„Die europäische Politik ist historisch sehr kurzsichtig“
Botschafter Jack Matlock spricht mit Helga Zepp-LaRouche
über die strategische Krise
– Teil 1 –
Die Gründerin des Schiller-Instituts, Helga Zepp-LaRouche,
sprach am 9. Mai 2025 in ihrem „Live-Dialog mit Helga Zepp-LaRouche“ eine
Stunde lang mit dem früheren US-Botschafter in der Sowjetunion, Jack Matlock,
über die aktuelle strategische Krise. Botschafter Matlock war Beamter des
Auswärtigen Dienstes der USA und diente während der turbulenten Jahre von 1987
bis 1991, die der friedlichen Auflösung der Sowjetunion vorausgingen, als
US-Botschafter in Moskau. Hier ist die Mitschrift ihres Gesprächs (Übersetzung
aus dem Englischen.) Den Mitschnitt des Gesprächs mit deutscher
Simultanübersetzung finden Sie im Youtube-Kanal des Schiller-Instituts.
Helga Zepp-LaRouche: Guten Tag, ich möchte unsere Zuhörer
begrüßen, und ganz besonders unseren heutigen Gast, Botschafter Jack Matlock,
der zu den herausragenden Augenzeugen gehört, die an einem entscheidenden
Wendepunkt der Geschichte, nämlich dem Ende des Kalten Krieges, in
entscheidenden Positionen waren. Sie waren damals Botschafter der Vereinigten
Staaten in Moskau und haben an vielen entscheidenden Gesprächen teilgenommen,
die die Grundlage für eine unglaubliche historische Chance boten, die aber
meiner Meinung nach – und ich denke, Sie teilen diese Meinung in gewisser Weise
– vertan wurde.
Aber bevor wir zu diesem für die heutigen Ereignisse so wichtigen Moment
kommen, würden wir zunächst gerne hören, was Sie von den Turbulenzen auf den
Finanzmärkten halten, die derzeit als Reaktion auf Präsident Trumps Maßnahmen
herrschen, der Zölle auf Importe aus allen Ländern der Welt verhängt hat. Da
scheint sich ein Chaos zu entwickeln, und ich glaube, daß nur sehr wenige
Menschen auf der Welt, die Regierungen eingeschlossen, eine Vorstellung haben,
wohin das führen wird. Glauben Sie, daß Präsident Trump einen klaren Plan
verfolgt? Hat er eine klare Vorstellung davon, wie er vorgehen muß, um das Ziel
zu erreichen, das er sich gesetzt hat?
Botschafter Jack Matlock: Vielen Dank für die Einladung zu
diesem Gespräch.
Nein, ich glaube, daß Präsident Trump sich in der Art und Weise, wie er die
Zölle einsetzt, völlig irrt. Ich denke, er geht von falschen Annahmen aus. Der
Berater, der ihn vielleicht dazu gedrängt hat, glaubt wohl, daß man so die
Produktion in den Vereinigten Staaten in großem Umfang wieder ankurbeln könnte.
Ich glaube nicht, daß das passieren wird. Statt dessen wird ein großer Teil des
Welthandels gestört, und das Ausmaß des Ganzen bringt nun einen Großteil der
Wirtschaft in Aufruhr. Der Wert unserer Aktien ist in den letzten vier oder fünf
Tagen gefallen, und heute hat die Börse erst gerade geöffnet und die Talfahrt
geht weiter. Ich glaube also nicht, daß es funktionieren wird, und die
Auswirkungen werden wahrscheinlich nicht nur die Länder zu spüren bekommen, an
die es gerichtet ist, sondern auch die Amerikaner und unsere Verbraucher. Ich
halte also diese Politik schlecht für alle.
Manche sagen, er will nur über niedrigere Zölle und mehr Handel verhandeln.
Nun, wir werden sehen, aber ich halte das Ausmaß dieser Maßnahmen für so
unvernünftig, daß es vielen Menschen schaden wird. Deshalb glaube ich, daß der
Widerstand in den USA wachsen wird. Für den Durchschnittsverbraucher wird es
vielleicht noch ein paar Monate dauern, bis er es spürt, aber zum Beispiel
werden in den Autofabriken schon jetzt Leute entlassen, wegen der Zölle auf
Teile und andere Dinge, die ins Land kommen sollen. Wir werden sehen, aber ich
würde sagen, bisher haben sich die Zölle sehr zerstörerisch ausgewirkt.
