Die größte Bedrohung für unser Überleben
ist die Nuklearpolitik der USA
Von Scott Ritter
Vielen Dank für die Einführung. Es ist mir eine Ehre und ein Privileg,
heute hier zu sein und mit Ihnen über ein Thema zu sprechen, das leider
ignoriert wird. Nehmen Sie die Morgenzeitung, nehmen Sie die
Nachmittagszeitung, nehmen Sie irgendeine Zeitung, und ich bezweifle, daß Sie
eine Schlagzeile „Amerika in unmittelbarer Gefahr eines nuklearen Armageddon“
sehen werden. Aber das sollte die Schlagzeile jeder Zeitung sein; das sollte
der Aufmacher jeder Nachrichtensendung sein.
Nicht, weil das Ziel darin besteht, den Menschen Angst zu machen. Viele
Leute haben mir Angstmacherei vorgeworfen und gesagt: „Es ist
unverantwortlich, was Sie tun, Angst zu schüren.“ Ich sage: Es ist
unverantwortlich, wenn die amerikanische Öffentlichkeit, die amerikanischen
Bürger es zulassen, daß die Regierung, die für sie arbeitet, eine Politik
betreibt, die zum Ende allen menschlichen Lebens auf dem Planeten Erde, wie
wir ihn kennen, führen wird. Das ist hier nämlich das Endergebnis.
Wir sprechen hier über mehrere Dinge. Man kann heute von einem Versagen der
Diplomatie sprechen. Ich habe gesagt, daß wir uns in einer Zeit in der
Geschichte unseres Landes befinden, die weitaus gefährlicher ist als die
Kubakrise, und viele Leute nehmen Anstoß daran – vor allem Leute, die während
der Kubakrise nicht gelebt haben und keine Vorstellung davon haben, was die
Kubakrise war. Aber die Kubakrise, der Oktober 1962, gilt als der Zeitpunkt,
an dem die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion einem Atomkrieg am nächsten
kamen.
In gewisser Weise ist das richtig, aber lassen Sie mich über einige
Unterschiede zu dieser Zeit sprechen. Während die Sowjets Schiffe mit Raketen
nach Kuba schickten und die Gefahr bestand, daß sie auf eine Blockade stoßen
würden, die zu einem direkten militärischen Konflikt führen würde, der sich zu
einem Atomkonflikt ausweiten könnte, sprach ein Mann namens John McCloy mit
einem Mann namens Valerian Zorin. Die Diplomatie fand statt. Wir, die
Vereinigten Staaten, verhandelten aktiv mit den sowjetischen Partnern, um eben
diesen Krieg, vor dem alle Angst hatten, zu verhindern! Der Grund, warum es
keinen Krieg gab, ist der, daß es Diplomatie gab: Weil die Staatsführungen
miteinander sprachen, wenn auch nicht direkt, so doch indirekt. Wenn nicht auf
offiziellem Weg, dann auf inoffiziellem Weg. Die Diplomatie war lebendig und
gut.
Heute, meine Damen und Herren, befindet sich gleich die Straße hinunter in
der Wisconsin Avenue eine Botschaft – die russische Botschaft. In dieser
Botschaft sitzt ein Diplomat namens Anatoli Antonow, einer der angesehensten
Amerika-Experten im russischen Auswärtigen Dienst: der Chefunterhändler für
den letzten verbliebenen Waffenkontrollvertrag zwischen Rußland und den
Vereinigten Staaten. Er sitzt dort seit mehreren Jahren, und sein Telefon
klingelt nicht! Wir rufen ihn nicht an! Wir sprechen nicht mit ihm! Heute gibt
es keine Diplomatie – obwohl unsere beiden Länder auf einem Kollisionskurs
sind, der sehr wohl zu einem Atomkonflikt führen könnte.
