„Die Planer der US-Streitkräfte nehmen keine Rücksicht auf Zivilisten“
Von Rainer Rupp
Rainer Rupp ist Militär- und Geheimdienstexperte aus
Deutschland. Im ersten Abschnitt der Internetkonferenz des Schiller-Instituts
am 15. Juni sagte er folgendes. (Übersetzung aus dem Englischen.)
Hallo, vielen Dank für diese Gelegenheit. Ich habe zwar nicht auf dieser
Ebene angefangen, aber von 1977 bis 1993 war ich in leitender Position in der
Abteilung für politische Angelegenheiten im NATO-Hauptquartier in Brüssel
tätig. In dieser Funktion habe ich auch an den jährlichen und halbjährlichen
Wintex-Winterübungen teilgenommen. Bei diesen Manövern übt die NATO den
Ersteinsatz von Atomwaffen, wenn ein konventioneller Konflikt in einen
nuklearen übergeht.
Bei der ersten Übung, an der ich als Vorsitzender der zuständigen
Aufklärungsgruppe teilgenommen habe, mußte ich das
NATO-Verteidigungsplanungskomitee informieren, das die Entscheidung traf –
damals auf höchster Ebene. Man stand in ständigem Kontakt mit den Regierungen,
da es sich um eine Stabsübung auf höchster Ebene handelte, an der die höchsten
Vertreter der Ministerien und des Kanzleramtes teilnahmen. Ich mußte also alle
vier Stunden den DPC (Defence Planning Council) informieren. Das war meine
Aufgabe, 8 Stunden in 24 Stunden.
Nun, bei meiner ersten Teilnahme hat die NATO nach einer langen ersten
konventionellen Kriegsphase irgendwo in Osteuropa eine taktische Nuklearwaffe
gegen die sowjetischen Streitkräfte eingesetzt. Danach war die Übung vorbei,
es gab keine Fortsetzung.
Meine letzte Wintex-Übung war 1989, als der Kalte Krieg eigentlich schon
vorbei war. Aber die Vorbereitung dieser Nuklearwaffenübungen dauerte
normalerweise zwei Jahre, und diese NATO-Übung wurde in zwei Wellen
durchgeführt, mit – wenn ich mich richtig erinnere – 153 taktischen
Nuklearwaffen gegen sowjetische und osteuropäische Streitkräfte.
Aber, und das ist wichtig, und deshalb erzähle ich Ihnen diese Geschichte,
die Planer des Ersteinsatzes von Atomwaffen waren Amerikaner. Und sie haben
tatsächlich entschieden, wo diese Waffen eingesetzt werden sollten. Sie haben
– während meiner gesamten Zeit in der NATO – immer sehr darauf geachtet, daß
keine dieser Nuklearwaffen auf russischem Territorium eingeschlagen ist, weil
die Amerikaner wußten, daß sie in einem solchen Fall mit einem Gegenschlag auf
amerikanischem Territorium rechnen müßten.
Wenn Sie sich vorstellen, was im Falle eines nuklearen Konflikts geschehen
wäre, auch nur eines begrenzten nuklearen Konflikts, dann wäre Europa
ausgelöscht worden.
Um Ihnen nur ein Beispiel zu geben: Bei einer dieser nuklearen
Planungskonferenzen, an der ich teilgenommen habe – sie fand im sogenannten
NATO-Ferienort Oberammergau in Deutschland statt –, beklagte sich ein
amerikanischer General darüber, daß in der Fulda Gap, wo die NATO eine große
russische Panzerinvasion erwartete, die deutschen Dörfer nur eine halbe
Kilotonne voneinander entfernt seien. Das heißt, die taktischen Atomwaffen
waren damals viel stärker als eine halbe Kilotonne.
Gestern hat Garland Nixon, der ebenfalls an einer Veranstaltung des
Schiller-Instituts [dem 54. Treffen der Internationale Friedenskoalition –
Anm. d. Red.] teilgenommen hat, darauf hingewiesen, daß seiner Erfahrung nach
die Streitkräfte der Vereinigten Staaten, insbesondere die Planer, keine
Rücksicht auf Zivilisten nehmen, und das gilt insbesondere für die nukleare
Planung. Ich konnte das tatsächlich bestätigen.
Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, daß der Konflikt in der Ukraine
nuklear wird? Ich habe über die Jahre hinweg – und ich habe diesen Konflikt
sehr genau verfolgt – verschiedene Szenarien beobachtet, plausible Szenarien,
bei denen es hätte sehr schiefgehen können. Erstmals war ich beunruhigt, als
die 101. Brigade der Screaming Eagles – das waren die 5.000 Soldaten der
Luftlandetruppen der 101. Luftlandedivision – nach Osteuropa verlegt wurden:
4.000 nach Rumänien und 1.000 nach Polen. Das war Ende des Frühjahrs 2022. Es
dauerte eine Weile, bis sie untergebracht waren, aber – ich kann mich nicht
mehr an das genaue Datum erinnern, aber es war Ende September, als der
Kommandeur dieser Gruppe der amerikanischen Presse mitteilte, daß man nun
bereit sei, den Befehl auszuführen und jederzeit über die Grenze in die
Ukraine einzumarschieren, um sich den vorrückenden russischen Truppen im Weg
zu stellen.
Die Russen hatten bereits angekündigt, daß sie jeden Amerikaner oder jeden
anderen bewaffneten NATO-Soldaten, der in der Ukraine auftaucht, vernichten
würden.
Die 101. Luftlandedivision – eine sehr berühmte Division – ist in vielen
Liedern und Lobeshymnen gefeiert worden. Wenn Sie Amerikaner sind oder sich
mit der Militärgeschichte der USA oder der NATO auskennen, wissen Sie, daß
diese Division hochangesehen ist und eine Legende darstellt. Sie dort als
Hemmschuh einzusetzen, und diese Luftlandetruppe ist wahrscheinlich gepanzert:
Ich meine, sie hätten keinerlei Widerstand bedeutet, sie wären bei
jeder Auseinandersetzung mit den Russen dezimiert und abgeschlachtet worden.
Und die Russen hätten davor nicht zurückgeschreckt.
Was wäre die Folge gewesen? Großes Geschrei: „Wir müssen etwas tun! Wir
müssen etwas tun!“ Man sieht derartige Dinge, doch was können sie am Ende tun?
Mehr Waffen? Man kann keine weiteren Sanktionen verhängen. Also das Einzige,
was man einsetzen könnte, sind taktische Atomwaffen gegen russische
Streitkräfte in der Ukraine. Man beachte, in der Ukraine, nicht gegen Rußland.
Zum Glück ist das bisher nicht passiert.
Die nächste Stufe war, daß nicht nur Macron, sondern auch die Polen und
andere darüber nachdenken, bewaffnete Truppen in die Ukraine zu schicken, und
zwar Tausende von Soldaten über Odessa in die Südukraine. Hier wäre die
Situation ähnlich.
Das wissen die Franzosen, und hochrangige französische Militärs gingen
tatsächlich an die Presse und sagten anonym: „Man wird sie abschlachten.“ Nun,
darum geht es im Grunde! Sie sollen geopfert werden, um dann die Amerikaner um
Hilfe zu rufen. Es gibt viele Leute im Kongreß und vor allem in den Medien,
die um Hilfe rufen würden.
Aber was könnten die Amerikaner tun? Was könnte die NATO tun? Sie planen
einen Krieg; sie denken, daß sie bis 2029 bereit wären, einen konventionellen
Krieg gegen Rußland zu führen, weil die Rüstungsindustrie der NATO nicht
früher die Mittel dafür bereitstellen kann. Was würden sie also tun? Was
könnten sie tun? Da wäre die Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen. Die
Russen würden natürlich zurückschlagen, aber auch hier nicht auf
amerikanischem Boden, sondern auf US-Stützpunkten in Europa und anderen Orten
von Interesse.
