Das Internationale Recht und die sogenannte
„wertebasierte Ordnung“ der USA
Von Wolfgang Effenberger
Wolfgang Effenberger ist Bundeswehroffizier a.D. und
Autor. In der internationalen Konferenz „Der Mensch ist nicht des Menschen
Wolf!“ am 12.-13. Juli 2025 in Berlin sagte er folgendes.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Internationales Recht und Völkerrecht werden im allgemeinen Sprachgebrauch trotz ihrer Unterschiede häufig synonym verwendet.
Das dem Völkerrecht übergeordnete Internationale Recht1 beinhaltet zentrale Prinzipien wie
- Souveränität und Gleichberechtigung der Staaten,
- Gewaltverbot sowie
- Menschenrechte und humanitäres Kriegsrecht.2
Es umfaßt Internationale Verträge wie z.B. die UN-Charta oder die Genfer Konventionen. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Völkerrechts sind im Statut des Internationalen Gerichtshofs (IGH) genannt.3
Zur Durchsetzung werden meist Repressalien oder multilaterale
Maßnahmen eingesetzt wie Sanktionen, Ausschluß aus internationalen
Organisationen oder – im Extremfall – militärische Maßnahmen, häufig bemäntelt
mit dem Ruf nach kollektiver Sicherheit.4
Da die Einhaltung des Völkerrechts auf die freiwillige und internationale
Kooperation angewiesen ist, wurden kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs die
Vereinten Nationen gegründet. Vertreter von 51 Staaten trafen sich im
Opernhaus von San Francisco, um die Gründung der UN auf der Grundlage der
„Charta der Vereinten Nationen“ vorzubereiten.
Die Charta verpflichtete die beteiligten Nationen bei offizieller
Gleichberechtigung zu einer friedlichen Regelung aller internationalen
Streitfragen. Auf jede Gewaltmaßnahme gegen die Unversehrtheit und
Unabhängigkeit anderer Staaten sollte künftig verzichtet werden.5
1795, 150 Jahre zuvor, hatte der damals 71-jährige Philosoph Immanuel Kant
die Schrift Zum Ewigen Frieden veröffentlicht.
Darin formulierte er als Voraussetzung für ein friedliches Miteinander,
- daß kein ungerechter Frieden mit dem Keim zu künftigen Konflikten
geschlossen werden darf, wie z.B. nach dem Ersten Weltkrieg der Frieden von
Versailles,
- daß Staatsgebiete nicht getauscht oder erworben werden
können,
- daß stehende Heere abgebaut werden müssen und daß
- „keine Staatsschulden in Beziehung auf äußere Staatshändel
gemacht werden“ sollen – der Erste Weltkrieg z.B. konnte nur mit massiver
Unterstützung der Entente durch Kredite der Wall Street über Jahre geführt
werden, und da die Schuldenpapiere bei einer Niederlage der Entente wertlos
geworden wären, mußten die USA schließlich 1917 in den Krieg eintreten.
Die Schulden der Entente führten letztlich zur Festschreibung von
Deutschlands Alleinschuld im Versailler Vertrag, denn Einer mußte die Zeche
schließlich zahlen!6
Eine weitere Kernaussage Kants lautet:
- „Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines anderen
Staates gewalttätig einmischen.“ Dieses Verbot gewaltsamer Interventionen
findet sich in der UN-Charta wieder.
- Auch darf das „wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden nicht
unmöglich“ gemacht werden.7
Die beste Staatsform, um Willkürakte zu vermeiden, ist laut Kant eine
bürgerliche, möglichst „republikanische“ Verfassung, und auf internationaler
Ebene ein Föderalismus freier Staaten, da jede Art von Weltstaat in eine
Despotie mündet.8
Das Weltbürgerrecht sollte sich auf ein Besuchsrecht beschränken und
beinhaltet kein Bleibe- oder gar Eroberungsrecht – Kant verweist hier auf die
unfaire Kolonialpolitik bei der Besiedlung Amerikas und Afrikas.9
Kants Prinzipien haben Eingang in die UN-Charta gefunden. Leider werden sie
aber in der Realität weitgehend ignoriert, vor allem durch die westliche
„Schutzmacht“ USA.
Beispiele, in denen die USA das Völkerrecht mißachten, sind zahlreich
dokumentiert. Zu den wichtigsten zählen:
- Krieg gegen Jugoslawien 1999: erstmals ohne UN-Mandat
bombardierten die USA 78 Tage lang vor allem die Zivilbevölkerung und die
Infrastruktur, unter Einsatz der geächteten Uran-Munition. Seither werden alle
US-Kriege ohne UN-Mandat geführt.
- Irak-Invasion 2003 aufgrund von Lügen über
Massenvernichtungswaffen.
- Anerkennung der israelischen Souveränität über besetzte Gebiete
unter Präsident Trump.
