Die Globale Mehrheit hat Lösungen anzubieten
Von Glenn Diesen
Glenn Diesen ist Politikwissenschaftler und Professor an der
Universität von Süd-Ost-Norwegen.
In meinem heutigen Vortrag geht es in erster Linie darum, daß die Globale
Mehrheit oder der Globale Süden in der Lage ist, einige Lösungen für die großen
Herausforderungen der Zukunft anzubieten. Meine Hauptannahme oder These ist, daß
der Westen und Rußland in einen Konflikt verstrickt sind, der die meiste
Aufmerksamkeit der Welt auf sich zieht. Dies ist im Grunde ein Konflikt, für den
es keine Lösungen gibt – der Gewinner bekommt alles. Wir sehen daher, daß beide
Seiten bereit sind, große Risiken einzugehen, weil es keinen akzeptablen Plan B
gibt.
Daher lohnt es sich meiner Ansicht nach, zu untersuchen, wie wir an diesen
Punkt gelangt sind, aber auch, warum es der Rest der Welt – eben der „Globale
Süden“ – sein muß, der Lösungen liefert. Es geht jetzt um den Sicherheitsrahmen,
der nicht auf die Ukraine beschränkt ist, wir schauen auch auf den Nahen Osten,
aber auch auf Ostasien. Alles wird immer mehr im Sinne eines Nullsummenspiels
definiert, und es ist auch bemerkenswert, daß niemand mehr wirklich von Frieden
spricht, von Kompromissen, gegenseitigem Verständnis. All das gehört jetzt der
Vergangenheit an.
Ich denke, das liegt zum großen Teil daran, daß es keine alternativen Ideen
gibt und praktisch alles auf dem Spiel zu stehen scheint. Im Kern ist es meiner
Meinung nach wichtig, die Panik zu verstehen, die derzeit im Westen herrscht,
insbesondere im Krieg gegen Rußland. Vor allem die Europäer haben alles auf die
Idee gesetzt, daß die Russen relativ schnell besiegt werden könnten. Wir [im
Westen] haben einige ganz außergewöhnliche Dinge getan; es gab auch kaum
Widerspruch, was ziemlich bemerkenswert ist, wenn man bedenkt, daß wir jetzt die
größte Atommacht der Welt direkt angreifen, drei Jahre lang jegliche Diplomatie
boykottieren und nicht einmal fähig sind, zu definieren, was ein Sieg bedeutet,
ohne einen Atomkrieg auszulösen. All das wurde ohne jeden Widerspruch
hingenommen, sowohl politisch als auch intellektuell. Journalisten, Akademiker –
alle haben sich mehr oder weniger der Linie angeschlossen. Es ist eine ganz
außergewöhnliche historische Zeit.
Die Vorgeschichte
Nun ist es erwähnenswert, wie wir an diesen Punkt gekommen sind – dort liegt
auch ein Grund, warum der Globale Süden höchstwahrscheinlich die Lösung
hat.
Nach dem Kalten Krieg haben sich alle im Westen mehr oder weniger Fukuyamas
Idee vom „Ende der Geschichte“ angeschlossen – diese Idee eines ewigen Friedens,
in dem sich die Welt unter westlicher Führung vereinen würde. Alle würden unsere
Normen, unsere Werte übernehmen. Das wäre die Quelle eines Friedens für die
Ewigkeit. Unsere gesamte politische Klasse der nächsten Jahrzehnte ist in diesem
System, unter dieser Ideologie, aufgewachsen, wenn man so will – überzeugt von
diesem liberalen Traum. Das ist auch der Grund, warum es an Widerspruch mangelt.
Es ist schwer, für etwas anderes zu argumentieren, für die Idee, daß wir Politik
auf eine völlig neue Art und Weise betreiben könnten, die wertebasiert ist und
nicht in die Großmachtpolitik der Vergangenheit verfällt.
So gingen alle davon aus, daß das ein Weg ohne Störungen würde, doch
plötzlich ist alles aus den Fugen geraten. Ich denke, jetzt, wo sich eine
Alternative zu dem entwickelt, was man für das zukünftige System hielt, sieht
man in dieser Alternative nur mehr Chaos, Anarchie, unberechenbare Mächte, die
nicht unbedingt unsere Werte teilen. Offensichtlich gilt Rußland als die
Hauptmanifestation dessen, als die Quelle der meisten Probleme. Bei allen
Herausforderungen auf dem Weg zur Multipolarität wird immer eine zentrale Macht
als Bedrohung angesehen. Selbst wenn man Rußland aus der Gleichung herausnimmt,
herrscht die Überzeugung, daß China die größte Bedrohung sein wird, einfach weil
es die wichtigste Wirtschaftsmacht und der größte Rivale der Vereinigten Staaten
ist.
Auch hier muß man kurz innehalten und über den Wahnsinn nachdenken, der
dahintersteckt. Wenn man sich die Geschichte Chinas in den letzten Jahrzehnten
ansieht, ist diese Geschichte wirklich bemerkenswert. Es war der
außergewöhnlichste wirtschaftliche Aufstieg der Geschichte, und das alles ohne
Beherrschung oder Eroberung anderer. Ungeachtet dieses ganz friedlichen
Aufstiegs scheinen die USA und ihre europäischen Verbündeten nun bereit, sich
China entgegenzustellen. Sie haben sich selbst eingeredet, Chinas Aufstieg sei
etwas Unannehmbares, einfach weil er die ganze Welt durcheinanderbringt, von der
uns versprochen wurde, daß sie nach dem Kalten Krieg Bestand haben würde.