Zepp-LaRouche: Es scheint, daß das schon starke Auswirkungen
auf die Finanzmärkte hat. So fangen zum Beispiel viele Banken an, ihre
Derivatepositionen aufzulösen, und ich denke, angesichts der Tatsache, daß das
transatlantische Finanzsystem so überschuldet ist und einige Experten das
Derivaterisiko auf zwei Billiarden Dollar schätzen, könnte es zu einem großen
Finanzcrash kommen. Wenn das so weitergeht, könnten wir einen wirklich großen
Finanzcrash erleben.
Die Frage ist nun folgende: Nehmen wir an, Trump will die Globalisierung
rückgängig machen. Man könnte argumentieren, daß das berechtigt ist, denn die
Globalisierung, wie sie sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat, hat mehr
Reiche, mehr Millionäre und Milliardäre, aber viel, viel mehr Arme auf der Welt
geschaffen. Eine Korrektur dieses Systems ist also wünschenswert, könnte man
argumentieren. Aber meine größte Sorge ist, daß man nicht einfach die Menschen
auf der ganzen Welt tyrannisieren kann, indem man sie unter Druck setzt. Das ist
vielleicht der berühmte Trump-Stil, aber ich glaube, der richtige Weg wäre
gewesen, eine große internationale Konferenz einzuberufen, etwa eine neue
Bretton-Woods-Konferenz, um über die Prinzipien zu diskutieren, wie diese
Neuordnung aussehen soll. Die Details könnte man dann Expertengruppen
überlassen, die das Ganze in guter Zusammenarbeit ausarbeiten. Aber das scheint
Trump nicht zu wollen, oder?
Matlock: Nein, das ist definitiv nicht Trumps Stil. Und wie
gesagt, ich glaube, es wird nach hinten losgehen. Aber wir wissen einfach nicht,
wie schnell er gezwungen sein wird, sich zu ändern, und ob er gezwungen
sein wird, sich zu ändern! Da gibt es noch viele Unwägbarkeiten. Aber sein Stil
ist sicherlich, Dinge aufzurütteln und zu zeigen, daß er das Sagen hat. Er hat
eindeutig einen autoritären Führungsstil. Er hat die Wahl gewonnen, weil unsere
Politik in den Vereinigten Staaten in den letzten zehn oder mehr Jahren sehr
konfus war. Aber Tatsache ist, daß keine unserer Parteien einen Kandidaten
aufgestellt hat, der sich für Frieden einsetzt. Und ich glaube, Frieden ist
wichtig für uns und für die ganze Welt. Anstatt die Kriege an verschiedenen
Orten fortzusetzen, hätten wir versuchen sollen, sie einzudämmen.
Wir müssen abwarten, wie sich die verschiedenen Dinge entwickeln, aber was
die Wirtschaft angeht, sollten wir Amerikaner nicht vergessen, daß wir jetzt ein
Defizit von mehr als 36 Billionen Dollar haben. Wie lange kann der Dollar bei
einer so hohen Schuldenlast noch seinen Wert behalten? Und angesichts von Trumps
Plänen für Steuersenkungen und der Tatsache, daß die Inflation anhalten wird,
meine ich, daß die Schulden der USA weiter steigen könnten. Sie sind jetzt schon
viel zu hoch. Ich glaube, das wird nicht nur die USA, sondern die ganze Welt in
eine Art Rezession und Wirtschaftskrise stürzen.
Aufrüstung statt Diplomatie?
Zepp-LaRouche: Als Präsident Trump sein Amt antrat, waren viele
Menschen voller Hoffnung, daß er vor allem versuchen würde, die Beziehungen zu
Rußland zu normalisieren. Am Ende von Bidens Amtszeit waren wir einer Eskalation
gefährlich nahe gekommen, weil US-Langstreckenraketen auf russisches Territorium
abgefeuert wurden und so weiter. Wir saßen auf einem Vulkan. Anfangs sah es also
so aus, als ob Trump es mit dem Frieden mit Rußland ernst meinte. Das ist
natürlich nicht in 24 Stunden, vielleicht nicht einmal in Wochen zu schaffen,
aber es gab eine Chance.
Ich denke, diese Chance besteht immer noch, aber inzwischen haben viele
andere Dinge das Bild verkompliziert. Zum Beispiel hatte Trump versprochen,
nicht nur alle Kriege zu beenden, sondern auch keine neuen anzufangen. Aber er
hat die Bombardierung des Jemen angefangen und es gibt immer noch dunkle Wolken,
was mit dem Iran passieren wird.
