Das klassische Prinzip wiederbeleben,
eine neue Renaissance aufbauen
Von Megan Dobrodt
Megan Dobrodt, Präsidentin des Schiller-Instituts in den
Vereinigte Staaten, hielt den folgenden Vortrag auf der Regionalkonferenz des
Schiller-Instituts in New York City am 24. und 25. Mai im Rahmen des zweiten
Abschnitts „Die Schönheit der Vielfalt der Kulturen“. (Übersetzung aus dem
Englischen, Untertitel wurden hinzugefügt.)
Die Menschheit braucht eine neue Goldene Renaissance! Helga Zepp-LaRouche hat
mir zum ersten Mal die Idee vermittelt, daß eine Renaissance nicht einfach so
passiert, sie entsteht nicht zufällig als Segen aus den gleichgültigen
Strömungen der Geschichte. Eine Renaissance wird geschaffen. Sie entsteht
durch die Absicht und Leidenschaft von Menschen, die davon überzeugt sind, daß
die Natur der Menschheit edler ist als ihr gegenwärtiger Zustand, und die danach
streben, das beste ihrer Geschichte, Kunst, Musik, Poesie, Dramatik und
Philosophie ihres Landes zu finden, und darauf beharren, daß dies als Grundlage
und Katalysator für eine neue Kultur herangezogen wird.
Es gab viele schöne Renaissance-Perioden in der Geschichte der Menschheit:
das islamische Goldene Zeitalter, das im 8. Jahrhundert in Bagdad begann, die
Andalusische Renaissance des 10. und 11. Jahrhunderts in Südspanien, die
Konfuzianische Renaissance der Song-Dynastie in China ab dem 11. Jahrhundert,
und die Goldene Renaissance des 15. Jahrhunderts mit Florenz als Zentrum – um
nur einige zu nennen. Wir stehen heute bereit, eine Renaissance zu entfesseln,
die sie alle übertrifft. Denn in diesen Epochen blühte zwar ein Teil der Welt
unter einer schönen Kultur auf, aber gleichzeitig litten viele andere Teile der
Welt unter einem dunklen Zeitalter. Heute haben wir zum ersten Mal die
Möglichkeit, daß die klassische Kultur auf dem gesamten Globus aufblüht und die
ganze Menschheit gleichzeitig einbezieht.
Die wahre Bedeutung von „klassisch”
Klären wir als erstes, was man unter „klassisch” verstehen sollte.
„Klassisch“ bezeichnet weder eine bestimmte Zeitperiode oder geographische
Region, noch bedeutet es, daß etwas „sehr alt” ist. Der Begriff „klassisch”
bezieht sich, richtig verwendet, auf ein Prinzip des menschlichen Geistes: die
Kraft der kreativen Vernunft, die uns befähigt, Prinzipien unseres Universums zu
entdecken und sie anderen mitzuteilen. Klassische Kultur bezieht sich auf
diejenigen Kunstwerke, die zum Ziel haben, diese Fähigkeit der menschlichen
Seele zu erschließen, zu entwickeln und zu bereichern.
Lyndon LaRouche schrieb 1992 in seinem Aufsatz „Die klassische Idee:
Natürliche und künstlerische Schönheit”:
„Der Zweck der Kunst besteht darin, den edelsten Geisteszustand, den der
einzelne erreichen kann, zu feiern und zu stärken, und uns so dabei zu helfen,
bessere Menschen zu werden. Es ist ein Beitrag, der am besten und natürlichsten
in der von agapē [Nächstenliebe] vorgeschriebenen Weise gefeiert
wird, durch eine Intensivierung jener anti-erotischen Qualität der Emotion, die
wir mit kindlichen Tränen der Freude assoziieren...
