Eine neue philosophische Grundlage
für die internationalen Beziehungen
Von Helga Zepp-LaRouche
Ich kann gleich da anschließen, wo Tobias [Faku] aufgehört hat, nämlich der
Notwendigkeit, die Geopolitik zu überwinden. Geopolitik ist ja die Idee, es gäbe
ein berechtigtes Interesse von einem Staat oder einer Gruppe von Staaten, ihre
Interessen gegen andere Staaten oder Gruppen von Staaten durchzusetzen, egal wie
– zur Not auch mit militärischen Mitteln. Und das halte ich für eine
Kinderkrankheit der Menschheit, die wir irgendwann einmal überwinden müssen,
wenn wir uns nicht selbst durch einen globalen Atomkrieg auslöschen wollen.
Das ist der Grund, warum wir alle diese Entwicklungsprojekte mit der
Diskussion über die Notwendigkeit einer neuen internationalen Sicherheits- und
Entwicklungsarchitektur verbinden, die die Interessen von jedem einzelnen Staat
auf dieser Welt berücksichtigen muß, wenn sie halten soll.
Nun gibt es jetzt ja in der Situation mit der Ukraine vielleicht
Hoffnungsstrahlen durch Trumps Initiative, aber der Ukraine-Konflikt ist einer,
der, wenn er eskaliert, zu einem globalen Atomkrieg führen kann. Das gleiche
gilt für den Nahen Osten. Wenn es nicht gelingt, den jetzigen Konflikt zwischen
Israel und Palästina zu überwinden, besteht die Gefahr, daß es zu einem großen
Krieg in der ganzen Region kommt. Und wenn der auch den Iran einschließen würde
– also etwa, daß es zum Einsatz von Atomwaffen kommt, um die iranischen
Nuklearanlagen auszuschalten –, dann besteht auch da die Gefahr, daß es zu einem
globalen Krieg kommt.
Und dann ist da natürlich die Idee, die von Ursula von der Leyen schon vor
etwa zwei Jahren zusammen mit dem Generalsekretär der NATO, Stoltenberg,
ausgetüftelt worden ist, nämlich, die EU und die NATO miteinander zu verbinden
und die NATO gleichzeitig zur „Globalen NATO“ auszuweiten. Das ist keineswegs
weg vom Tisch, obwohl natürlich das Schicksal der NATO jetzt mit dem Einzug von
Trump im Weißen Haus eine etwas andere Dynamik annehmen könnte. Auf jeden Fall
besteht die Gefahr, wenn es im Indo-Pazifik zu einem Konflikt kommt zwischen
einer Globalen NATO – oder auch nur den USA – und China, daß auch das zu einem
Atomkrieg führen könnte.
Deshalb sind wir vom Schiller-Institut – aber nicht nur das
Schiller-Institut, sondern auch wichtige andere Kräfte in der Welt – der
Meinung, daß wir eine neue Sicherheitsarchitektur brauchen, anknüpfend an den
Westfälischen Frieden, der 1648 die Basis gelegt hat für eine europäische
Friedensordnung.
Ein Umbruch der Weltordnung
Nun ist ja im Augenblick eine tektonische Veränderung in der Weltlage zu
beobachten. Denn gewissermaßen in Beantwortung der Politik des globalen Westens,
des kollektiven Westens, hat sich der Globale Süden neu gruppiert. Diese Länder
wollen 500 Jahre Kolonialismus überwinden. Sie sind nicht länger bereit, nur
Rohstofflieferanten zu sein, sondern sie wollen diese Rohstoffe selber nutzen,
um die Industrieproduktion in ihren Ländern zu entwickeln und damit Nutznießer
ihrer eigenen Ressourcen zu werden.