Ich würde gerne Ihre Meinung dazu hören, und auch zu der Tatsache, daß die
Europäer – zumindest einige, nicht alle, aber besonders die Nordeuropäer – eine
sogenannte „Koalition der Willigen“ bilden wollen, um den Krieg in der Ukraine
fortzusetzen. Das ist unglaublich! In Deutschland soll VW Panzer bauen, um sie
gegen Rußland zu schicken, und das nur 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten
Weltkriegs! Wir hatten noch nie – zumindest nicht zu meinen Lebzeiten – eine so
komplizierte Welt mit so vielen Hoffnungen und Gefahren. Aber glauben Sie nicht,
daß Trump ermutigt werden sollte, den Friedensprozeß mit Rußland voranzutreiben?
Ich halte das für das wichtigste Element in dem Gesamtbild.
Matlock: Ja, ich denke, es ist sehr wichtig für Europa, für die
USA und ganz besonders für die Ukraine, daß dieser Krieg beendet wird und eine
Lösung gefunden wird, die eine gewisse Stabilität bringt.
Die zunehmende Aufrüstung in Westeuropa finde ich fast tragisch. Denn erstens
ist sie unnötig. Rußland bedroht die Länder nicht, die jetzt in der NATO sind.
Und das Problem ist, daß wir so gehandelt haben, als wäre die Ukraine mit einer
sehr unrepräsentativen Regierung ein NATO-Mitglied, was für Rußland seit
Jahrzehnten eine rote Linie ist. Trotzdem haben wir und unsere europäischen
Verbündeten Waffen in die Ukraine gebracht, und das hätten wir bestenfalls tun
können, wenn die Ukraine ein NATO-Mitglied wäre. Die russische Führung hat seit
mehr als 20 Jahren deutlich gemacht, daß es eine tiefrote Linie ist, westliche
Waffen in die Ukraine zu bringen, oder auch nach Weißrußland.
Das sollten wir eigentlich sehr einfach verstehen, denn unsere eigenen Länder
und speziell die Vereinigten Staaten würden keine Militärstützpunkte in
Nachbarländern wie Mexiko, Kanada oder der Karibik dulden, die von einer fremden
Macht bewaffnet werden.
Ich glaube, die Behauptung, der Krieg in der Ukraine sei „unprovoziert“
gewesen, ist schlicht eine falsche Darstellung der Tatsachen. Die Lösung kann
jetzt nicht darin bestehen, einfach die Grenzen zu übernehmen, die von Stalin
und Hitler festgelegt wurden. Wir sollten nicht vergessen, daß die Grenzen, die
die heutige Westukraine mit der Ukraine vereinen, eine Schöpfung von Stalin und
Hitler waren. Und warum wir wollen, daß Ukrainer sterben und ihr Land zerstört
wird, um das Erbe von Josef Stalin und Adolf Hitler zu verteidigen, ist mir ein
Rätsel. Ich verstehe es einfach nicht, und ich kann nicht verstehen, wie die
Vereinigten Staaten und unsere europäischen Verbündeten Opfer eines solchen
Wahns geworden sind, daß die Ukraine irgendwie ein Recht auf all diese Grenzen
hat, unabhängig davon, was sie tut, und in Hinsicht auf ihre sehr große
russischsprachige Minderheit. Denn im Laufe der Zeit wurden ja all diese
Menschen ihrer kulturellen Rechte beraubt.
Und seien wir ehrlich, ein Großteil der Gewalt dort geht auf das Konto von
Neonazis, die offen ihre Symbole zur Schau tragen und Denkmäler für einige der
schlimmsten Kriegsverbrecher des Zweiten Weltkriegs aufgestellt haben, die an
der Ermordung der jüdischen Bevölkerung im damaligen Ostpolen, der heutigen
Westukraine, beteiligt waren.
Es scheint also, daß die europäische Politik historisch sehr kurzsichtig ist,
daß sie die Vorgeschichte dieser Probleme vergißt und einen Tunnelblick hat.
Denn wenn man sich so wenig mit der Vergangenheit beschäftigt wie wir, vergißt
man einen Großteil der relevanten Fakten.
Das falsche Narrativ der NATO
Zepp-LaRouche: Es fällt mir schwer zu verstehen, wie man so
geschichtsvergessen sein kann – wie sehr man in Europa die Erinnerung an die
Geschichte vor 80 Jahren verloren hat. Sie haben gesagt, Rußland habe nicht die
Absicht, andere europäische Länder zu erobern. Das ist ja im Moment das große
Narrativ, um die Aufrüstung voranzutreiben. Rußland wäre gar nicht in der Lage,
den Rest Europas zu erobern, und ich glaube auch nicht, daß es die Absicht hat,
denn Rußland hat sich von Europa abgewandt und sich Asien, den BRICS zugewandt.
