Die Krise der Diplomatie
Von Dr. Alexander Bobrow
Dr. Alexander K. Bobrow ist außerordentlicher Professor am
Fachbereich für Diplomatie, MGIMO-Universität, Moskau.
Zunächst einmal möchte ich mich dafür bedanken, daß Sie mir das Wort
erteilen, um vor einem so angesehenen Publikum zu sprechen, und vor all jenen,
die wirklich über die Zukunft der Menschheit und die Zukunft der internationalen
Beziehungen nachdenken. Mein Name ist Dr. Alexander Kyrillowich Bobrow. Ich bin
außerordentlicher Professor am Lehrstuhl für Diplomatie am Moskauer Staatlichen
Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO), und wie Sie sich vorstellen
können, beschäftige ich mich mit Diplomatie. Diplomatie ist meiner Meinung nach
ein Instrument der Staatskunst, das darauf abzielt, verschiedene politische
Konflikte mit friedlichen Mitteln zu lösen. Und was wir jetzt sehen, ist im
allgemeinen die Krise der Diplomatie. Und das ist etwas, das ich für sehr
wichtig halte, und es ist die Wurzel allen Übels, das es jetzt in den
zeitgenössischen internationalen Beziehungen gibt.
Im Grunde wird sich meine Rede also mit der Krise der Diplomatie befassen,
mit den charakteristischen Merkmalen dieser Krise und was dagegen zu tun
ist.
Zunächst möchte ich sagen, daß die Krise der Diplomatie nicht in der ganzen
Welt zu beobachten ist. Sie ist nur zu erkennen, wenn wir uns auf das
konzentrieren, was derzeit in den bilateralen Beziehungen zwischen dem Westen
und Rußland im Allgemeinen und den Beziehungen zwischen den USA und Rußland im
besonderen vor sich geht. Wir sehen, daß es keinerlei Verhandlungen zwischen den
Staats- und Regierungschefs dieser Länder gibt, zwischen Präsident Wladimir
Putin und seinen amerikanischen oder europäischen Amtskollegen. Wir sehen, daß
es absolut keinen Dialog zwischen den Außenministern gibt, zwischen dem
US-Außenministerium und dem russischen Außenministerium; dasselbe könnte für den
Dialog zwischen unserem Außenministerium und denen der europäischen Länder
gelten und ich glaube, dies ist ein vernichtendes Beispiel dafür, wie Diplomatie
im allgemeinen nicht funktionieren sollte.
Wir sehen auch die Wellen verschiedener Ausweisungen russischer Diplomaten
aus verschiedenen westlichen Ländern, die jede Form des offiziellen Dialogs
zwischen unseren Ländern verhindern, und wie Sie verstehen, geht dies mit
verschiedenen Wellen von Sanktionen einher, die gegen Rußland, gegen unsere
Wirtschaft verhängt werden. Das schafft eine Situation, in der wir in einem
Teufelskreis von Feindseligkeiten und einem Teufelskreis von politischen
Aktivitäten stecken, die uns daran hindern, einen Konsens zu finden.
Wie Sie wissen, zielen viele westliche Strategien auf eine Politik des „Wie
du mir, so ich dir“ ab, was bedeutet, daß auf jede einzelne Maßnahme, die
beispielsweise von Rußland ergriffen wird, Vergeltungsmaßnahmen folgen sollten.
Dies führt uns in eine diplomatische Sackgasse, in der es keine Diplomatie mehr
gibt oder diese in unseren bilateralen Beziehungen nicht mehr funktioniert.
Ich glaube, daß der einzige Weg, um aus diesem Teufelskreis herauszukommen,
darin besteht, miteinander zu kommunizieren. Diplomatie bedeutet, miteinander zu
reden, einander zuzuhören und einander zu verstehen. Und ich muß sagen, daß die
offizielle Position der russischen Regierung auch sehr offen war, sie war offen
für jede Form des Dialogs, auch wenn wir anderer Meinung sind. Das bedeutet
nicht unbedingt, daß wir in allen Fragen, die die Welt, unsere bilateralen
Beziehungen oder beispielsweise Eurasien betreffen, einer Meinung sein müssen,
aber es bedeutet, daß wir in der Lage sein müssen, Botschaften zu vermitteln, zu
verstehen, welche Auswirkungen die ergriffenen Maßnahmen tatsächlich haben, und
natürlich, was wir tun können, um unsere Zivilisationen, unsere Länder
zusammenzubringen.
In meiner Rede möchte ich kurz auf einige zentrale Themen eingehen, die mit
der großen Strategie Rußlands zu tun haben, denn das ist etwas von großer
Bedeutung und von großem Interesse für mich als Spezialist, der tatsächlich
ausführlich auf Englisch und Russisch über die große Strategie Rußlands, über
die Außenpolitik meines Landes und über Diplomatie im allgemeinen schreibt.
Ich glaube, daß der einzige Weg darin besteht, die Grundsätze des
Völkerrechts und internationale Abkommen zu diskutieren, durch die man
tatsächlich mehrere Bedingungen schaffen kann, damit ein Land eine Politik
verfolgen kann, die mehr oder weniger mit den nationalen Interessen des Landes
übereinstimmt. Und nur durch Diplomatie können solche Verhandlungen besiegelt
werden.
