Eine neue Phase in der Entwicklung der internationalen Beziehungen
Von Georgij Toloraja
Professor Georgij Toloraja ist Direktor des Zentrums für
Asienstrategie des Instituts für Wirtschaft der Russischen Akademie der
Wissenschaften. Im ersten Abschnitt der Internetkonferenz des
Schiller-Instituts am 15. Juni sagte er folgendes. (Übersetzung aus dem
Englischen.)
Lassen Sie mich zunächst dem Schiller-Institut dafür danken, daß es diese
sehr wichtige Konferenz zur rechten Zeit veranstaltet. Gerade dieser Tage gibt
es viele Veranstaltungen, die mit dem Thema der heutigen Konferenz und
besonders mit diesem ersten Panel zur Lage in Europa zusammenhängen.
Frau Zepp-LaRouche hat sehr eloquent über die Gefahren der gegenwärtigen
europäischen Situation gesprochen. In der Tat können wir feststellen, daß sich
in Europa das Schicksal der Welt entscheidet. Es ist doppelt wichtig, daß wir
gerade in den letzten Tagen zwei wichtige Vorschläge des russischen
Präsidenten Putin gehört haben: zum einen beim Petersburger Forum, und zum
anderen bei einem Treffen mit Außenministern und Diplomaten, wo er einige
Vorschläge für Friedensgespräche in der Ukraine-Krise gemacht hat. Diese
Vorschläge wurden vom Westen bereits als unrealistisch kritisiert, aber sie
sind in der Tat eine solide Grundlage für weitere Gespräche.
Wie Helga ganz richtig sagte, müssen wir früher oder später aus dieser
Krise herauskommen. Europa und Eurasien sind geographisch, historisch und
zivilisatorisch eng miteinander verbunden, und es muß auf jeden Fall ein neues
europäisches oder eurasisches Sicherheitssystem geschaffen werden. Präsident
Putins Vorschläge sind viel umfassender als nur konkrete Vorschläge zur Lösung
der Ukraine-Krise. Sie beinhalten auch Ideen zur Festlegung neuer Prinzipien
für die eurasische Sicherheit, Verhaltensregeln für den gesamten Kontinent und
wichtige Prinzipien für die Beziehungen zwischen den Staaten, die natürlich
auf den Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen basieren, aber
transparenter und gerechter sein sollten - und nicht auf der „regelbasierten
Ordnung“, die der Westen als Grundlage für die internationalen Beziehungen
vorschlägt.
Es muß klar gesagt werden, daß in Rußland, glaube ich, niemand den Krieg in
der Ukraine als eine Art Aggression gegen einen souveränen Staat betrachtet.
Die Ukraine, dieses Territorium, vor allem sein östlicher Teil, war lange Zeit
ein Teil des Russischen Reiches und Rußlands selbst. Die Mehrheit der
Bevölkerung sieht es daher als einen weiteren Fall eines Krieges mit dem
kollektiven Westen auf historisch russischem Territorium. Der Krieg findet
nicht in Europa statt, sondern auf historisch russischem Territorium, und es
sind russisch-ukrainische Menschen, die ethnisch gleich oder sehr ähnlich
sind, die in diesem Krieg sterben.
Der Ursprung dieses Krieges ist der Wunsch, Rußland einzudämmen und der
sogenannten regelbasierten Ordnung unterzuordnen. Die Lektion für die Menschen
im Westen und in Rußland ist, daß der Westen vor nichts zurückschreckt, um
seine Privilegien zu bewahren, um seine Vormachtstellung zu bewahren, die es
der sogenannten Goldenen Milliarde erlaubt, das Leben auf Kosten anderer zu
genießen, auf Kosten der Globalen Mehrheit oder dessen, was Rußland jetzt den
Globalen Süden und den Globalen Osten nennt.