Sie haben natürlich durch den Aufstieg Chinas einen wichtigen
wirtschaftlichen Bündnispartner, und in den letzten elf bis zwölf Jahren der
sogenannten Seidenstraßen-Initiative hat sich ja die Welt enorm verwandelt. Es
finden phantastische Infrastrukturprojekte statt, Stephan [Ossenkopp] hat ja
schon den CPEC-Korridor erwähnt, aber es gibt ähnliche Projekte, in Indonesien
eine Schnellbahn zwischen Jakarta und Bandung, eine Schnellbahn zwischen Kunming
in China, Laos und Thailand. Es gibt viele Projekte in Afrika, wo China den
Ländern hilft, die Unterentwicklung durch Infrastruktur und andere Projekte zu
überwinden.
Das heißt, es ist eine völlig veränderte Lage. Es ist klar, daß die unipolare
Welt, die der Westen nach dem Ende des Kalten Krieges aufbauen wollte, schon
längst zerfallen ist. Wir haben bereits eine multipolare Welt, aber es gibt eben
noch keine Idee, wie die neue Ordnung aussehen kann – es gibt schon
Vorstellungen, aber noch keine klare Struktur, und darin liegt natürlich auch
eine enorme Gefahr.
Deshalb schlagen wir eine ganz andere Herangehensweise vor, nämlich, die
Prinzipien des Westfälischen Friedens zu nutzen. Das wichtigste Prinzip war:
Wenn man eine Friedensordnung will, dann muß man immer das Interesse des anderen
berücksichtigen, und zwar aller anderen. Das würde für die neue
Sicherheitsarchitektur bedeuten, daß man alle berücksichtigen muß, also auch
Rußland, China, Iran, Nordkorea, und natürlich umgekehrt auch die USA, Europa
sowieso, den Globalen Süden, der schon längst zur globalen Mehrheit geworden
ist.
China hat die drei Initiativen von Präsident Xi Jinping: die Globale
Sicherheitsinitiative, die Globale Entwicklungsinitiative und die Globale
Zivilisatorische Initiative. Das sind drei verschiedene Initiativen, die den
militärischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereich umschließen und die für
die ganze Welt gedacht sind.
Präsident Putin hat am 14. Juli letzten Jahres eine sehr wichtige Rede
gehalten, wo er gesagt hat, er schlägt eine neue eurasische
Sicherheitsarchitektur vor, die auch offen sein soll für NATO-Länder. Das wurde
leider vom Westen nie in irgendeiner Form beantwortet, aber das zeigt, daß es
eine Bereitschaft gibt.
Und wir haben vorgeschlagen, daß man tatsächlich so eine neue internationale
Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur einberuft. Sie soll auf der UN-Charta
basieren, die nach wie vor das wichtigste Dokument im internationalen
Völkerrecht ist, aber auch auf den Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz,
die [1955] von Zhou Enlai im Rahmen der Bandung-Konferenz auf die Tagesordnung
gebracht wurden, was von Präsident Sukarno und Präsident Nehru unterstützt
wurde. Das sind heute die Prinzipien, auf deren Basis auch die BRICS
kooperieren. Die BRICS, das sind ursprünglich Brasilien, Rußland, Indien, China
und Südafrika, inzwischen sind weitere Staaten dazugekommen, es sind jetzt 22
Mitglieder und Partnerländer, und es gibt bestimmt noch drei, vier Dutzend
weitere Länder, die sich um die Mitgliedschaft bemühen.
Diese Länder sind dabei, eine neue Wirtschaftsordnung zu bauen, die auf der
Win-Win-Kooperation basiert. Das ist der Versuch, das neoliberale
Wirtschaftssystem zu ergänzen. Sie haben also keineswegs gesagt, daß sie das
bekämpfen wollen, sondern sie wollen es ergänzen durch eine Wirtschaftsstruktur,
die auf dem gegenseitigen Interesse aller Mitgliedstaaten beruht. Also eine
Win-Win-Kooperation, in der keiner die unilaterale Dominanz über die anderen
ausübt, sondern die Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz: die absolute
Anerkennung der Souveränität des anderen Staates, die Nichteinmischung in die
inneren Angelegenheiten des anderen Staates, der Respekt für das andere soziale
System, das aus der Kultur des jeweiligen anderen Landes kommt, und Kooperation
im gegenseitigen Wohlwollen.
