Die NATO-Osterweiterung war ein großer Fehler
Von Botschafter a.D. Jack Matlock
Jack Matlock war von 1987-91 Botschafter der Vereinigten Staaten
in der Sowjetunion. In der Konferenz des Schiller-Instituts am 2. Oktober sagte
er folgendes.
Vielen Dank. Helga (Zepp-LaRouche) hat die Situation so gründlich und genau
beschrieben, daß ich nur noch einige ihrer Punkte näher ausführen muß.
Zunächst möchte ich sagen, daß einer unserer Historiker den Ersten Weltkrieg
als einen „Schlafwandler-Krieg“ Europas im Jahr 1914 beschrieben hat. Daran
erinnert mich die aktuelle Situation, weil all die Entwicklungen wie von selbst
voranschreiten: der Krieg in der Ukraine, wo die Westmächte praktisch einen
Krieg gegen Rußland führen, dann die Gewalt in Westasien, mit einem Angriff auf
die Menschen in Gaza, der nur als Völkermord bezeichnet werden kann, und nun die
wachsenden Feindseligkeiten zwischen dem Iran und Israel und Israels Invasion
des Libanon. Und dann haben wir Asien, noch nicht mit so viel Gewalt, aber
Berichten, daß hochrangige amerikanische Militärs von der Vorbereitung eines
Krieges mit China sprechen, falls es zu einer chinesischen Invasion in Taiwan
kommt.
Ich halte das alles für eine unglaublich gefährliche Situation, und wenn ich
auf eine unserer früheren Krisen zurückblicke, muß ich daran denken, wie ich
während der Kubakrise in der amerikanischen Botschaft in Moskau war. Ich half
bei der Übersetzung einiger der Botschaften, die Chruschtschow an Kennedy
richtete, und wenn wir darauf zurückblicken, stellen wir fest, daß wir damals
einem Atomkrieg sehr nahe gekommen sind. Es gab bestimmte Entscheidungen, die,
sagen wir mal, von einigen der rangniedrigeren Militärbeamten getroffen wurden,
die den Einsatz von Atomwaffen verhinderten.
Ich würde auch sagen, daß die Diplomatie, die wir Ende der 1980er Jahre bis
1991 zur Beendigung des Kalten Krieges eingesetzt haben, seit dem Ende des
Kalten Krieges praktisch rückgängig gemacht wurde. Wir haben nicht die Lehre aus
dem Zweiten Weltkrieg gezogen, als die Vereinigten Staaten darauf bestanden, daß
Deutschland und Frankreich das Kriegsbeil begraben und statt dessen
zusammenarbeiten, anstatt neue Kriege zu beginnen.
Am Ende des Kalten Krieges hätten wir darauf bestehen sollen, daß eine
europäische Struktur aufgebaut wird, die allen neuen unabhängigen Ländern,
einschließlich Rußland, Sicherheit garantiert. Statt dessen haben wir einfach
mit der Erweiterung der NATO begonnen.
Die NATO wurde gegründet, um einem möglichen sowjetischen Angriff auf
Westeuropa standzuhalten. Und wenn es einen solchen Angriff gegeben hätte, hätte
das eine Katastrophe sein können, weil in der Region bereits taktische
Atomwaffen stationiert waren. Es wäre unmöglich gewesen, diese Waffen
einzusetzen, ohne ebendie Gebiete zu zerstören, die wir eigentlich verteidigen
sollten. Gott sei Dank kam es nie dazu.
Aus den historischen Aufzeichnungen geht hervor, daß die Sowjets nie die
Absicht hatten, Westeuropa anzugreifen. Sie hatten zwar Pläne, wie sie reagieren
würden, wenn wir sie angreifen würden, aber nach dem Reaktorunfall von
Tschernobyl 1986 wurde selbst den sowjetischen Militärführern klar, daß ein
Atomkrieg für alle eine Katastrophe wäre.