Ich sehe also weder ein Motiv noch die Fähigkeit für einen Angriff. Aber das ist
das Narrativ.
Es gab jetzt eine sehr wichtige Entwicklung, die meiner Meinung ein wichtiger
Beitrag ist. Die New York Times hat vor etwa einer Woche einen 13.000
Wörter langen Artikel veröffentlicht, der auf einer einjährigen Recherche
basiert; sie haben 300 Menschen aus vielen Ländern befragt. Lange Rede, kurzer
Sinn: Sie geben zu, daß der gesamte Krieg in der Ukraine ab Mitte April 2022 vom
US-Militärhauptquartier in Wiesbaden befehligt, durchgeführt und technisch
unterstützt wurde. Mitte April 2022 wurden hochrangige ukrainische Militärführer
in Zivil dazugeholt. Der Artikel beschreibt dann sehr detailliert, daß praktisch
der gesamte Krieg von den Amerikanern von Wiesbaden aus geführt wurde und daß
die Ukrainer eigentlich nur eine sehr untergeordnete Rolle spielten. Sie waren
im Grunde das Kanonenfutter für diese Operation.
Das halte ich für ein sehr wichtiges Eingeständnis, denn die gesamte
Darstellung der NATO und der Nordeuropäer lautet, daß das ein „unprovozierter
Angriffskrieg“ war. Jeder Journalist oder Kommentator, der daran zweifelt, läuft
heute in Europa Gefahr, bestraft zu werden, wenn er diese Darstellung auch nur
in Frage stellt. Aber Sie sagen, daß es eine Vorgeschichte gibt, die bis zu den
NATO-Osterweiterungen zurückreicht. Sie haben auch erwähnt, daß es de facto eine
umgekehrte Kubakrise gibt, weil all diese Offensivsysteme sehr nahe an der
russischen Grenze stehen. Einige dieser Systeme haben eine Vorwarnzeit von
vielleicht sechs Minuten bis Moskau. Jeder, der die Situation objektiv
betrachtet, würde also sagen, daß es nicht unprovoziert war.
Was ist Ihrer Meinung nach die Konsequenz aus dem Artikel der New York
Times? Meiner Meinung nach gibt es dabei immer noch ein gewisses
Hintertürchen, weil dort gesagt wird, die Amerikaner hätten alles richtig
gemacht, nur die Ukrainer hätten die Befehle der Amerikaner nicht richtig
befolgt, und deshalb sei der Krieg verloren gegangen. Ich glaube auch nicht, daß
das ganz der Wahrheit entspricht. Aber ich glaube, es wird keine Lösung geben,
wenn wir die Wahrheit nicht wieder in die Debatte bringen.
Meinen Sie nicht, daß es angemessen wäre, wenn all die Journalisten und all
die Politiker, die immer wieder das Narrativ vom „unprovozierten Angriffskrieg“
wiederholt haben, sich im Grunde entschuldigen und sagen, daß sie sich – im
besten Fall – geirrt haben?
Matlock: Natürlich sollte es eine solche Entschuldigung geben,
aber ich bin sicher, daß es keine geben wird.
Meiner Meinung nach hat unsere außenpolitische Elite, die sich in Washington
konzentriert, und haben viele in den Denkfabriken, die von unseren
Waffenherstellern finanziert werden, eine völlig falsche Darstellung der
Situation konstruiert. Denn sie sagen den Amerikanern: „Wir müssen die Ukraine
verteidigen. Das ist ein armes, unschuldiges, demokratisches Land, das vom alten
bösen Rußland überfallen wurde.“
Nun, die Ukraine wurde von Rußland überfallen, das ist wahr. Aber diese
Invasion war nicht so umfassend wie die amerikanische Invasion im Irak, damals
unter der Regierung von Bush Junior, als der Irak keinerlei Bedrohung für die
Vereinigten Staaten darstellte. Damals haben die USA viele ihrer
NATO-Verbündeten dazugeholt. Es gibt also einen Präzedenzfall, in dem die USA
ohne Provokation einen Angriffskrieg geführt haben.
Und nun werfen die Vereinigten Staaten Rußland einen Angriffskrieg vor und
ignorieren dabei die Tatsache, daß es eine Provokation gegeben hat. Präsident
Putin hat in seiner Rede auf der Wehrkundetagung 2007 in München vor den Dingen
gewarnt, die, wie ich sagen würde, den Frieden mit Rußland belasten. Das meiste
davon beruhte auf der Osterweiterung der NATO, und nicht nur auf der
Erweiterung, sondern auch auf der Einrichtung von Militärstützpunkten in den
osteuropäischen Ländern in der Nähe von Rußland. Rußland hatte schon seit den
90er Jahren signalisiert, daß das inakzeptabel wäre.
