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Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Klavierspielen und Leben

Von Martin Kaptein

Den folgenden Vortrag hielt der Pianist und Musikpädagoge Martin Kaptein auf der Berliner Konferenz des Schiller-Instituts am 12. und 13. Juli, im vierten Abschnitt über „Die Schönheit kultureller Vielfalt und die Rolle der Jugend bei der Gestaltung der nächsten 50 Jahre der Menschheit”. (Übersetzung aus dem Englischen, der Text wurde leicht bearbeitet, die Untertitel sind hinzugefügt.)

Meine Damen und Herren, ich möchte heute über den Sinn des Lebens sprechen – genauer gesagt möchte ich über das Klavierspiel sprechen und darüber, warum es so wichtig ist. Mit diesem Vortrag möchte ich Sie davon überzeugen, daß es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen der Suche nach dem Sinn des Lebens und dem Klavierspiel gibt.

Ich sollte mich vorstellen: Ich bin Pianist und Klavierlehrer. Derzeit habe ich fast 50 Schüler. Einmal fragte mich einer meiner Schüler: „Warum muß ich Klavier spielen? Warum muß ich das tun?“ Ich dachte darüber nach, und mein erster Impuls war, ihm zu sagen, er solle einfach üben und keine solchen Fragen stellen. Aber dann dachte ich, daß es eigentlich eine sehr gute Frage ist. Also sagte ich ihm: „Im Grunde wirst du ein besserer Mensch, wenn du das tust.“

Dann begann ich zu erklären: Du wirst ein besserer Mensch werden. Möchtest du diese Welt tatsächlich so gut wie möglich erkunden und verstehen? Er antwortete: „Ich glaube schon; ja, ich möchte diese Welt so gut wie möglich verstehen.“ Also begann ich zu erklären: Alles, was wir sehen, alles, was wir erleben, alles, was wir hören und berühren, geschieht in unserem Gehirn.

Er war ein ziemlich kluger Schüler, also begann er bereits zu verstehen, worauf ich mit meiner Argumentation hinauswollte. Und so sagte ich: Wenn du Klavier spielst, liest du Noten, interpretierst, hörst zu, fühlst. All diese Dinge geschehen in deinem Gehirn. Im Grunde genommen verbesserst du dich selbst. Da wir alles in unserem Gehirn wahrnehmen, bedeutet das, daß sich dir eine ganz neue Welt eröffnet – das ist die Kurzfassung. Ich sagte ihm, mach' einfach weiter, dann wirst du es selbst erleben.

Ich möchte die Gelegenheit heute nutzen, um speziell über das Klavier zu sprechen, über die vielen Vorteile des Klavierspielens. Ich beginne mit der Stimme, mit dem Singen – genauer gesagt, mit dem Singen auf dem Klavier.

gemeinfrei Abb. 1: Klaviermechanik

Das Klavier ist ein seltsames Instrument. Eigentlich ist es ein Schlag­instrument. Man schlägt mit Hämmern auf Saiten (Abbildung 1). Das Ziel ist aber, das Klavier so zu spielen, als würde man singen. Das ist tatsächlich sehr schwer zu erreichen, selbst auf professionellem Niveau; denn da man auf eine Saite schlägt, sind alle Töne vonein­ander getrennt, und man muß ein Gefühl der Zusammengehörigkeit erzeugen. Das ist sehr schwierig, weil wir das auf andere Weise erreichen müssen, nämlich durch sehr subtile Veränderungen der Lautstärke oder des Timings.

Im wesentlichen versuchen wir als Pianisten also, diese Idee des Singens umzusetzen, denn Singen ist für jeden etwas ganz Natür­liches. Die meisten Menschen können recht gut singen und auch phrasieren. Aber wenn man anfängt, Klavier zu spielen, wird das sehr schwierig. Die meisten schlagen die Tasten einfach an, als wäre es eine Computertastatur, aber das ist es nicht. Im Grunde übersetzen wir intuitives Wissen in bewußte Handlungen, schließlich muß man ja irgendwie Klavier spielen. Das muß also irgendwie übersetzt werden. Das ist einer der größten Vorteile des Klavierspielens.