Bei ihrem ersten Treffen waren sich Präsident Reagan und der damalige
Generalsekretär Gorbatschow einig, daß ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann,
nicht geführt werden darf und es daher keinen Krieg zwischen uns geben kann. Und
sie verhandelten weiter: Die beiden hofften, daß sie die Atomwaffen abschaffen
können. Das stellte sich jedoch als unmöglich heraus.
Ich erinnere mich, daß wir in dieser Zeit, als wir uns bemühten, Europa
besser zu schützen, zu dem Schluß kamen, daß die Sowjets ihre SS-20-Raketen auf
Westeuropa gerichtet hatten, die unsere NATO-Hauptstädte in Westeuropa innerhalb
weniger Minuten treffen konnten, und daß Westeuropa nichts Vergleichbares hatte.
Also beschlossen wir, Mittelstreckenraketen in Deutschland zu stationieren, um
sie dazu zu bringen, diese Raketen zu entfernen.
Das war in Deutschland höchst umstritten. Ich erinnere mich, daß ich damals
im Weißen Haus an diesen Sicherheitsfragen arbeitete und in München war, als es
Demonstrationen gab – riesige Demonstrationen! „Nie wieder! Nie wieder!“
Sie wollen keine Atomwaffen mehr. Aber der Grund für die Stationierung war, alle
diese Waffen loszuwerden, und wir haben es geschafft. Wir haben die Waffen
schließlich stationiert, trafen dann eine Vereinbarung, und dann haben beide
Seiten alle diese Waffen zurückgezogen – die Sowjets viel mehr als wir, weil wir
nie so viele stationiert hatten wie sie.
Es schmerzt mich wirklich, wenn ich heute die Führung der Grünen sehe. Damals
waren die Grünen die lautstärksten Gegner dieser Stationierungen, und jetzt
haben sie eine Außenministerin, die Rußland praktisch mit Atomwaffen bedroht!
Ich kann die Entscheidung, wieder Mittelstreckenraketen in Deutschland zu
stationieren, nicht verstehen. Es ist unbegreiflich, wie eine deutsche Regierung
dem zustimmen kann. Noch ist es nicht soweit, und wir können nur hoffen, daß es
nicht passiert.
Aber ich möchte auch auf eines hinweisen: Wenn Europäer glauben, daß
irgendein Präsident der Vereinigten Staaten sein Land dem Risiko aussetzen
würde, daß Rußland mit seinen Interkontinentalraketen direkt Vergeltung übt,
wenn Atomwaffen gegen es eingesetzt werden, dann kann ich nur sagen: „Darauf
würde ich nicht zählen.“
Wenn der Atomkrieg einmal beginnt, ist er nicht zu stoppen
Die Sache ist die: Wenn diese Dinge erst einmal anfangen und eskalieren, dann
kommt es zu einem Atomkrieg, der die Zivilisation zerstört. Denn es ist keine
Möglichkeit bekannt, wie man einen solchen Krieg stoppen könnte, wenn eine Seite
der anderen mit Gewalt antwortet, diese auch, und das immer so weiter. Und ich
denke, daß wir uns jetzt in dieser Phase befinden.
Ich möchte noch weiter darauf eingehen, daß es ein großer Fehler des Westens
war, die NATO zu einer Zeit zu erweitern, als es keine Bedrohung aus dem Osten
gab. Ich denke, Helga hat Recht, daß nicht nur amerikanische, sondern auch
britische und deutsche Spitzenpolitiker, Regierungschefs und Außenminister,
Gorbatschow versicherten, daß die NATO nicht nach Osten expandieren würde, wenn
die deutsche Wiedervereinigung im wesentlichen zu den von Westdeutschland
festgelegten Bedingungen beschlossen würde. Das wurde einfach vergessen, und die
Erweiterung fand statt.