Dieses System ist offen, es wäre also auch offen für die USA, es wäre offen
für die europäischen Staaten, wenn sie nur gewissermaßen von ihrem hohen Roß
herunterkommen und sagen würden: „Okay, wir kooperieren.“
Flüchtlinge aussperren ist keine Lösung
Nun ist ja die sogenannte Migrationskrise sowohl in den USA wie in Europa ein
Riesenthema. Trump will eine Mauer zwischen Mexiko und Amerika aufbauen. Die EU
zerfällt im Augenblick in Spannungen zwischen den Ländern, die jegliche Aufnahme
von Flüchtlingen ablehnen, und denen, die da mehr liberal sind. Aber auch in
Deutschland ist der liberale Flügel jetzt wirklich auf dem Rückzug. Merz, der
Kanzlerkandidat der CDU, ist für strikte Bedingungen, daß Flüchtlinge nicht mehr
einfach nach Deutschland kommen können, und es bildet sich ein Konsensus
heraus.
Aber weder Trumps Mauer noch die gegenwärtigen Themen in der EU – Abschirmen,
Außengrenzen sichern, Frontex ausbauen – sind eine Lösung. Frontex ist die
paramilitärische Organisation, die die Flüchtlinge mit Schnellbooten im
Mittelmeer zurückdrängen und dann Flüchtlingslager ums Mittelmeer aufbauen soll,
die Papst Franziskus – meiner Meinung nach zurecht – als Konzentrationslager
bezeichnet hat, wo Flüchtlinge hinter Stacheldraht, NATO-Draht, eingesperrt sind
und zum Teil jahrelang nicht mehr herauskommen.
All das ist keine Lösung für das Problem. Wir haben vom Schiller-Institut
deshalb einen anderen Vorschlag gemacht, daß nämlich die Staaten der BRICS und
die Staaten des kollektiven Westens, Europa und selbst die USA, zusammenarbeiten
sollten, um die Fluchtursachen zu überwinden.
Wenn man davon ausgeht, daß alleine in Afrika bis zum Jahr 2050 2,5
Milliarden Menschen leben werden, davon über eine Milliarde neue junge Leute,
dann ist klar: Um das Flüchtlingsproblem bei den Wurzeln zu packen, müssen wir
im Globalen Süden – Lateinamerika, Asien und Afrika – bis zur Mitte des
Jahrhunderts zwei bis drei Milliarden neue produktive Arbeitsplätze schaffen.
Wenn wir wollen, daß die Menschen dort in ihren Heimatländern bleiben und diese
Länder mit aufbauen.
Und das geht eben nur mit solchen Entwicklungsprojekten wie dem Ibn-Sina-Plan
für Afghanistan und dem Oasenplan. Nicht nur für Israel und Palästina, sondern
für die gesamte Region von Indien bis zum Mittelmeer, vom Nordkaukasus bis zum
Golf. In Afrika muß dringend eine Stromversorgung geschaffen werden, denn
alleine dort haben 600 Millionen Menschen noch keinen Zugang zu
Elektrizität.
Wir haben auch für Afrika einen Plan skizziert, schon seit 1978. Da haben wir
den Plan zum ersten Mal veröffentlicht, wie man durch Investitionen in
Infrastruktur – Häfen, Eisenbahnen, Straßen, Wasserwege, Kommunikation,
Energieproduktion und -verteilung – die Voraussetzungen schaffen könnte für die
Entwicklung von Industrie und Landwirtschaft, und damit diesen Ländern helfen
kann, die Relikte der Kolonialzeit zu überwinden, wofür wir auch eine
Verantwortung haben.
Denn Europa hat einen großen Fehler gemacht: Wir haben nicht geholfen, die
Länder des Globalen Südens zu entwickeln. Und jetzt, nachdem China das macht,
nachdem China die Stärke erreicht hat, das zu können, ist das Geschrei groß und
man sagt: „Oh, was China macht, was Rußland macht, in Afrika!“ Aber die Europäer
haben eben 70, 80 Jahre gepennt und haben das eben nicht gemacht, und deshalb
haben sie keinen einzigen Grund, sich jetzt über China in Afrika zu
beschweren.
