„Die europäische Politik ist historisch sehr kurzsichtig“
Botschafter Jack Matlock spricht mit Helga Zepp-LaRouche
über die strategische Krise
– Teil 2 –
Die Gründerin des Schiller-Instituts, Helga Zepp-LaRouche, sprach am 9. Mai 2025
in ihrem „Live-Dialog mit Helga Zepp-LaRouche“ eine Stunde lang mit dem früheren
US-Botschafter in der Sowjetunion, Jack Matlock, über die aktuelle strategische
Krise. Botschafter Matlock war Beamter des Auswärtigen Dienstes der USA und
diente während der turbulenten Jahre von 1987 bis 1991, die der friedlichen
Auflösung der Sowjetunion vorausgingen, als US-Botschafter in Moskau. Hier ist
die Mitschrift ihres Gesprächs (Übersetzung aus dem Englischen,
Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion hinzugefügt. Den ersten Teil des
Interviews finden Sie in Neue
Solidarität 18/2025). Den Mitschnitt des Gesprächs mit deutscher
Simultanübersetzung finden Sie im Youtube-Kanal des Schiller-Instituts
Helga Zepp-LaRouche: Was ist Ihre Erklärung [für die westliche
Politik]? Ich denke an die Reden, die Putin wiederholt gehalten hat, als Clinton
im Jahr 2000 Moskau besuchte und als Putin 2001 vor dem Deutschen Bundestag
sprach. Er sprach sogar teilweise auf Deutsch. Er zitierte deutsche Dichter und
brachte eine sehr zuvorkommende Haltung gegenüber Deutschland zum Ausdruck.
Das halte ich für sehr bemerkenswert, wenn man bedenkt, welche Rolle
Deutschland im Zweiten Weltkrieg gespielt hat, in dem 27 Millionen Sowjetbürger
getötet wurden, was in den Köpfen der Menschen immer noch sehr, sehr wach ist,
wenn sie über den Großen Vaterländischen Krieg reden. Ich fand das Verhalten der
Russen in der Zeit der deutschen Wiedervereinigung und auch danach äußerst
großzügig! Sie erklärten sich bereit, daß Deutschland in die NATO aufgenommen
wird, wenn es keine Ausweitung der NATO nach Osten geben würde.
Was mich wirklich beschäftigt, ist die Frage: Wie können die heutigen
Deutschen so nachlässig und ignorant und gleichgültig gegenüber der deutschen
Geschichte sein? Wir sollten Rußland doch dankbar sein, daß wir diese friedliche
Revolution hatten, die historisch gesehen eine enorme Chance war. Wir hätten
eine Friedensordnung haben können, wir hätten uns in einer völlig anderen Ära
der menschlichen Zivilisation bewegen können. Ich frage mich immer noch, warum
die Leute – oder wenigstens manche – die Russen so sehr hassen, daß sie eher die
potentielle Zerstörung der gesamten Zivilisation in Kauf nehmen, anstatt
zuzugeben, daß sie falsch lagen.
Matlock: Ich denke, Sie haben in vielerlei Hinsicht recht. Ich
war dabei, als unser Außenminister [James Baker] Präsident Gorbatschow und dem
sowjetischen Außenminister Schewardnadse wiederholt versicherte, daß die
ostdeutschen Länder einfach Teil Deutschlands werden würden, wenn sie der
Vereinigung der beiden deutschen Staaten zustimmten, und zwar zu den
Bedingungen, die von Westdeutschland festgelegt worden waren, nämlich die
Deutsche Demokratische Republik in die westdeutsche Verfassung aufzunehmen. Die
sowjetische Position war früher, daß es Verhandlungen zwischen den beiden
Staaten geben müßte, aber die Ereignisse in Ostdeutschland machten das
unmöglich, als bei den Wahlen im Februar 1990 die CDU die Mehrheit der Stimmen
in der Deutschen Demokratischen Republik erhielt.
Jedenfalls wurde damals vereinbart, daß es nach der Wiedervereinigung
Deutschlands keine ausländischen Truppen oder Atomwaffen auf dem Gebiet der
Deutschen Demokratischen Republik geben dürfe, auch wenn die Vereinbarungen
nichts über die NATO-Erweiterung enthielten. Der amerikanische Außenminister,
der deutsche Außenminister und meines Wissens auch der britische Premierminister
John Major versicherten damals, daß es keine NATO-Osterweiterung geben würde.
Wie Minister Baker einmal sagte, „keinen Zoll“. Er bezog sich damals auf das
Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik, aber das hätte natürlich auch für
Osteuropa gegolten. Sie sprachen nicht über Osteuropa, weil es zu dieser Zeit
noch den Warschauer Pakt gab. Es war niemals die Rede davon, daß wir die NATO
erweitern würden. Die Gespräche drehten sich um Ostdeutschland.