Und wenn ich von einem Atomkonflikt spreche, dann lassen Sie mich eines
klarstellen. Wir sprechen jetzt über die Doktrin: Es gab eine Zeit, in der
Atomwaffen dazu dienten, einen nuklearen Angriff abzuschrecken. Das ist eine
kranke Sache, dieses Konzept der Abschreckung. Mutually Assured Destruction
(„gegenseitig zugesicherte Vernichtung“, MAD) ist eine Art Irrsinn, der sich
in ein paar Worten zusammenfassen läßt, aber das ist die Realität: Die
Vereinigten Staaten hatten Atomwaffen, die Sowjetunion hatte Atomwaffen. Wir
mußten sicherstellen, daß niemand sich kompetent genug fühlte, diese Waffen
präventiv einzusetzen, um sich einen strategischen Vorteil zu verschaffen. Das
Endergebnis war die „Mutually Assured Destruction“, die nukleare Abschreckung.
Und das hat bis zum Ende der Sowjetunion funktioniert.
Es funktionierte so gut, daß ich sagen muß, daß eine meiner ersten Aufgaben
als Erwachsener darin bestand, als Offizier des Marine Corps
Rüstungskontrollverträge in der ehemaligen Sowjetunion umzusetzen, die Teil
des INF-Vertrags waren, mit dem wir ganze Kategorien von Kernwaffen
abschafften. Es war das erste Mal, daß wir nicht nur ihre Zunahme begrenzten,
sondern die Arsenale tatsächlich reduzierten.
Das hätte zu einer noch größeren Reduzierung der Kernwaffenarsenale führen
können – aber nein, nicht bei den Vereinigten Staaten! Als sich die
Sowjetunion auflöste, beschlossen wir, daß wir einen nuklearen Vorteil
gegenüber den Sowjets aufrechterhalten mußten, und wir haben das Konzept der
Rüstungskontrolle korrumpiert. Wir zogen uns aus Rüstungskontrollverträgen wie
dem Vertrag über die Raketenabwehr (ABM-Vertrag) zurück, der der gegenseitigen
Zerstörungssicherheit die Zähne verlieh.
Sehen Sie, ohne die Abwehr ballistischer Raketen würden die Raketen ihr
Ziel treffen – das heißt, wenn Sie einen Krieg führen, würden Ihre Raketen das
Ziel treffen, auf das sie gerichtet sind, aber die Raketen, die auf Sie
gerichtet sind, würden die Ziele auch treffen. Unter George W. Bush haben wir
beschlossen, daß wir nicht wollen, daß irgendwelche Raketen Amerika treffen.
Angeblich ein vernünftiger Gedanke – aber gleichzeitig wollten wir die
nukleare Vorherrschaft über die Russen erlangen, so daß unsere Raketen Rußland
treffen würden! Das schafft ein Ungleichgewicht.
Nach dem 11. September [2001] gingen wir noch weiter. Wir erlebten einen
Übergang von der Doktrin der nuklearen Abschreckung zu einer Doktrin der
nuklearen Kriegsführung, die besagt, daß wir Atomwaffen präventiv gegen eine
nichtnukleare Bedrohung einsetzen können.
Unser derzeitiger Präsident der Vereinigten Staaten, der Oberbefehlshaber
Joe Biden, ist mit dem Versprechen in den Wahlkampf gezogen, Amerika zur
Vernunft der „Sole-Use-Doktrin“ [d.h. kein Erstschlag] zurückzubringen, was
bedeutet, daß der einzige Zweck des amerikanischen Atomwaffenarsenals darin
besteht, andere von einem Angriff auf uns abzuhalten. Er hat es nicht getan.
