„Diplomatie muß auch andere Meinungen berücksichtigen“
Von Prof. László Ungvári
Prof. Dr. László Ungvári (Ungarn) ist Präsident (em.) der
Technischen Universität Wildau. Im zweiten Abschnitt der Internetkonferenz des
Schiller-Instituts am 15. Juni sagte er folgendes. (Zwischenüberschriften
wurden hinzugefügt.)
Sehr verehrte Damen und Herren in nah und fern, ich bin sehr froh, daß ich
heute an dieser Veranstaltung teilnehmen kann.
Vielleicht ganz kurz zu meiner Person: Ich bin ein sehr, sehr international
geprägter Mensch – geboren in Ungarn, studiert in der Sowjetunion. Ja, und
gearbeitet ein bißchen in Ungarn, und die meiste Zeit meine Lebens habe ich
dann hier in Deutschland verbracht. Vor allem war ich 21 Jahre in der Spitze
der Führung der Technischen Hochschule Wildau, also Rektor-Präsident. Damit
bin ich der einzige Ungar in Deutschland, der hier Rektor eine Hochschule
geworden ist, bis jetzt. Und dann hatte ich drei Jahre
Universitätsrektoren-Tätigkeit in Almaty in Kasachstan.
Und ich bin ein sehr hilfsbereiter Mensch. Meine Frau sagt immer, ich bin
„so was wie Mutter Teresa“. Auch jetzt, wo wir zahlreiche Flüchtlinge aus der
Ukraine haben. Ich habe vielen Familien geholfen, ganz besonders vier
Familien. Ich habe sie mit Wohnungen versorgt durch meine Beziehungen,
unterstützt bei Behördengängen usw. usf.
Das wollte ich vorauszuschicken, daß ich ein internationaler Mensch
bin.
Politiker ohne Lebenserfahrung
Und zu unserem Thema, was uns heute ein bißchen am Herzen liegt und uns
alle hier beschäftigt, sagen wir mal so: Wenn mir vor zehn Jahren jemand
gesagt hätte, was uns heute in der Politik erwartet, ich hätte ihn glatt
ausgelacht, ich hätte das nicht geglaubt.
Heute bin ich über die Entwicklung in der Welt und auch in Europa äußerst
enttäuscht, und zwar wahrscheinlich aus dem Blickwinkel eines studierten
Menschen, eines Professors. Denn ein großes Problem, was wir zur Zeit in
Europa, in Deutschland, massiv haben, aber auch übersehen: daß immer mehr
junge Menschen in die Politik kommen, die nicht studiert haben, keinen Beruf
haben, keine Erfahrung haben, keine Lebenserfahrung haben, aber sie wollen
über große Sachen entscheiden und uns auch noch erzählen, wie wir uns zu
verhalten haben.
Und da sehe ich eigentlich diesen Widerspruch – ganz stark ausgeprägt bei
der Situation in Deutschland, wenn man nur an die deutsche Außenministerien
denkt, Frau Baerbock. Ich sage es mal so: Jede Reise ins Ausland von ihr
erfüllt mich schon mit Angst und Bangen, wo sie uns, also Deutschland, wieder
mal blamieren wird.
Es ist auch die Frage der Diplomatie, die heute eine ganz andere geworden
ist, als es noch früher war. Diplomatie war früher etwas Herrliches, die
Sprache der Diplomaten gebildet, klug, verschlüsselt, nicht wahr? Und die
Aufgabe der Diplomaten war, die Interessen des Heimatlandes zu vertreten,
durch Verhandlungen – dadurch, daß man auch sich vielleicht teilweise in die
Lage des anderen versetzt hat und versucht hat, die Argumente zu verstehen,
die er aufbringt.
Heute haben wir in Deutschland eine „feministische Außenpolitik“. Ja, was
ist das? Das ist doch eigentlich Schwachsinn, nicht wahr? Die Außenpolitik muß
eins sein, eindeutig sein und immer im Interesse des Landes sein, und nicht
feministisch und was weiß ich was. Das sind alles so – Modeworte. Es steckt
nichts Substantielles dahinter.
Wir beschäftigen uns heute auch sehr stark mit der Frage des Krieges und
des Friedens, vielleicht in unmittelbarer Nachbarschaft von uns in der
Ukraine.