Das wertvollste Geschenk, das wir empfangen können, ist das Mittel, die Kraft
von agapē hervorzubringen, um unseren Geist zu beherrschen und unser
Handeln nach Belieben zu lenken. Künstlerische Schönheit ist ein Hebel, mit dem
wir genau das tun können. Das ist der Zweck der Kunst im allgemeinen und der
Musik im besonderen, gemäß der klassischen Idee.“
Ich kann mir denken, daß das eine ganz andere Vorstellung von „klassisch“,
aber auch von der Rolle und dem Zweck der Kunst im allgemeinen ist, als Sie es
gewohnt sind. Sicherlich ist es das Gegenteil von fast allem, was heutzutage im
Namen von „Kunst“ gemacht wird. Was LaRouche zum Ausdruck brachte, ist eine
universelle Idee, denn sie bezieht sich auf eine universelle Eigenschaft des
menschlichen Geistes, der menschlichen Seele, die uns alle von den Tieren
unterscheidet.
Lassen Sie uns etwas tiefer in diese Idee eintauchen. Was ist dieser „edelste
Geisteszustand”, von dem Lyndon LaRouche spricht? Was ist das Besondere am
menschlichen Denken im Gegensatz zum „Denken“ der Tiere?
Körper und Geist – ein einzigartiger Widerspruch im Menschen
Als Menschen führen wir ein paradoxes Dasein. Einerseits laufen wir in
tierartigen Körpern herum, die in Hinsicht auf den Körper im Vergleich zum Rest
der natürlichen Welt nichts Besonderes sind. Unsere Körper erleben alle
möglichen Dinge über unsere Sinne. Wir beobachten Phänomene, wir erkennen
Muster; manche möchten wir in Zukunft vermeiden, andere möchten wir vielleicht
weiterverfolgen.
Wir bemerken vielleicht, daß die Sonne jeden Tag aufgeht, über den Himmel
wandert und auf der anderen Seite des Horizonts untergeht. Wenn wir etwas
scharfsinniger sind, bemerken wir vielleicht auch, daß der Ort, an dem sie
aufgeht, nicht jeden Tag genau derselbe ist. Er ändert sich im Laufe des
Jahres.
Wir bemerken vielleicht auch andere Dinge am Himmel, wie bestimmte Sterne,
die nicht in festen Konstellationen bleiben, sondern sich frei zu bewegen
scheinen und manchmal Bahnen vor dem Hintergrund der anderen Sterne beschreiben,
die wie Loopings aussehen. Die alten Griechen nannten diese vagabundierenden
Sterne „Planeten” – Wanderer. All diese und andere beobachtete Phänomene und die
Muster, die sie bilden, sind für unsere Sinne und unser Gehirn wahrnehmbar.
Der andere Teil unserer Existenz betrifft den menschlichen Geist, der etwas
anderes ist als das Gehirn. Der Geist ist in der Lage, aus sich selbst heraus,
nicht aus Erfahrungen, sondern aus seinen eigenen Vorstellungen von
Angemessenheit, Güte, Schönheit und Effizienz eine Vorstellung von
Ursachen zu entwickeln. Was ist die wirksame Ursache hinter einem
beobachteten Phänomen? Warum bewegen sich die Planeten? Was ist die
wirksame Ursache hinter einer Vielzahl von miteinander verbundenen und paradoxen
Phänomenen?
Eine Ursache ist nichts, was man sehen kann. Man kann sie nicht anfassen,
schmecken oder riechen. Eine Ursache ist eine Idee. Sie ist die Antwort
auf die Frage: „Warum hat Gott das so geschaffen und nicht anders?“ Eine
Ursache hat keine Farbe oder Form, keine besonderen physikalischen
Eigenschaften, und doch hat jede Ursache einen ganz bestimmten und erkennbaren
Charakter, eine Wirkungsweise, die, obwohl sie zunächst als Idee in einem
bestimmten menschlichen Geist entstanden ist, potentiell allen anderen
menschlichen Geistern mitteilbar und erkennbar ist. So werden universelle und
wahre Ideen von Ursache und Prinzip geschaffen durch diese unglaubliche
Fähigkeit, die wir den menschlichen Geist nennen.
Was ich gerade zumindest in groben Zügen beschrieben habe, bildet die
Grundlage der Wissenschaft und aller Verbesserungen der menschlichen
Lebensbedingungen über Jahrtausende hinweg.
