enden könnte, aber nichts
unternimmt, um diesen gefährlichen Weg zu stoppen. Seit vielen Jahren arbeiten
wir mit einer Vielzahl von Partnern zusammen und vertrauen auf die Formeln der
friedlichen Koexistenz. Niemand kann uns vorwerfen, dieses Rezept nicht
ausprobiert zu haben. Das Ergebnis ist niederschmetternd. Doppelte Standards
durchziehen die Demokratie. Die Welt ist in einem Netz von Sanktionen
gefangen.
Im Jahr 2023 gab es 183 regionale Konflikte, das ist der höchste Stand seit
30 Jahren. Das läßt den Schluß zu, daß die großen Ideen der Demokratie am
Ende sind, und dies wird die Weltgemeinschaft teuer zu stehen kommen. Das
Konfliktpotential hat sich als stärker erwiesen als der Pragmatismus, der
Ehrgeiz als stärker als die Vernunft. Wir sehen, daß der Kampf um die
Ressourcen, die Einfluß auf die staatliche Nutzung haben, die Weltgemeinschaft
überfordert. Deshalb suchen alle Staaten nach neuen Formaten des
Zusammenlebens, und dabei geht es nicht darum, jemanden auszuschalten, sondern
darum, die vernünftigen Kräfte in der Weltpolitik zu beurteilen und diejenigen
zu identifizieren, die das Potential haben, in die Zukunft zu gehen.
Die Forderung nach einer Neugestaltung der Weltordnung ist überfällig. Die
Multipolarität hält Einzug in die weltwirtschaftlichen und weltpolitischen
Prozesse. Diese Bewegung läßt sich nicht mehr verlangsamen, geschweige denn
aufhalten. An der Seitenlinie will heute niemand mehr stehen.
Seit vielen Jahren spricht Belarus von den internationalen Tribünen über die
Zerstörung des Völkerrechts und des Kanons der Diplomatie. Heute sehen wir auch
ein gezieltes Vorgehen zur Entwertung der internationalen Institutionen, der
Mechanismen zur Stabilisierung der Situation, der Autorität und vor allem der
unglaublichen Arbeit der gesamten Weltgemeinschaft.
Belarus ist sich wie kein anderes Land der Gefährlichkeit der gegenwärtigen
Situation bewußt. Unser Volk hat zwei Weltkriege erlebt. Der Beitrag unseres
Landes zur Erhaltung von Frieden, Stabilität und Schaffung gleicher Bedingungen
für alle Länder im Rahmen der Vereinten Nationen und anderer internationaler
Organisationen ist kaum zu überschätzen. Es gibt keine internationale
Initiative, zu der Belarus nicht Stellung genommen hat. Die internationale
Anerkennung unseres Landes als unabhängiger Staat in den 1990er Jahren war
beispiellos, und das ist vor allem unserer enormen Arbeit auf internationalen
Plattformen zu verdanken. Wir haben in den 90er Jahren nicht nur unsere
Unabhängigkeit bewahrt, sondern auch aktiv an der Lösung verschiedener Probleme
mitgewirkt.
Seit dem Angriff auf die Vereinigten Staaten am 11. September 2001 ist der
Terrorismus zu einem internationalen Problem geworden. Die USA riefen die
Weltgemeinschaft zur Bildung einer internationalen Koalition gegen den
Terrorismus auf. Diesem Aufruf schlossen sich fast alle Länder an, darunter
auch Belarus. Heute sehen wir jedoch deutlich, daß die Sicherheitslage in
unserer Region keine geopolitischen Phrasen erfordert, sondern spezielle
Fähigkeiten – ein tiefes Verständnis der Probleme in ihrem historischen Kontext
und Verantwortung. Wir spekulieren nicht, sondern schlagen wie bisher konkrete
Aktionspläne vor, die auf realen Möglichkeiten beruhen.
Vor dem Hintergrund einer tiefen Vertrauenskrise, die globale Ausmaße
angenommen hat, ist es von entscheidender Bedeutung, die einzige Struktur zu
präsentieren, die eine anerkannte und maßgebliche Plattform für die Begegnung
von Vertretern mit gegensätzlichen Ansichten und Meinungen darstellt. Es stimmt
zwar, die Realität sieht heute so aus, daß die Mechanismen der Vereinten
Nationen nicht immer funktionieren, aber das bedeutet nicht, daß sie nicht
genutzt werden können. Wir sind auch auf der Suche nach anderen internationalen
Plattformen, die das Potential haben, in verschiedenen Bereichen für Stabilität
zu sorgen. Der Werteblock des Zusammenschlusses – Solidarität, Kooperation und
Partnerschaft – entspricht den Bedürfnissen der meisten Länder. Ich denke an
die BRICS, an die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU): Sie sind auf dem Weg,
alternative Mechanismen der weltwirtschaftlichen Entwicklung zu schaffen, ohne
die bestehenden zu verwerfen. Wir bauen strategische Beziehungen zu Rußland
auf. Die Union ist ein organischer Zusammenschluß, der auf einem soliden
Fundament von Freundschaft und Kontinuität beruht. Sie ist sogar der einzige
Zusammenschluß in unserer Region, der über eine solide und bewährte
Rechtsgrundlage für die Zusammenarbeit verfügt, die es uns ermöglicht, unsere
Souveränität zu wahren, unsere internationale Rechtspersönlichkeit zu stärken
und unsere Wirtschaft im Einklang mit den globalen Trends zu entwickeln.
Natürlich sind wir nicht losgelöst von der Tragödie, die sich an unseren
Grenzen abspielt. Der belarussische Präsident hat wiederholt seine
Vorstellungen zur Lösung der Krise dargelegt. Der belarussische Außenminister
Sergej Aleinik hat betont, daß die Plattform für Verhandlungen immer offen ist.
Das liegt in unserem gemeinsamen Interesse. Es gibt heute kein wichtigeres
Thema für unser gemeinsames europäisches Haus. Wir sind sicher, daß es keine
Verhandlungen ohne Belarus geben kann und daß es keine regionale Sicherheit
ohne Belarus geben kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das heutige Treffen zeigt die Bemühungen der
rationalen Kräfte, darunter Wissenschaftler, Analytiker und Experten, die
Weltlage mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu stabilisieren.
Jedes Land hat seinen eigenen Wert. Belarus bereitet sich darauf vor, seine
einzigartige Entwicklungsstrategie zu überprüfen, die auf Vertrauen,
Vertragsfähigkeit und progressivem Fortschritt basiert. Vielen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit.
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