Die neue Rolle der BRICS
Doch heute hat sich die Situation verändert. Wie im Europa der Kolonialzeit
versuchen die europäischen Mächte heute, sich in regionale Konflikte
einzumischen und über das Schicksal weit entfernter Länder und Völker in
Asien, Afrika und Lateinamerika zu entscheiden - während die neu entstandene
Zivilisation, die neuen Schwellenländer, ihre guten Dienste anbieten, um die
Krise in Europa zu lösen. Das tut China. Das tun auch die anderen
BRICS-Länder. Das ist der Unterschied zu früher.
In diesem Zusammenhang möchte ich etwas zu den BRICS sagen. Präsident Putin
erwähnte in seiner Rede beim Außenministertreffen, daß die BRICS ein
Schlüsselelement der neuen Global Governance sein könnten, und das werden sie
jetzt auch. Wie Sie wissen, waren die BRICS in den letzten 15 Jahren ein
Bündnis der größten Volkswirtschaften - Rußland, China, Brasilien, Indien und
Südafrika (jeweils die gesamte Region repräsentierend). Die Kriterien für die
BRICS-Mitgliedschaft waren die Größe des Territoriums, der Bevölkerung und des
BIP.
Seit letztem Jahr haben sich die Dinge jedoch geändert. Das Ergebnis dieser
Veränderung war der offene Konflikt zwischen einem der BRICS-Länder, das die
aufstrebenden Mächte repräsentiert, Rußland, und dem kollektiven Westen, in
der Ukraine. Dies war der eigentliche Grund, warum das Interesse an den BRICS
im Globalen Süden und im Globalen Osten erheblich zugenommen hat. Auf dem
Johannesburger Gipfel in Südafrika im vergangenen Jahr wurden neue Länder in
die BRICS aufgenommen. Zehn Länder gehören nun zu den BRICS. Das signalisiert
in der Tat das Ende der alten BRICS und den Beginn einer neuen BRICS - BRICS
nicht als Bündnis verschiedener Zivilisationen, sondern als
Verhandlungsplattform des Globalen Südens und der Globalen Mehrheit gegenüber
dem dominanten Westen. Das ist die Rolle, die BRICS jetzt spielt.
Und in diesem Zusammenhang möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf das jüngste
Treffen der Außenminister der BRICS-Staaten und anderer interessierter Länder
lenken, das erst vor drei Tagen in Nischni Nowgorod stattgefunden hat. Es war
das erste Treffen auf politischer Ebene nach dem Beitritt der neuen Länder,
und die neuen Länder - Ägypten, Iran, die Vereinigten Arabischen Emirate,
Äthiopien und Saudi-Arabien - haben Dokumente unterzeichnet, die die Strategie
der BRICS definieren. Sie haben sich also darauf geeinigt, im gleichen Boot zu
sitzen, die gleichen Prinzipien zu verteidigen und den gleichen Kurs zu
verfolgen.
Darüber hinaus nahmen am zweiten Tag zwölf weitere Länder an dem Treffen
teil. Einige Länder, wie zum Beispiel Thailand, haben sich offiziell um eine
BRICS-Mitgliedschaft beworben. Es gibt etwa 50 weitere Länder, die daran
interessiert sind. Das bedeutet, daß die BRICS ein globales Phänomen geworden
sind, das seine Prinzipien und seine Strategie für eine neue Weltordnung
formuliert hat: eine neue Weltordnung, in der nicht der Westen dominiert,
sondern in der es einen Konsens geben soll, eine gleichberechtigte
Partnerschaft der Länder der Welt im Stil des Westfälischen Friedens zum Wohle
aller, wie Sie es wohl nennen würden.
Die Chance, an der Lösung der europäischen Krise und der Ukraine-Krise
mitzuwirken, ist daher ein echter Test für die BRICS-Länder. Können China,
Indien und andere Länder dazu beitragen, diese Aufgabe zu erfüllen? Vielleicht
erleben wir dann eine ganz neue Phase in der Entwicklung der internationalen
Beziehungen und den Aufstieg zu neuen Prinzipien, die dem entsprechen, was das
Schiller-Institut vorgeschlagen hat und was Rußland im allgemeinen teilt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
|