Wie hängt das nun mit der Kunst zusammen?
Die Rolle großer Kunst bei der Gestaltung der Zukunft
Große Dichtung – denken wir zum Beispiel in der englischen Sprache an die
Werke von Shakespeare, Shelley, Keats, Poe und Dunbar – drückt etwas so präzise
aus, wie man es in wörtlicher Sprache nicht ausdrücken kann. In einem
meisterhaften Gedicht wird das Thema nicht in wörtlichen Aussagen oder Bildern
des Gedichts dargestellt, das kann es auch gar nicht. Man kann ihm keinen
„Namen” geben, der einfacher ist als das Gedicht in seiner Gesamtheit: Zu sagen,
„das Thema dieses Gedichts ist Unsterblichkeit” oder „der Schmerz des Verlusts”
oder „die Freude der Entdeckung” ist so bedeutungslos und unlustig und
wirkungslos wie die Pointe eines Witzes ohne die Einleitung zu erzählen. Das
Thema der Poesie ist die unaussprechliche Idee, die zwischen den Worten
liegt und nur als Gedanke entsteht, der in den mentalen Prozessen eines anderen
Geistes in der Stille am Ende des Gedichts entsteht.
Die Schönheit eines klassischen Gedichts liegt in der Erkenntnis, daß der
Dichter in dir einen präzisen Gedanken hervorrufen konnte, seinen
präzisen Gedanken, den du als deinen eigenen Gedanken entwickelst. So werden wir
mit großer Kunst unmittelbar mit der Universalität des menschlichen Geistes und
der Kreativität als universellem Phänomen konfrontiert, was mit einem Gefühl der
Liebe, der Agape, einhergeht: Man erkennt sich selbst im anderen und das
Wahre und Gute in beiden.
Ideen, die es wert sind, in großer Poesie ausgedrückt zu werden, sind von
Natur aus edler als die simplen Gedanken und Emotionen, die in unserem Alltag
vorherrschen. Sie erheben uns für eine gewisse Zeit zum Ideal der
Menschheit.
Was über Poesie gesagt werden kann, gilt hundertfach für große Musik.
Klassische Musik nutzt die natürliche Schönheit der entwickelten Singstimme und
ihrer Nachahmung in Musikinstrumenten sowie das Medium des wohltemperierten
Systems, um durch den Einsatz von Polyphonie, Kontrapunkt, Ironie und der
Freiheit von der linearen Erfahrung der Zeit eine einzige einheitliche Idee,
einen universellen Gedanken zu entfalten, der jeden Moment der Aufführung
bestimmt, über einige Minuten und manchmal viele Minuten, manchmal sogar über
mehr als eine Stunde hinweg.
Der große Dirigent Wilhelm Furtwängler spricht dies in einer Schrift über
J.S. Bach an:
„[In Bachs Musik] finden wir die Konzentration auf den Moment in der Zeit
vereint mit der ungehörten Weite; die unmittelbare Verwirklichung des Teils
gepaart mit der wahrhaft souveränen Gesamtvision des Ganzen. Mit ihrem stets
bewußten Gefühl für das Nahe und das Ferne zugleich; mit ihrer ungezwungenen
Erfüllung des Hier und Jetzt, verbunden mit einem allgegenwärtigen unterbewußten
Gefühl für die Struktur, den Fluß des Ganzen; ist Bachs Musik ein größeres
Beispiel für biologische Zielsicherheit und natürliche Kraft, als wir es sonst
irgendwo in der Musik finden können... Bach, der Schöpfer dieser Chöre und
Fugen, scheint kein Mensch zu sein, sondern der Geist, der die Welt regiert, der
eigentliche Architekt des Universums…“
In der klassischen Musik sind wir somit eingeladen, an einem destillierten
und konzentrierten Ausdruck universeller Kreativität teilzuhaben. Auf diese
Weise subsumiert die große klassische Kunst wissenschaftliche Entdeckungen und
bietet die stärkste Grundlage für einen Dialog der Zivilisationen, der uns zur
Verfügung steht.