Form und Zusammenhalt

Wie ich bereits sagte, schaffen wir ein Gefühl der Kohäsion. Und gerade jetzt [auf dieser Konferenz] schaffen wir auch ein Gefühl der Kohäsion. Wir halten Vorträge, wir haben diese kleinen Wissensbrocken; aber unsere Aufgabe ist es, all diese Brocken miteinander zu verbinden und eine kohärente Weltanschauung zu schaffen.

Vielleicht sagen jetzt einige: „Gut, ich bin überzeugt; ich möchte Klavier spielen lernen.“ Ich würde aber sagen: „Warten Sie mal einen Moment. Zum Klavierspielen gehört noch viel mehr.“ Ich habe gerade über die Melodie gesprochen, über das Gesangliche. Aber wenn Sie Klavier spielen, spielen Sie konkret mit beiden Händen. Meistens spielt die rechte Hand die Melodie, die linke Hand aber die Harmonie. Und Harmonie ist wie ein Paralleluniversum zur Melodie. Harmonie bewegt sich nach ihren ganz eigenen Regeln. Wenn man Klavier spielt, hat man dieses doppelte Bewußtsein. Man konzentriert sich gleichzeitig auf zwei sehr unterschiedliche Dinge, was intellektuell ziemlich schwierig ist.

Was ist Harmonie? Harmonie ist eine Reihe sehr komplizierter Regeln, die von allen großen Komponisten – Bach, Mozart, Beethoven, Haydn – befolgt wurden. Und das bewegt sich nicht immer im Einklang mit der Harmonie: Sie erzeugen Dissonanzen, die sich in konsonante Akkorde auflösen, oder Dissonanzen, die sich an anderer Stelle auflösen. Es ist wirklich wie ein Paralleluniversum.

gemeinfrei Abb. 2: Noten aus dem Bach-Choral Alle Menschen müssen sterben.

Abbildung 2 zeigt ein Fragment aus einem Bach-Choral mit dem Titel Alle Menschen müssen sterben. Sie sehen dort die Analyse – all diese kleinen römischen Ziffern –, die sehr kompliziert ist. Aber selbst Kinder haben da ein intuitives Verständnis: Eine bestimmte [unauf­gelöste] Harmonie klingt nicht richtig, sie will sich woanders hinbewegen. Im Grunde genommen übersetzen wir also einmal mehr diese Intuition der Harmonie in bewußtes Wissen. Als Klavierlehrer ist es meine Aufgabe, all das zu erklären.

Ein weiterer Aspekt ist die Form. Wenn man Klavier spielt, sind das oft längere Stücke. Manchmal dauern Stücke 15 Minuten, manchmal 20, manchmal sogar 30 Minuten ohne Unterbrechung. Und ein Stück kann nicht nur eine Ansammlung von Noten sein; nein, ein Stück muß einen Aufbau haben. Ein Stück hat eine Architektur, man bezeichnet das als Form. Abbildung 3 zeigt meiner Meinung nach eine der perfektesten Formen der Musik, die je erdacht wurde: die klassische Sonatenform, die Mozart und auch Beethoven ausgiebig verwendet haben.

gemeinfrei Abb. 3: Schema der Sonatenform

Wenn man spielt, muß man die gesamte Architektur des Stücks gleichzeitig im Kopf behalten. Man muß wissen, wo man steht – genau wie im Leben: Wir müssen wissen, in welcher Position wir uns befinden, und wir haben nicht den Vorteil, zu wissen, wann unser Leben zu Ende sein wird. Man muß wissen, wo man steht, und auf dieser Grundlage bestimmte Entscheidungen treffen. Das ist also wirklich eine Metapher für das Leben.

Eine letzte schöne Sache am Klavierspielen ist seine Körperlichkeit. Es gibt diese tiefen Töne und die hohen Töne [der Tastatur]. Wenn man Klavier spielt, ist es im Grunde wie ein ganz persönliches Orchester in Schwarz und Weiß. Manche Stücke kann man sogar als Orchesterstücke betrachten, in denen man verschiedene Instrumente imitiert. Im Grunde ist man also sein eigener Dirigent und fördert dieses Verantwortungsgefühl für das „Orchester”, in dem man spielt.