Gleichzeitig glaube ich, daß die aktuellen Entwicklungen in den Beziehungen
zwischen den USA und Rußland auch sehr schlimme Folgen haben können,
insbesondere wenn man bedenkt, daß die USA und Rußland 90% aller Atomwaffen
besitzen und wir Gefahr laufen, einen umfassenden Atomkrieg zu führen, wenn
nichts unternommen wird.
Zunächst einmal sollte man, so würde ich sagen, einen neuen Weg finden, um
den verschiedenen Meinungen in Bezug auf die Rüstungskontrolle neues Leben
einzuhauchen: Früher hatten wir so viele verschiedene Abkommen, die darauf
abzielten, Atomwaffen zu reduzieren und jede Form des direkten Einsatzes dieser
Atomwaffen zu verhindern. Und auch das wurde ignoriert und dann vollständig – es
wurde vom Westen ignoriert, insbesondere als die US-Regierung beschloß, sich aus
mehreren Verträgen zurückzuziehen, die während des Kalten Krieges zwischen den
USA und der UdSSR oder zwischen den USA und Rußland in den 1990er Jahren und zu
Beginn des 21. Jahrhunderts unterzeichnet wurden.
Ich glaube, daß alles, was derzeit in der Ukraine vor sich geht, auch ein
vernichtendes Beispiel dafür ist, wie die europäische Struktur und das
europäische Sicherheitssystem nicht funktionieren sollten, insbesondere
wenn wir uns die Krise der OSZE, der Organisation für Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa, ansehen, die auf diesem Kontinent keine Sicherheit und
Zusammenarbeit mehr bietet. Damit meine ich, daß die NATO und die USA alle
anderen multilateralen Institutionen gekapert haben, wobei die Europäische Union
nur eine wirtschaftliche Dimension der von der NATO geführten europäischen
Allianz ist.
Das ist etwas, das nicht nur Rußland betrübt, sondern auch verschiedene
neutrale Länder, die gezwungen sind, der NATO beizutreten und Teil dieses
antirussischen Systems zu werden. Und wenn ich das sage, denke ich vor allem an
Schweden und Finnland, die früher neutral waren, sogar zu Zeiten des Kalten
Krieges, und jetzt Teil all der Vorbereitungen sind, die gegen Rußland getroffen
werden, um einen möglichen Konflikt zu provozieren, etwas, das Diplomaten zu
verhindern versuchen.
Ich glaube, daß diese diplomatische Krise zwischen den USA und Rußland nicht
nur Auswirkungen auf Europa oder Eurasien im allgemeinen hat, sondern auch auf
andere Teile der Welt. Was wir beispielsweise jetzt im Nahen Osten sehen,
insbesondere in diesem Tauziehen zwischen Israel und dem Iran, hat auch damit zu
tun, daß die Beziehungen zwischen Moskau und Washington so schlecht sind. Denn
unsere beiden Länder hätten mehrere Voraussetzungen für eine diplomatische
Lösung dieses Konflikts schaffen können, um Israel davon abzuhalten,
Palästinenser direkt anzugreifen und eine Militäroperation gegen den Libanon zu
starten.
Wenn ich über die strategische Situation spreche, denke ich in erster Linie
an die Asien-Pazifik-Region, insbesondere an die Eindämmung Chinas und
Nordkoreas und all diese politischen Maßnahmen, mit denen die USA diese
indopazifische Region schaffen wollen, was bedeutet, daß die USA Australien,
Japan, Südkorea und Indien unterstützen, um die chinesische Wirtschaft zu
schwächen. Das ist sicherlich keine günstige Voraussetzung für ein friedliches
Zusammenleben in dieser Region. Und indem wir in dieser Region Trennlinien
schaffen, fördern wir nur die potentiellen Konflikte, die in diesen Ländern und
in dieser Region bestehen.
Ich bin daher der Meinung, daß diese diplomatische Krise direkte Auswirkungen
auf die ganze Welt haben wird. Es geht nicht nur um Washington und Moskau oder
Washington und die europäischen Länder. Es geht um unser globales Dorf. Es geht
darum, wie wir im 21. Jahrhundert in der Welt leben werden.
Und ich glaube und hoffe sehr, daß die Diplomatie siegen wird. Um zu siegen,
müssen wir unsere gemeinsamen Interessen verstehen. Wir müssen unsere
respektierten Strategien verstehen. Um das zu verstehen, müssen wir uns in die
Lage der anderen Person versetzen und versuchen, jeden einzelnen Konflikt und
jeden einzelnen Punkt auf der Tagesordnung zu verstehen, nicht nur durch unsere
eigene Brille, sondern auch durch das Prisma unserer Gesprächspartner. Und ich
sehe deutlich, daß Rußland versucht, die Motivation der westlichen Länder, der
Ukraine und anderer Länder, die sehr aggressiv gegenüber Rußland sind, zu
verstehen, aber wir sehen das nicht als Reaktion.
Deshalb hoffe ich wirklich, daß diese Konferenz dazu beitragen wird, ein
kollektives Verständnis für die verschiedenen Probleme in der Welt zu schaffen,
und daß wir gemeinsam zumindest den Politikern helfen können, aus allem, was vor
sich geht, die richtigen Schlüsse zu ziehen und einmal mehr aus diesem
Teufelskreis von aggressiven Reaktionen nach dem Motto „Wie du mir, so ich dir“
auszubrechen.
Vielen Dank, daß Sie mir das Wort erteilt haben. Und ich beantworte gerne
weitere Fragen, falls Sie noch welche haben. Vielen Dank.
|