- In Syrien operieren US-Truppen seit Jahren ohne völkerrechtliche
Grundlage.
- Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren und Einsatz von Folter, etwa
in Guantanamo Bay oder irakischen Gefängnissen.10
- Ablehnung und Umgehung internationaler Gerichtsbarkeit: Die USA
haben sich mit nationalen Gesetzen gegen eine Strafverfolgung ihrer Staatsbürger
abgesichert. Besonders bekannt ist das sogenannte „Den-Haag-Invasionsgesetz“.
- Bindende Beschlüsse des UN-Sicherheitsrats, etwa zur Waffenruhe
in Palästina, werden von den USA ignoriert oder blockiert.
- Willkürliche Inhaftierungen und außergerichtliche Hinrichtungen.
Die USA rechtfertigen ihre Handlungen trotz völkerrechtlicher Kritik
in der Regel mit dem Verweis auf ihre eigenen nationalen Interessen und das
Recht auf Selbstverteidigung. Oftmals mit vagen Formulierungen, die den Anschein
völkerrechtlicher Legitimation erwecken sollen. Die Legitimität des eigenen
Handelns wird dabei meist nicht mit konkreten völkerrechtlichen Normen, sondern
mit politischen Interessen begründet.
Völkerrechtliche Argumente werden entweder nur formal bemüht oder ganz
ignoriert.11 Unilaterale Maßnahmen wie Sanktionen oder militärische
Aktionen werden mit dem Kampf gegen Terrorismus, der Verhinderung der
Verbreitung von Massenvernichtungswaffen oder dem Schutz der Menschenrechte
begründet. Diese Argumente dienen dazu, das eigene Vorgehen als moralisch und
politisch notwendig darzustellen, auch wenn sie völkerrechtlich nicht haltbar
sind.
Der US-Exzeptionalismus liefert die ideologische Grundlage dafür, daß
die USA sich nicht durch das Völkerrecht oder die UN-Charta binden lassen,
sondern eigene, „wertebasierte“ Regeln aufstellen und durchsetzen –
notfalls auch unilateral und gegen den Widerstand der internationalen
Gemeinschaft.
Die USA sehen sich historisch und ideologisch als „Ausnahmenation“ mit einer
besonderen Mission. Daraus leiten sie das Selbstverständnis ab, an
völkerrechtliche Vereinbarungen nur gebunden zu sein, solange dies den eigenen
Interessen dient.
Die USA betrachten ihre moralischen und politischen Maßstäbe, an die sie sich
selbst nicht halten, als universell und nicht verhandelbar.
Hinter dem Mantra „Regelbasierte Ordnung“ versteckt sich der
Hegemonie-Anspruch der USA, den Friedensnobelpreisträger Barack Obama am 28. Mai
2014 in West Point klar aussprach: „Ich glaube an den amerikanischen
Exzeptionalismus mit jeder Faser meines Seins. Was uns jedoch exzeptionell
macht, ist nicht unsere Fähigkeit, uns über internationale Normen und den
Rechtsstaat hinwegzusetzen, es ist unsere Bereitschaft, sie durch unsere
Handlungen zu bekräftigen“.12 Als besonders schwerwiegend sind Obamas
Anordnungen zum gezielten Töten von Menschen mittels Drohnen zu bewerten. Der
US-Präsident als oberster Richter und Henker der Nation.
Nur wenige Tage nach dem Terroranschlag auf die Zwillingstürme in Manhattan
setzte das Pentagon sieben Länder auf eine Liste, die in den folgenden fünf
Jahren von den USA angegriffen und deren Regierungen zerstört werden sollten:
der Irak, Libyen, Syrien, der Iran, der Libanon, Somalia und der Sudan. Nur 27
Tage nach dem Anschlag wurde ohne jeglichen Nachweis der Beteiligung Afghanistan
mit Krieg überzogen, ein Krieg, der über 20 Jahre dauerte und nur verbrannte
Erde hinterließ.
Insgesamt hat die US-Politik mit etwa 200 größeren zwischenstaatlichen
Kriegen und Bürgerkriegen, Befreiungskriegen, Revolutionen und
Konterrevolutionen, Staatsstreichen, Guerilla- und Konterguerillaaktionen seit
1945 mehr als 20 Millionen Menschen das Leben gekostet13 - von den
bis heute andauernden Flüchtlingsströmen gar nicht zu reden.
Im US-Strategiepapier vom Oktober 2022 nannte US-Präsident Biden als
Hauptziele:
- Abbau der Bedrohung durch China und Rußland;
- Ausschluß jedes Verzichts auf einen nuklearen Erstschlag sowie den
- Aufbau eines dauerhaften Vorteils.
In den Handreichungen des wissenschaftlichen Dienstes des US-Kongresses vom
November 2022 ist zu lesen:
„Um regionale Hegemonie in Eurasien zu verhindern, sind anscheinend viele
militärische Operationen der USA im 1. und 2. Weltkrieg und zahlreiche
militärische Kriegseinsätze und alltägliche Operationen der USA seit dem 2.