Es gab für uns also einen Wechsel von dieser Ära der Utopie mit einem ewigen
Frieden zu einer völligen Ungewißheit, und wir werden von der Vorstellung
mitgerissen, daß uns neue Konflikte bevorstehen. Einige finden sogar Trost
darin, die Vorstellung eines neuen Kalten Krieges ist für sie eine gute Sache.
Denn wir erinnern uns an den ersten Kalten Krieg, in dem der Westen aus
blühenden Demokratien bestand und wir die wettbewerbsfähigsten Volkswirtschaften
hatten, als ein Gefühl moralischer Autorität und auch großes Vertrauen
herrschten. Auch gab es einen weitgehenden inneren Zusammenhalt.
Natürlich ist das Konzept des Kalten Krieges meiner Meinung nach eher eine
Täuschung als eine Hilfe, weil nichts mehr von alledem real ist. Wir haben
unsere Demokratien stark ausgereizt, wenn man sich ansieht, was in den USA,
Deutschland und Frankreich passiert. Fast täglich werden ganz undemokratische
Entscheidungen getroffen. Wir sind wirtschaftlich nicht mehr wettbewerbsfähig.
Amerika hat festgestellt, daß es nicht ohne China auskommen kann, aber China
kann ohne Amerika auskommen. Ähnlich haben die Europäer festgestellt, daß
Rußland ohne uns auskommen kann, aber wir nicht ohne Rußland. Die Idee eines
neuen Kalten Krieges halte ich definitiv für den falschen Weg.
Die Rolle des Globalen Südens
Mein Punkt ist einfach, daß der Westen nicht unbedingt böse ist. Ich denke,
es fehlt ihm derzeit einfach an politischer Vorstellungskraft. Offensichtlich
wollen wir die Russen nicht anhören, angesichts der Feindseligkeit, die sich in
den letzten Jahren aufgebaut hat. Unsere Politiker verbreiten derzeit viel
Unsinn. Ich glaube, sie sind völlig ihren Narrativen verpflichtet, und diese
Narrative entfernen sich immer mehr von der Realität, insbesondere da wir den
Wirtschaftskrieg gegen China und den Stellvertreterkrieg gegen die Russen
verlieren. Das zeichnet ein sehr düsteres Bild für die Zukunft.
Der Grund, warum ich denke, daß die Globale Mehrheit oder der „Rest der Welt“
die Lösung hat, ist der, daß derzeit niemand anderes da ist, der eine
optimistischere Sicht auf die Welt verkörpert. Wir haben offensichtlich keine,
und wenn wir die Russen sehen, sind wir überzeugt, daß sie eine „neue
Sowjetunion“ sind, egal was sie sagen. Sie haben vielleicht gar nicht die
Absicht oder die Fähigkeit, so zu herrschen wie in der Vergangenheit, aber auch
hier hat die Realität keinen besonders großen Einfluß mehr auf unsere
Sichtweise.
Ich halte es jetzt für dringend notwendig, daß die Globale Mehrheit beginnt,
eine optimistischere Sicht auf die Welt zu formulieren, die gerade entsteht. Das
ist eine multipolare Welt, in der eine multipolare Machtverteilung nicht als
Bedrohung angesehen wird. Man sollte darin vielmehr als eine große Chance sehen.
Zum ersten Mal in der Geschichte haben wir die Möglichkeit, wirklich alles vom
Atlantik bis zum Pazifik miteinander zu verbinden – dieser riesige eurasische
Kontinent, der Europa und Asien vereint. Wir haben neue Technologien, die viele
der Probleme der Vergangenheit lösen können. Und wir können endlich einige
dieser Bündnissysteme überwinden, die uns während des Kalten Krieges geplagt
haben. Anstatt also Zuflucht darin zu suchen, zu den Bündnissystemen
zurückzukehren, haben wir eine neue Möglichkeit, sie zu überwinden.
Wir haben gesehen, was die Globale Mehrheit mit Institutionen wie den BRICS
erreichen konnte. Auch die Chinesen bemühen sich, Bündnissysteme zu überwinden,
indem sie etwa auf Frieden zwischen den Iranern und Saudis drängen, und wir
sehen jetzt auch, wie die wirtschaftliche Vernetzung dazu beiträgt, China und
Indien einander näher zu bringen.
Ich zitiere oft Adam Smith, weil er tatsächlich darüber geschrieben hat, er
hoffte, daß wir irgendwann eine gleichmäßigere Verteilung des Reichtums auf der
Welt erreichen könnten. Das ist nichts, wovor man Angst haben sollte, sondern
etwas, wonach wir streben sollten. Denn was wir jetzt tun, ist nicht nur
schlecht für den Westen, sondern auch schlecht für die ganze Welt. Wir sehen
nun, daß die USA sich selbst erschöpfen, und das schafft Anreize für einen
kollektiven Ausgleich. In Europa werden die Wirtschaftsbeziehungen nicht
diversifiziert, was für Wohlstand und politische Autonomie erforderlich wäre.
Stattdessen sehen wir, wie es sich jetzt ausschließlich mit den Vereinigten
Staaten verbindet, und als Folge davon erlebt es wirtschaftlichen Niedergang,
politische Unterordnung und Bedeutungslosigkeit.
Wenn man also viele der Probleme in der Welt lösen will, muß man
Bündnissysteme überwinden. Die ältesten Kriege, die aus unipolarer Dominanz
resultieren – diese ewigen Kriege –, und die massive Migration nach Europa als
Folge dieser Kriege, viele dieser Probleme könnten gelöst werden. Das sind
einige der großartigen Möglichkeiten, die uns dieses entstehende multipolare
System bietet. Daher fordere ich die Globale Mehrheit nochmals auf, eine
Führungsrolle bei der Formulierung einer positiven Zukunftsperspektive zu
übernehmen.
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