„Die Abschreckung, die den Kalten Krieg ,kalt‘ hielt,
funktioniert nicht mehr“
Von Prof. Dmitrij Trenin
Dmitrij Trenin ist Akademischer Leiter des Instituts für
Weltmilitärwirtschaft und -strategie an der Hochschule für Wirtschaft
(Moskau).
Vielen Dank für die Einladung. Ich fühle mich sehr geehrt, zur Konferenz des
Schiller-Instituts eingeladen zu sein. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, dem
Institut und den dort tätigen Menschen zu ihrem 40-jährigen Jubiläum zu
gratulieren.
Dr. Helga Zepp-LaRouche hat in ihrer brillanten Analyse der heutigen Lage
eine sehr umfassende und detaillierte Analyse der aktuellen Entwicklungen in der
Welt und der Gefahren, denen die Menschheit ausgesetzt ist, vorgelegt. Ich
stimme ihrer Analyse voll und ganz zu und unterstütze ihren Aufruf, die drohende
nukleare Katastrophe abzuwenden. In meinen eigenen Ausführungen werde ich
versuchen, einige Elemente des allgemeineren Kontextes der Weltkrise zu liefern,
wie ich sie von meinem Standort in Moskau aus sehe.
Wir müssen verstehen, an welchem Punkt wir uns befinden. Die vom Westen
betriebene Globalisierung ist vorbei; das Weltsystem ist global geworden, aber
es tendiert nicht mehr zur Vereinheitlichung nach westlichem Vorbild, statt
dessen ist der Regionalismus auf dem Vormarsch. Wir befinden uns in einer Epoche
des Übergangs, und Übergänge sind normalerweise von starken Turbulenzen, Krisen
und Kriegen geprägt.
Wir befinden uns jedoch nicht im „Kalten Krieg II“, wie einige behaupten. Das
ist eine falsche Bezeichnung. Die Analogie ist falsch, weil die Welt heute ganz
anders ist als in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es gibt mehr und vor
allem neue Gefahren. Die Abschreckung im Stil des Kalten Krieges, die den Kalten
Krieg kalt hielt, funktioniert nicht mehr, um größere Machtkonflikte, die zu
einem direkten Zusammenstoß führen, zu verhindern. Die heilsame Angst vor
Atomwaffen hat sich größtenteils verflüchtigt. Das Kräfteverhältnis, eine
weitere Säule der strategischen Stabilität, hat sich verschoben und ist
unausgewogen geworden.
Unkontrollierte und uneingeschränkte Macht, die für sich selbst keine Grenzen
anerkennt, hat zur ersten globalen Hegemonie eines einzelnen Landes geführt.
Innerhalb einer Generation hat diese Hegemonie - wie es kommen muß - begonnen,
zu bröckeln und zu zerfallen. Versuche, sie jetzt zu retten, sind so gefährlich
wie vergeblich.
Wir erleben es gerade in der Ukraine: Die verzweifelten Bemühungen der
derzeitigen US-Regierung, einer gleichrangigen nuklearen Supermacht eine
strategische Niederlage zuzufügen, sind ein typisches Beispiel. Da das Weiße
Haus unter Biden das Ziel nicht erreichen kann, erhöht es in diesem Konflikt
immer weiter den Einsatz, damit die Hegemonie der USA nicht als unvollständig
und keineswegs unbesiegbar entlarvt wird.
Die Ukraine ist weder ein Einzelfall noch einzigartig, wie Dr. Zepp-LaRouche
bereits erwähnt hat. Eine Konfrontation zwischen den USA und China, angeblich
wegen Taiwan und/oder des Südchinesischen Meeres, droht immer mehr an Bedeutung
zu gewinnen. Im Nahen Osten gibt es begründete Befürchtungen, daß die
Biden-Regierung den gegenwärtigen Moment als Gelegenheit nutzen könnte, um zu
versuchen, die nukleare Infrastruktur des Iran zu zerstören. Es gibt also
mindestens drei große Konfliktherde, alle unter Beteiligung von Atommächten, die
zu einem Weltkrieg führen können.
Ich mache mir wenig Illusionen darüber, daß sich dieser Trend vollständig und
kurzfristig umkehren läßt. Veränderungen der Weltordnung sind von Natur aus
chaotisch und in der Regel blutig. Es gibt jedoch Möglichkeiten, die
Auswirkungen der aktuellen Weltkrise auf die Menschheit zu mildern. Das
wichtigste wäre, daß die Vereinigten Staaten die Gefahren einer imperialen
Überdehnung erkennen und anstelle der Sicherheitshegemonie des US-geführten
globalen Systems die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten als oberste
Priorität setzen.
Es ist sehr interessant und aufschlußreich, daß die derzeitige russische
Führung trotz der lauten Rufe im Land, alle Ressourcen für den Krieg in der
Ukraine zu mobilisieren, der als Verteidigung gegen die geopolitische Aggression
der USA/NATO angesehen wird, der souveränen wirtschaftlichen, sozialen,
technologischen und intellektuellen Entwicklung Vorrang einräumt und den Krieg
als wichtigen Motor für dieses Ziel nutzt. Die russische Führung erinnert sich
noch gut an die Lehren aus ihrer sowjetischen Vergangenheit, als sie so viel
Geld für ihr weitverzweigtes Imperium und dessen militärischen, ideologischen
und sicherheitspolitischen Apparat ausgab, daß sie die wachsenden
innenpolitischen Probleme vernachlässigte und die riesigen, aber begrenzten
Ressourcen fehlleitete. Das ist eine Lektion, die sich andere heute zu Herzen
nehmen sollten.
Lassen Sie mich abschließend noch einmal dem Institut für die Einladung zu
diesem Vortrag danken. Vielen Dank.
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