Weltkrieg zu einem nicht geringen Teil zur Unterstützung dieses Ziels
durchgeführt worden.“
Wenn wir heute auf dem Globus die aktuellen Kriege und Konflikte wahrnehmen,
sind die Verwerfungslinien rund um den 1. Weltkrieg deutlich zu erkennen. Ein
Krieg, der laut dem deutschen Philosophen Oswald Spengler bereits 1911 begonnen
hat: Mit der Besetzung der marokkanischen Städte Fes und Rabat durch Frankreich,
dem Krieg Italiens gegen das Osmanische Reich in Tripolitanien, den britischen
Aktivitäten in Ägypten und Persien sowie der Besetzung Koreas durch Japan; 1912
und 1913 folgten dann die beiden Balkankriege. Fast alle heutigen Krisenherde
befinden sich auf diesen Verwerfungslinien.
Im Zentrum Europas stand damals die boomende Handelsnation Deutschland mit
großen Exportüberschüssen – ein Dorn im Auge des im Niedergang befindlichen
Kolonialimperiums Großbritannien. Die aufstrebende Macht ist heute China, das im
Visier der absteigenden Großmacht USA steht. Die Parallelen sind unübersehbar.
Im September 2014 wurde vom Pentagon das Dokument „Win in a Complex World
2020-2040“ verabschiedet, das die amerikanischen Streitkräfte auf einen Krieg
gegen Russland und China vorbereitet.
Insgesamt muß man leider feststellen:
- Das Völkerrecht wird zunehmend mißachtet,
- die Menschen werden getäuscht und belogen,
- Konflikte eher geschürt als beigelegt und
- Massenvernichtungspotential einsatzbereit gehalten anstatt abgebaut.
Und das Ganze im Namen der Humanität! Vertrauensbildende Maßnahmen finden
kaum noch statt.
Gerade deshalb sollten wir uns aber an Kants Grundsätze erinnern.
Wir brauchen nach dem gescheiterten Völkerbund und der korrumpierten UN –
beide gezeugt im Geist des Krieges – eine im Geist des Friedens gebildete
Völkergemeinschaft, die nicht im Dienst unipolarer Machtinteressen steht.
Das System der UN ist unter falschen Vorzeichen installiert und mißbraucht
worden und somit irreparabel.14 Die UN muß durch eine zeitgemäße,
nicht US-dominierte Organisation ersetzt werden. Das ist keineswegs naiv,
sondern unerläßlich, wollen wir nicht im allgemeinen aggressiven Chaos
untergehen.
Kants Argumentation hat bis heute ihre Aktualität behalten.
Daher bleibt „Zum ewigen Frieden“ eine Grundschrift der
Weltfriedensbewegung.15
Eine unipolare Welt wird immer in Despotismus enden. Der Respekt der
Staaten untereinander läßt nur eine multipolare Weltordnung zu.
Anmerkungen
1. https://www.studysmarter.de/studium/rechtswissenschaften/internationales-recht/
2. https://www.jura.uni-bonn.de/fileadmin/Fachbereich_Rechtswissenschaft/Einrichtungen/Lehrstuehle/ Di_Fabio/Staatslehre_2018/6._Voelkerrecht.pdf
3. https://www.hrw.org/legacy/german/justice/usaundderistgh.html
4. https://content-select.com/portal/media/download_extract/5608facf-363c-466d-856a-42e6b0dd2d03
5. Charta der Vereinten Nationen (vom 26. Juni 1945), deutsche Übersetzung,
unter
http://www.documentarchiv.de/in/1945/un-charta.html
6. Weischedel, S. 198 f.
7. Immanuel Kant, Gesammelte Schriften. Hrsg.: Bd. 1–22 Preussische
Akademie der Wissenschaften, Bd. 23 Deutsche Akademie der Wissenschaften zu
Berlin, ab Bd. 24 Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin 1900ff., AA
VIII, 347
8. Weischedel, S. 225
9.Immanuel Kant (1795): Zum ewigen Frieden; in: Weischedel, Wilhelm
(1977), S. 214
10. https://www.ecchr.eu/thema/usa/
11. https://www.ecchr.eu/thema/usa/
12. https://obamawhitehouse.archives.gov/the-press-office/2014/05/28/remarks-president-united-states-
military-academy-commencement-ceremony
13. Woyke: Handwörterbuch der internationalen Politik, 2000, S. 241
f.
14. Darauf habe ich bereits im Mai 2013 in einem Vortrag über den
Reformvorschlag der G-4-Staaten von 2004 hingewiesen:
https://zeitgeist-online.de/component/content/article/9-allgemeines/sonstiges/967
15. Beutin: Kants Projekt zum ewigen Frieden, 2004, S. 1
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