Wir vergessen, daß Wladimir Putin nach seinem Amtsantritt die russische
Wirtschaft, die praktisch bankrott war, saniert hat: Er hat sie wieder produktiv
gemacht und die Auslandsschulden der Sowjetunion und Rußlands in etwa drei bis
vier Jahren abbezahlt. Er brachte eine gewisse Ordnung in das russische
Wirtschaftssystem.
Zu dieser Zeit betrachtete er sich noch als Verbündeter des Westens und
versuchte, Rußland an den Westen heranzuführen. Und immer wieder wurden die
Bemühungen, ein Sicherheitssystem zu schaffen, das sowohl Rußland als auch die
anderen Länder einschließen sollte, von den westlichen Ländern und den
Vereinigten Staaten einfach ignoriert. Statt dessen versuchte man, ehemalige
Teile der Sowjetunion, Teile, die rechtlich zur Sowjetunion gehört hatten, wie
Georgien und insbesondere die Ukraine, dem russischen Einfluß zu entziehen, und
das war für Rußland aus offensichtlichen Gründen inakzeptabel.
Aber bei der Vorstellung, Rußland sei irgendwie immer aggressiv, wird
vergessen, daß es die russische Führung selbst war, die die Sowjetunion
aufgelöst hat. Es waren Boris Jelzins Treffen mit der Führung Weißrußlands und
der Ukraine, die die Sowjetunion zu Fall brachten. Das war kein „Sieg“ für den
Westen und auch nicht das Ende des Kalten Krieges. Der Kalte Krieg wurde früher
beendet.
Damals, unter der Regierung Bush senior, wollten die USA nicht, daß die
Sowjetunion auseinanderbricht. Wir wollten immer, daß die drei baltischen
Staaten ihre Unabhängigkeit wiedererlangen; wir haben nie anerkannt, daß sie
rechtlich Teil der Sowjetunion waren. Aber die anderen zwölf Republiken, die wir
anerkannt haben, waren rechtmäßig dort. Und als Präsident Bush senior 1991 vor
dem ukrainischen Parlament sprach, bat er sie, einen selbstmörderischen
Nationalismus zu vermeiden. Trotzdem hat der selbstmörderische Nationalismus,
der erst Georgien erfaßt und dort zum Krieg geführt hatte, in der Ukraine die
Oberhand gewonnen. Das ignorieren all jene, die jetzt behaupten, wir müßten
Putin besiegen, weil er sonst eine Bedrohung für andere darstellt.
Mir gefällt nicht, was Putin im Inland getan hat. Die Invasion gefällt mir
ganz sicher nicht. Aber ich bin jemand, der seit Ende der 90er Jahre davor
gewarnt hat, daß es katastrophal ist, die NATO zu erweitern und insbesondere,
Stützpunkte in Osteuropa zu errichten, ohne Rußland Sicherheitsgarantien zu
geben.
Fast jeder von uns, der weiß, daß Gorbatschow das Ende des Kalten Krieges
ausgehandelt hat, hat das auch sehr deutlich ausgedrückt, als diese Frage in den
Vereinigten Staaten diskutiert wurde. Und es ist eine Tragödie, daß sich unsere
Vorhersage nun bewahrheitet hat.
Ich möchte noch einen Punkt ansprechen: daß wir und unsere westeuropäischen
Freunde in diesem Prozeß die Ukraine zerstören, in dem Versuch, Rußland zu
schwächen. Wir alle brauchen Rußland, um bei den großen Herausforderungen der
Gegenwart und der Zukunft zusammenzuarbeiten. Wir sehen jeden Tag mehr
Verwüstungen, mehr Überschwemmungen und so weiter. Und doch hindern uns diese
Kriege daran, wirklich etwas gegen den Klimawandel zu tun. Sie führen zu noch
größeren Migrationsströmen, die alle unsere Länder belasten. Anstatt gemeinsam
zu versuchen, diese Probleme zu lösen, schüren wir die Kämpfe nicht nur in der
Ukraine, sondern noch schlimmer im Nahen Osten. Wir tolerieren die
völkermörderische Politik Israels im Gazastreifen und zunehmend auch im
Westjordanland. Die Berichterstattung darüber in unseren Hauptmedien ist sehr
einseitig.
Zepp-LaRouche: Ich danke Ihnen für Ihre Stimme der
Menschlichkeit, die Sie so deutlich zum Ausdruck bringen.
Der zweite Teil des Interviews folgt in der nächsten Ausgabe.
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