Glücklicherweise waren die französischen Pläne zu viel für Biden und die
NATO selbst. Der NATO-Generalsekretär sagte Macron: „Das wäre nicht sehr
hilfreich.“
Der nächste Punkt, der die Situation jetzt wieder explosiv macht, ist der
Einsatz von Langstreckenraketen durch die Ukrainer, der öffentlich
angekündigte Einsatz nuklearer Langstreckenraketen gegen strategische Ziele
tief in Rußland sowie gegen Ziele, die Teil der russischen nuklearen
Abschreckung sind.
Die Russen haben gesagt, so kann es nicht weitergehen. Es wird nicht so
weitergehen, und zwar deshalb nicht, weil die Amerikaner, die Briten und
andere selbst es so sehen und es nicht mehr verborgen werden kann. Die
Aufklärung, die Zielerfassung, die Daten für die Eingabe in die Rakete, all
das wird von NATO-Personal oder von Personal der verschiedenen
NATO-Mitgliedsstaaten gemacht. Das einzige, was die Ukrainer tun, ist einen
Knopf zu drücken.
Sie alle kennen die Reaktion Rußlands. Sie haben gesagt, sie werden das
nicht mehr lange dulden. Sie werden die Stützpunkte angreifen, von denen diese
Dinge kommen, und auch außerhalb der Ukraine, also in NATO-Ländern. Jetzt
haben wir wieder eine Situation, in der die Russen etwas tun würden, was eine
Reaktion der NATO oder der USA erfordert.
Das nächste Problem in dieser Hinsicht, das die Sache noch komplizierter
macht, ist, daß Selenskyj und seine Berater, die so verzweifelt auf den F-16
in der Ukraine bestanden haben, jetzt sagen: „Nun, wir wollen sie nicht alle
auf ukrainischem Territorium haben, weil sie zerstört werden könnten, bevor
wir sie einsetzen können. Wir wollen die meisten von ihnen auf
Luftwaffenstützpunkten in benachbarten NATO-Ländern haben.“
Nun, das ist eine ziemlich knifflige Angelegenheit, denn wenn die F-16 von
benachbarten Luftwaffenstützpunkten aus starten, wo sie gewartet, betankt und
vielleicht auch bewaffnet wurden, und dann nur einen Zwischenstopp auf einem
ukrainischen Rollfeld einlegen und dann weiterfliegen, um russische Ziele
anzugreifen, wird das nicht gehen. Es ist ziemlich klar, daß die
NATO-Luftwaffenstützpunkte, wo die ukrainischen F-16 stehen, russische Ziele
sein werden.
Das sind die Dinge, die mich nicht gut schlafen lassen, vor allem, da ich
nicht weit von Ramstein entfernt wohne, einem der Zentren, das am ehesten
getroffen werden könnte.
Ich möchte noch auf eines hinweisen. Der alte Spruch, daß Putin blufft und
es nicht ernst meint, daß die russische Nukleardoktrin nur ein Papiertiger
ist, daß die Russen es nie wagen würden und so weiter und so fort. In diesem
Zusammenhang sei an die Sorgfalt erinnert, die alle unsere Länder beim Bau und
bei der Errichtung von Kernkraftwerken an den Tag gelegt haben. Alle Systeme,
bei denen bei der Erzeugung von Kernenergie etwas schief gehen könnte, auch
wenn die Wahrscheinlichkeit nur 1 zu 1.000 oder 1 zu 1 Million war, wurde
verdoppelt und verdreifacht, um eine Sicherheitsmarge zu haben, damit während
der Lebensdauer des Kraftwerks nichts passiert.
Man vergleiche die Sorgfalt, die wir in diesen Aspekt investiert haben –
nun, Fukushima war schlimm genug, aber es ist nicht so schlimm wie ein
begrenzter Atomkrieg in Europa! Gleichzeitig denken wir: „Ach, die Russen
meinen es wahrscheinlich nicht so, die bluffen nur“, und wir können so weiter
machen, wie wir wollen. Ich meine, das ist verrückt! Es ist einfach total
verrückt.
Ich glaube, ich habe heute genug von Ihrer Zeit in Anspruch genommen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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