Und in diesem Jahrhundert begannen die Vereinigten Staaten, aus allen
Rüstungskontrollabkommen auszusteigen, die wir mit der Sowjetunion geschlossen
hatten und die für die Beendigung des Kalten Krieges von wesentlicher Bedeutung
waren. In den 90er Jahren begannen wir damit, den ABM-Vertrag1 zu
verlassen, dann weitere Verträge. Schließlich sind wir unter der Regierung von
Präsident Trump aus dem INF-Vertrag2 ausgetreten, und zwar aus meiner
Sicht mit einer sehr wackeligen Begründung, indem wir einfach behaupteten, es
habe Verstöße von russischer Seite gegeben, aber sie haben nie genau definiert,
um welche Verstöße es sich dabei handelte.
Darüber wurde nie diskutiert. Und wenn ich daran zurückdenke, wie während des
Kalten Krieges von unserer Öffentlichkeit und unseren Regierungen über solche
Dinge diskutiert wurde – jetzt ziehen sie einfach vorüber, und unsere gesamte
Öffentlichkeit konzentriert sich auf andere Dinge, die viel weniger wichtig
sind.
Ich möchte dieser Diskussion nur noch eines hinzufügen, nämlich daß ich der
Meinung bin, daß mein Land, die Vereinigten Staaten, mit den Garantien, die es
der Welt gegeben hat, völlig überfordert ist. Wir bezahlen fast alle unsere
militärischen Einsätze mit Schulden. Und unsere Schulden belaufen sich
mittlerweile auf etwa 33 Billionen US-Dollar, was weit mehr ist als unser
Bruttosozialprodukt in einem Jahr. Zudem steigen diese Schulden jedes Jahr
weiter, und keine unserer Parteien hat Pläne, um den Staatshaushalt wieder ins
Gleichgewicht zu bringen. Ich denke, das ist langfristig nicht tragbar.
Ich denke, wir müssen einen Weg finden, die Parteien zu ermutigen, friedlich
zu handeln, anstatt die Kämpfe weiter anzuheizen. Es hätte ein ganz vernünftiges
Abkommen zwischen Rußland und der Ukraine geben können, wenn die Ukraine die
beiden Minsker Abkommen – die ja auch von Deutschland und Frankreich
unterzeichnet wurden – umgesetzt hätte. Das hat sie aber nicht!
Statt dessen begannen die Verbündeten einfach damit, militärische Ausrüstung
an die Ukraine zu liefern, um praktisch die Kämpfe fortzusetzen. Ich finde das
schrecklich. Krieg ist überall eine schreckliche Sache. Und der Krieg in der
Ukraine schadet der Ukraine viel mehr als jedem anderen Land.
Aber etwas, was wir jetzt hören, würde ich nicht unterschreiben: Die Leute
sagen: „Wenn man Rußland jetzt nicht aufhält, wird Rußland die baltischen
Staaten oder Polen oder Osteuropa angreifen.“ Das ist Unsinn! Dafür gibt es
keinerlei Beweise. Und jeder, der die Geschichte dieser Region wirklich genau
kennt, weiß, daß Rußlands Beziehungen zur Ukraine und zu Belarus sehr speziell
sind. Das ist ihre Nachbarschaft. Und jede russische Regierung wird die
Möglichkeit eines ausländischen Militärbündnisses und von Militärstützpunkten in
diesen beiden Nachbarländern als völlig inakzeptabel betrachten.
Wir Amerikaner würden ja beispielsweise auch keine ausländischen
Militärstützpunkte in Mexiko akzeptieren. Wir würden sie wahrscheinlich nicht
einmal in Südamerika akzeptieren. Und warum wir das nicht verstehen können, weiß
ich nicht.
Lassen Sie mich schließen mit der Feststellung, daß ich derzeit keine
unmittelbare Aussicht auf eine Wende sehe. Aber ich habe in meinem Leben auch
schnelle Wendungen erlebt, die unerwartet waren, und hoffen wir, daß es bald
einige geben wird, die ermutigender sind!
Anmerkungen
1. Anti-Ballistic Missile Treaty, Vertrag über die Begrenzung von
antiballistischen Raketenabwehrsystemen.
2. Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty, Vertrag über nukleare
Mittelstreckensysteme.
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