Das paßt sehr gut zu Schillers Idee: die Idee der Form und die Idee des Sinnes. Beim Klavier werden sie auf perfekte Weise kombiniert. Sie werden kombiniert und zum „spielen” synthetisiert. Wenn wir diese äußeren Formen und die Form der Melodie, die emotional ist, synthetisieren, dann sind wir lebendig.

Die Seele öffnen

Ich möchte ganz kurz auf diesen Unterrichtsprozeß eingehen. Ich betrachte das Klavier nicht nur als einen Ort zum Lernen, sondern auch als einen Ort der Konzentration, der Entdeckung und der Freiheit, an dem wir junge Menschen dazu ermutigen können, bewußte Entscheidungen zu treffen, um Möglichkeiten zu erkunden. Sie sollen die Möglichkeiten der Interpretation erkunden, denn wir wollen keine Kopien anderer Menschen schaffen, sondern wirklich freie Menschen. Am Klavier kann man das einüben.

© Martin Kaptein Abb. 4: Martin Kaptein mit Schülern

Eine meiner Schülerinnen hat mir eine sehr schöne Geschichte erzählt, die ich Ihnen gerne weitergeben möchte; sie ist ganz kurz. Sie sagte: „Wenn ich nach Hause komme, ist das eigentlich etwas Wunderbares. Ich habe dort ein Klavier. Es ist ein bißchen wie ein Haustier; es wartet auf mich. Und ich kann wirklich müde sein, aber das Haustier ist glücklich, genauso wie das Klavier, was eine sehr seltsame Sache ist.“ Es besteht nur aus Holz, Saiten und Metall. Doch wenn man müde ist und anfängt, Klavier zu spielen, findet plötzlich eine Verwandlung statt. Man fühlt sich zentrierter, ausgeglichener.

Ich denke, das Problem heutzutage ist, daß wir dieses Gefühl der Ausgeglichenheit brauchen. Denn um vollkommen freie Menschen zu schaffen, die fähig sind, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, müssen die Menschen ein Gefühl der inneren Harmonie und des inneren Gleichgewichts finden. Und ich denke, Musik ist ein sehr wichtiger und schöner Weg, das zu erreichen.

So kommen wir zurück zu unserer ursprünglichen Frage: „Warum muß ich Klavier spielen?“ Die Antwort lautet natürlich: „Du mußt nicht Klavier spielen, wenn du wirklich nicht willst.“ Niemand zwingt dich dazu. Aber wenn du es tust, wirst du wirklich ein freier Mensch. In diesem Sinne wird das Klavierspielen zu einer Art Probe für das Leben, zu einer Kombination aus Form und Sinn.

Noch ein letzter Satz zum Schluß: Die Verantwortung eines Lehrers ist natürlich sehr wichtig. Das sind auch die Lehrer aus der Geschichte. Ein Lehrer hat wichtigen Einfluß auf einen Schüler. Wir können eine menschliche Seele verschließen und Menschen Angst vor dem Klavierspielen machen. Aber wir können auch einen neuen Menschen öffnen, damit er seinen eigenen Weg erkunden und finden kann. Ich bin ein großer Fan des chinesischen Philosophen Lao Tzu [Laotse], der dieses Konzept des „Lehrens ohne zu lehren“ hatte. In gewisser Weise geht es darum, eine möglichst natürliche Art und Weise zu finden, einen Menschen zu unterrichten – diesen Menschen seinen eigenen Weg gehen zu lassen, im Gegensatz zu einem aufgezwungenen Weg.

Vielen Dank, daß Sie sich meinen kurzen Vortrag angehört haben. Ich hoffe, ich habe einige von Ihnen überzeugt, Klavierunterricht zu nehmen. Oder daß einige, die schon ein Instrument spielen – denn natürlich gilt das auch für andere Instrumente, ich mache da keinen Unterschied –, Musik als ein Werkzeug für ein besseres Leben betrachten und sich dieser Harmonie annähern. Vielen Dank.