Und warum? Vor ein paar Jahren nahm ich an einem Treffen von Inspektoren und
Unterhändlern der Intermediate Nuclear Forces teil, und wir stellten diese
Frage einem hochrangigen Rüstungskontrollbeamten der Regierung Biden. Die
Antwort? „Der Behördenapparat [„Inter-Agency“] ist noch nicht bereit
dafür.“
Nun, ich lebe in einem Land, das angeblich die größte Demokratie der Welt
ist. Ich weiß, daß ich wählen gehe. Ich weiß, daß ich mir die Namen auf dem
Stimmzettel angeschaut habe. Ich habe nie „Inter-Agency“ auf dem Stimmzettel
gesehen. Ich weiß nicht, wovon sie reden, wenn es um Demokratie geht: Der
Präsident ist der Oberbefehlshaber. Er ist die Exekutive. Wenn er eine
politische Richtung will, gibt er sie vor. Und der Behördenapparat muß klug
vorgehen und versuchen, sie umzusetzen. Aber man sagt uns, der Behördenapparat
sei nicht dazu bereit. Das bedeutet, daß das Establishment nicht bereit ist.
Das bedeutet, daß das Establishment etwas anderes anstrebt – und das ist
natürlich die amerikanische nukleare Vorherrschaft.
Wir leben in einer Welt, in der andere Länder das nicht mehr dulden werden.
Rußland ist eines davon. Und Rußland ist heute ein Land, auf das die Spitze
des amerikanischen Nuklearspeeres gerichtet ist. Sie sehen, wie die
Vereinigten Staaten eine Politik verfolgen, die die amerikanischen
militärischen Fähigkeiten bis an die Grenzen Rußlands heranführt, ja sogar die
Grenzen Rußlands überschreitet. Sie bedrohen Rußlands strategische
Nuklearkräfte – Frühwarnradare, Kommando- und Kontrolleinrichtungen, sogar
Atomwaffendepots und nukleare Abschußsysteme. Wir haben einen Angriff auf den
Luftwaffenstützpunkt Engels ermöglicht, wo russische strategische Atombomber
stationiert sind – „wir“, das heißt die Vereinigten Staaten. Nach russischer
Doktrin rechtfertigt dies allein schon eine nukleare Antwort. Wir haben den
russischen Atombären schon lange gekitzelt, und nur dank der Geduld und
Weisheit der russischen Führung wurde ein Atomkrieg vermieden.
Als Amerikaner nehme ich Anstoß daran. Ich möchte nicht von der Gnade
irgendeines ausländischen Staatschefs abhängig sein. Mir wäre es lieber, wenn
die amerikanische Führung einen vernünftigen Schritt in Richtung
Konfliktentschärfung machen würde. Wenn ich von einer Regierung abhänge, die
ich an der Wahlurne zur Rechenschaft ziehen kann – einer Regierung „des
Volkes, durch das Volk, für das Volk“ [Zitat v. Abraham Lincoln]. Eine
Verfassung, die mit „Wir, das Volk der Vereinigten Staaten von Amerika“
beginnt, und das ist der letzte Gedanke, den ich in den Raum stellen
möchte.
Wir haben die Pflicht und die Verantwortung, als Bürger aufzuwachen und die
Bedrohungen zu erkennen, denen wir als Nation, als Volk gemeinsam ausgesetzt
sind. Und die größte Bedrohung für das weitere Überleben der Vereinigten
Staaten von Amerika ist heute die amerikanische Atompolitik, die
amerikanischen Atomwaffen. Diese Waffen schützen uns nicht, meine Damen und
Herren. Diese Waffen sind buchstäblich eine geladene Waffe an unserem Kopf,
mit dem Finger eines Wahnsinnigen am Abzug.
Wir müssen uns zusammentun, wir müssen das stoppen. Wir haben im November
eine Wahl: Lassen Sie uns alle unsere Aufgabe als Bürger wahrnehmen und für
jemanden stimmen, der das Überleben Amerikas über alles andere stellt, was
bedeutet, daß er die Nichtverbreitung von Kernwaffen, die nukleare Abrüstung
und die Rüstungskontrolle über alles andere stellt.
Ich danke Ihnen vielmals.
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