Ich muß allen gestehen, hier vor der ganzen Welt, daß ich am 23. Februar
vor zwei Jahren noch gesagt habe: „Ich bin voll davon überzeugt, daß es keinen
Krieg geben wird.“ Am nächsten Tag wurde ich dann eines Besseren belehrt. Ich
bin nach wie vor unglücklich darüber, daß sich Rußland, daß sich Putin in
diesen Krieg provozieren ließ. Denn es ist Fakt: Rußland hat die Ukraine
überfallen. Das gibt dann jedem die Möglichkeit, Rußland als Aggressor zu
bezeichnen, was auch richtig ist. Aber dahinter schaut man nicht mehr weiter,
was dann die Gründe dafür waren, nicht wahr? Und das verschweigen die
Politiker und die Presse im Westen.
Das Versprechen, das man Rußland gegeben hat, damals nach der Auflösung der
Sowjetunion, daß die NATO sich keinen Schritt weiter in den Osten bewegen
würde – gut, das war ja nicht vertraglich definiert, das waren ja mündlich
vereinbarte Äußerungen; aber ich glaube, auch die müssen eingehalten werden!
Und was ist heute die Situation? Die NATO ist dann vorgerückt Richtung Osten.
Teilweise ist sie ja schon an den Grenzen von Rußland.
Und worum geht es eigentlich in diesem Krieg? Nicht darum, wie neulich Frau
Baerbock sagte, daß wir unsere Freiheit in der Ukraine verteidigen müßten, das
ist alles Schwachsinn.
Ein [amerikanischer] Senator, ich glaube, [Lindsey] Graham heißt er, hat
vor wenigen Tagen gesagt, daß in der Ukraine im Boden Bodenschätze von 12
Billionen Dollar sind. Und diese Bodenschätze könne man nicht den Russen und
den Chinesen überlassen, die müsse Amerika verwalten, übernehmen.
Das ist eine der vielen, vielen Äußerungen, die gemacht wurden, die
eigentlich klargemacht haben, was die wahren Gründe des Krieges sind. Und
hierüber wird große Propaganda getrieben. Diplomatie ist vollkommen verloren,
niemand denkt mehr dran. Es werden Schimpfworte benutzt, was früher eigentlich
unvorstellbar war in der Diplomatie. Und das macht mich auch traurig.
Es macht mich auch traurig, daß uns Politiker führen oder denken, sie
würden uns führen, während sie keinerlei Erfahrung haben, auch im Verkehr
zwischen Nationen nicht. Uns fehlt jegliche Einfühlsamkeit, das ist eigentlich
das Hauptproblem.
Warum Ungarn gegen den Krieg ist
Und dann komme ich zum Thema Ungarn. Ich bin in Ungarn geboren, und ich
begleite aufmerksam die Politik auch in Ungarn.
Die Partei Fides, die Orban schon seit geraumer Zeit führt, hat jetzt an 9.
Juni zweimal groß gesiegt – einmal in den Europawahlen und zum anderen
natürlich auch in den Kommunalwahlen in Ungarn.
Man muß ein wenig die ungarische Geschichte kennen, um die Ungarn und ihr
Verhältnis zum Krieg heute und auch sonst zu begreifen: Ungarn wurde zweimal
in der Geschichte gegen seinen Willen in einen Krieg hineingezerrt.
Das erste Mal in den Ersten Weltkrieg, allerdings damals noch in der
Zusammensetzung Österreich-Ungarn. Ungarn war überhaupt nicht schuldig an dem
Krieg, hat aber den größten Schaden davon gehabt, zumindest nach dem Krieg bei
den Friedensverträgen – man nennt es heute in Ungarn das Friedensdiktat. Denn
das ist niemals in der Geschichte passiert, daß ein Land nach einem Krieg, in
dem Fall dem Ersten Weltkrieg 72 Prozent seines Territoriums verliert – das
waren Gebiete, die tausend Jahre lang ungarisches Staatsgebiet waren -; 67
Prozent seiner Bevölkerung verliert (die waren natürlich nicht alle Ungarn,
das ist klar); und 3,5 Millionen Ungarn sind von heute auf morgen Staatsbürger
eines anderen Landes geworden. Die Ungarn sagen heute: „Ungarn ist das Land,
welches eigentlich nur noch mit sich benachbart ist.“ Das heißt, wenn man eine
Grenze übertritt, egal in welche Richtung, befindet man sich eigentlich immer
noch im ehemaligen Ungarn.