Wir müssen diesen Sprung machen und zu einer Kooperation von BRICS-Staaten
und dem kollektiven Westen kommen. Das ist die Voraussetzung für die Erhaltung
des Weltfriedens, und das ist auch die Voraussetzung für das Erreichen eines
neuen Paradigmas, wo wir nicht mehr ein Nullsummenspiel haben – wo immer die
Idee ist, wenn einer gewinnt, muß der andere verlieren –, sondern eine
vollkommen neue Konzeption von Außenpolitik entwickeln.
Das geht zurück auf die Ideen von Nikolaus von Kues. Das war ein Denker im
15. Jahrhundert, der die Idee hatte, daß ein Frieden im Makrokosmos nur
existieren kann, wenn sich alle Mikrokosmen entwickeln und die Entwicklung des
jeweils anderen zu ihrem eigenen Interesse erklären. Das ist dieselbe Idee, die
zwei Jahrhunderte später von Leibniz diskutiert wurde, der sagte, die
entwickeltsten Teile der Welt – das waren damals China und Europa – müßten
zusammenarbeiten, um die Region dazwischen hochzubringen und auch den Süden,
d.h. Afrika und Lateinamerika, zu entwickeln.
Das ist heute aktueller als je zuvor, und es ist absolut möglich, weil die
BRICS-Staaten das bereits machen.
Eine neue philosophische Grundlage
Es bedeutet allerdings, daß wir auch in der philosophischen Begründung
unserer Politik ein anderes Paradigma entwickeln müssen.
In der Geschichte kann man ganz klar nachweisen, daß es immer den Gegensatz
gegeben hat zwischen dem prometheischen Konzept des Menschen und des Staates,
und dem oligarchischen Konzept. Die prometheische Idee war, daß alle Menschen
potentiell ein enormes kreatives Potential haben, und es die Aufgabe des Staates
ist, den Menschen zu helfen, diese kreativen Fähigkeiten zu entwickeln, während
das oligarchische System immer die Vorstellung hatte, daß die Verhältnisse so
geordnet werden müssen, daß nur eine kleine Oberschicht Privilegien hat und die
Mehrzahl der Bevölkerung möglichst rückständig gehalten wird.
In dem Sinne ist das prometheische Modell verpflichtet, das Gemeinwohl zu
fördern, und der Staat insbesondere hat die Pflicht, durch die Förderung von
wissenschaftlichem und technologischem Fortschritt die Produktivkräfte der
Gesellschaft zu stärken und damit die Lebensbedingungen für die Bürger zu
verbessern.
Das ist alles möglich, denn wir sind Menschen und keine Tiere. Und wir können
deshalb unsere besten kulturellen Beiträge, die jede Nation und jede Kultur
hervorgebracht hat, als Basis eines Dialoges betrachten, in dem wir die besten
Tendenzen des jeweils anderen in der Kultur unterstützen und daraus einen Dialog
machen, aus dem dann mit absoluter Sicherheit eine neue Renaissance für die
Menschheit wird.
Ich denke, wir sind heute in einem so dramatischen Umbruch, daß es wirklich
darauf ankommt, daß wir ganz viele Mitstreiter gewinnen, die sich für diese
Ideen einsetzen. Denn während man in ruhigen Zeiten oft jahrzehntelang keinen
Einfluß nehmen kann auf die Gestaltung der Geschichte – wenn man sich in so
einer dramatischen Veränderung befindet, wie wir gerade jetzt, dann hängt
wirklich sehr, sehr viel von der Zivilcourage und dem Mut von einzelnen ab, sich
für diese Ideen einzusetzen, und dann kann man die Menschheit einen qualitativen
Schritt voranbringen. Und dazu sind wir entschlossen.
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