Lyndon LaRouche schrieb über diese Kraft der klassischen Kultur in seinem
Artikel „Economics as History: The Science of Physical Economy” (Wirtschaft als
Geschichte: Die Wissenschaft der physikalischen Ökonomie) aus dem Jahr 2009:
„Die maßgebliche Rolle der menschlichen Kreativität, die
naturwissenschaftliche Kreativität eingeschlossen, liegt in jeder Hinsicht nicht
in der Mathematik, sondern in der dynamischen Rolle der schöpferischen
künstlerischen Vorstellungskraft von klassischer Musik, Poesie, Drama und
vergleichbaren Ausdrucksformen der klassischen bildenden Kunst... Eben dieses
subjektive Element in der menschlichen Natur ist der Ort wahrer Kreativität, in
der Naturwissenschaft und anderswo, und damit der Ort, der den Menschen dem Tier
grundsätzlich überlegen macht. Das ist das ultimative Geheimnis des Erfolgs in
der Wirtschaft; es ist die unverzichtbare Funktion der klassischen
künstlerischen Kultur.“
Kultur als Kompaß
Das ist der Maßstab, auf den wir heute für unsere Kultur bestehen müssen –
jeder von uns, egal in welchem Land wir leben; egal, welche Sprache wir
sprechen. Wir müssen zurückblicken, zurückgreifen auf das Beste und Schönste,
was unsere jeweiligen Kulturen hervorgebracht haben, und es zum Mittelpunkt
unseres Alltags, des Lebens unserer Kinder und unseres sozialen Lebens machen.
Wie Gottfried Wilhelm Leibniz schrieb: Jede Monade – jede einfache Substanz,
jede Seele – „ist ein lebendiger Spiegel oder ein mit innerer Wirkung
ausgestatteter Spiegel, der das gesamte Universum aus seiner eigenen Perspektive
darstellt und so geordnet ist wie das Universum selbst“.
Auch Kulturen können wir auf diese Weise betrachten. Denn die klassische
Kunst – egal ob chinesisch, amerikanisch, deutsch, persisch oder aus welchem
Land auch immer – verkörpert das Menschliche in uns. Sie ist universell, und
doch spiegeln verschiedene Kulturen diese universellen Ideen auf einzigartige
Weise wider. Das verleiht der menschlichen Kultur einen unglaublichen Reichtum,
der unsere Einsicht in universelle Ideen und die Rolle der Kreativität in
unserem sich entwickelnden Universum erheblich steigert.
Stellen Sie sich ein Kind vor, das in einer wunderschönen klassischen Kultur
aufwächst, die im Dialog mit anderen wunderschönen klassischen Kulturen aus
vielen verschiedenen Ländern der Welt steht. Welch ein Reichtum an Gedanken,
Emotionen und Geist steht diesem jungen Menschen zur Verfügung!
Ich bin fest davon überzeugt, daß die Menschheit heute an der Schwelle zu
einer völlig neuen Epoche ihrer Entwicklung steht – einer Epoche, in der wir
Kinderkrankheiten wie Kolonialismus, Krieg, Unterentwicklung und Armut für immer
hinter uns lassen. Diese schrecklichen Dinge wird es unter den Menschen nicht
mehr geben, sie werden für immer in eine vergangene Ära unserer Entwicklung
verbannt sein – etwas, das Kinder nur noch als Teil der Geschichte lernen
werden. Das ist kein Wunschdenken, sondern ein gesetzmäßiges Element der
natürlichen Entwicklung unserer Erde und unseres Universums, weil wir die
schöpferische Gattung sind – die einzige uns bekannte Gattung, die in der Lage
ist, die Selbstentwicklung des Universums als willentliche Handlung
voranzutreiben.
Laßt uns also eine neue klassische menschliche Kultur schaffen, eine neue,
weltweite Goldene Renaissance, damit diese neue Ära erblühen kann.
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