Das zweite Mal war der Zweite Weltkrieg, wo die Deutschen Ungarn an der
Seite von Hitler in den Krieg gepeitscht haben, durch falsche Bombardierungen.
Deutsche Flieger haben mit russischen Hoheitszeichen – die Stadt war damals
wieder ungarisch geworden – die Stadt Kassa oder Kaschau oder Kosice, heute
slowakisch, bombardiert, worauf dann die Ungarn praktisch in den Krieg
eingetreten sind, in den Krieg gepreßt wurden, und dabei haben sie riesige
Verluste erlitten, menschliche, technische, aber auch wieder
Gebietsverluste.
Denn die Gebiete, die Ungarn von Hitler bekommen hat, wurden wieder
abgetrennt, und zusätzlich noch dazu drei Dörfer im Norden bzw. im Nordwesten,
praktisch an der Grenze zu Österreich und zur Slowakei. Drei Dörfer wurden von
Ungarn abgetrennt, das war der Wille der tschechoslowakischen Regierung. Das
ist dieses Gebiet südlich von Pozsony oder Preßburg oder slowakisch
Bratislava. Diese Gebiete sind notwendig, um Entwicklungsmöglichkeiten der
Stadt Bratislava zu sichern.
Das heißt, die Ungarn haben sehr, sehr schlechte Erfahrungen gemacht mit
den Kriegen, und deswegen ist es auch so, daß die ungarische Führung von
Anfang an für Waffenstillstand und Friedensgespräche eingetreten ist, bis
heute, konsequent. Und das wird auch von der Bevölkerung stark unterstützt,
obwohl sich ein Großteil der Bevölkerung eigentlich an die damaligen
Ereignisse, die ich jetzt aufgeführt habe – Erster, Zweiter Weltkrieg –, nicht
mehr erinnern kann, weil sie ja jung sind, aber sie kennen die Geschichte,
kennen sie aus Erzählungen von Eltern und Großeltern, und natürlich auch aus
dem Geschichtsunterricht. Und aus meiner Sicht, wenn ich das auch noch sagen
darf: Diese Haltung ist die einzig richtige!
Übrigens: Meine Bekannten, meine Freunde erzählten mir, daß bei solchen
Gesprächen in der EU usw., wo dann der Ministerpräsident Orban streng seine
Meinung vertritt, in den Pausen dann die anderen Regierungschefs oder
Staatschefs – was für ein Treffen das gerade auch ist – so beim Kaffee und
hinter vorgehaltener Hand sagen: „Ja, wir sind auch dieser Meinung, aber wir
wollten das nicht so deutlich machen.“
Und das macht nachdenklich: Wieso seid ihr dann Führer des Landes,
Präsidenten, Ministerpräsidenten, wenn ihr keinen Mut habt, eure Meinung zu
sagen? Das ist natürlich eine Katastrophe.
Damit will ich nur sagen: Die Ungarn haben diese Politik nicht weil, sie
„Putin-freundlich“ sind oder wie auch immer. Meine Großeltern haben auch nie
positiv von der Russen gesprochen. Es ist eigentlich die einzig nüchterne
Haltung eines vielgeprüften Landes, wie Ungarn es ist.
Und das muß man verstehen, nicht? Die Diplomatie ist auch Diplomatie,
deswegen ist das Wort ja so – Diplomatie – weil auch andere Meinungen
berücksichtigt werden.
Und wie ich hörte, war vorgestern der NATO-Generalsekretär in Ungarn, und
siehe da, bei einem nüchternen, deutlichen Gespräch wurden die Argumente der
Ungarn, also von Viktor Orban, vom NATO-Generalsekretär stundenlang angehört,
und nicht nur das, sondern es wurde auch gesagt, daß er dies durchaus
vertreten kann. Und es gab die Garantie von ihm, daß die Ungarn bei dieser
Ukraine-Initiative der NATO weder Soldaten noch Geld noch Technik noch das
Land als Aufmarschgebiet zur Verfügung stellen.
Ich hoffe nach wie vor, daß hier die Vernunft einkehrt. Denn während die
Politiker so großartig streiten – „Ja, wir müssen dies und müssen das“, was
weiß ich was –, sind während dieses Satzes, den sie formuliert haben, bestimmt
einige hundert Soldaten auf beiden Seiten, auf der ukrainischen und auch auf
der russischen Seite, getötet worden.
Also, ich hoffe auf Frieden, für uns alle, für die Ukraine, für Rußland,
für Europa und für die ganze Welt.
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