Außerdem verbot der Vertrag jegliche ausländische Basen. Als wir später
begannen, die NATO zu erweitern, hatte Präsident Putin zu der Zeit keine
Einwände gegen die erste Erweiterung. Er hatte nicht einmal Einwände gegen die
Erweiterung auf die drei baltischen Staaten. Als darüber diskutiert wurde, kam
er nach New York und hielt eine Rede an der Columbia Universität. Ich
unterrichtete damals dort und fragte ihn in einer öffentlichen Sitzung direkt,
wie er zur Aufnahme der drei baltischen Staaten in die NATO stehe. Er sagte, er
halte das für unnötig, aber er sei nicht dagegen, solange es dort keine
ausländischen Stützpunkte gäbe.
Wenn man sagt, daß es sich nur um eine NATO-Erweiterung handelte, wird also
ignoriert, daß es sich um eine NATO-Erweiterung plus ausländische Stützpunkte
handelte. Man darf nicht vergessen, daß auf den Raketenabwehrbasen, die
später in Polen und Rumänien errichtet wurden, Raketen stationiert wurden, die
man durch eine Änderung der Software auch offensiv einsetzen kann. Präsident
Putin hat also einen guten Grund, sich dagegen zu wehren.
Ja, der gegenwärtige Krieg in der Ukraine ist eine Tragödie, vor allem für
die Ukraine, aber auch für Rußland: Denn er wird für Generationen Feindschaft
zwischen den beiden Ländern schaffen. Aber Tatsache ist, daß man für den Frieden
in Europa eine Lösung finden muß, die nicht auf einer vollständigen
Wiederherstellung der Grenzen beruht, die Hitler, Stalin und im Falle der Krim
Chruschtschow geschaffen haben. Das ist, glaube ich, eine Tatsache, und warum
man das in Europa und insbesondere in Deutschland nicht besser versteht, ist mir
unverständlich.
Die Rolle der Briten in den globalen Konflikten
Zepp-LaRouche: Der georgische Staatschef hat gerade gesagt, er
glaube, die Europäer seien jetzt ein „Tiefer Staat“ oder mindestens verwandt mit
dem, was man in den Vereinigten Staaten „Deep State“ nennt. Ich glaube, das hat
etwas mit Geopolitik zu tun, ich glaube, dahinter steckt das Britische Empire.
Die Leute denken, das Britische Empire sei verschwunden und existiere nicht
mehr. Aber ich bin überzeugt, daß es in einer anderen Form weiter existiert. Vor
allem gibt es da den Commonwealth und auch die „Five Eyes“. Dann gibt es die
Finanzmächte an der Wall Street und in der Londoner City, die sozusagen die
Verlängerung des Britischen Empire sind, weil sie einen Großteil der Bedingungen
für Kredite, Handel und so weiter kontrollieren.
Ich denke, wenn man sich die Rolle der Briten in diesem Konflikt anschaut,
dann waren sie immer die Anstifter. Keir Starmer kam in der letzten Phase der
Biden-Administration nach Washington und drängte Biden, Langstreckenraketen
gegen russisches Territorium einzusetzen.
Wie sehen Sie die Rolle der Briten in der anglo-amerikanischen
Sonderbeziehung?
Matlock: Ich denke, Sie haben richtig diagnostiziert, daß es
sich um eine Art Empire-Nostalgie handelt, die Rußland sozusagen als ewigen
Feind darstellt. Es gab natürlich eine Rivalität zwischen beiden im Krimkrieg
und dann eine Rivalität um die Kontrolle über Afghanistan, die bis ins 19.
Jahrhundert zurückreicht, und so weiter. Es ist wohl so, daß die Amerikaner in
den Köpfen vieler Menschen zu den Vollstreckern geworden sind, die eine Art
Britisches Empire wiederherstellen wollen, das von derselben Haltung inspiriert
ist. Aber ich glaube nicht, daß das im Interesse der Menschen im Vereinigten
Königreich ist…
Man sollte auch nicht den aggressiven Überfall auf den Irak vergessen, den
die Regierung Bush junior auf der Grundlage falscher Beweise durchgeführt hat,
von denen sie wußte, daß sie falsch waren, wenn man zurückblickt. Wer waren
dabei unsere wichtigsten Verbündeten? Nun, die Briten.
Nochmals, ich glaube nicht, daß das wirklich im Interesse der Briten ist,
aber es gibt wohl viele Emotionen und Gedanken an das alte Empire, insbesondere
zu Orten wie der Krim, die im 19. Jahrhundert von den Briten angegriffen
wurde.
Wußten Sie übrigens, daß der große Schriftsteller und spätere Pazifist Leo
Tolstoi im Krimkrieg als russischer Artillerieoffizier an der Verteidigung der
Krim teilgenommen hat? All diese Dinge, über die wir heute streiten, sind für
die Russen emotional ein fester Bestandteil ihrer eigenen Geschichte.
Westeuropäer und Amerikaner sollten deshalb verstehen, daß der
Ukrainekonflikt im wesentlichen ein Bürgerkrieg zwischen Ostslawen ist, in dem
es darum geht, wer wo herrscht. Wie andere Bürgerkriege wird er durch die
Einmischung anderer nur verschärft. Das hätte man ohne totalen Krieg lösen
können, wenn man das Minsker Abkommen eingehalten hätte, aber die Unterzeichner
Frankreich und Deutschland haben es gebrochen.
Jetzt hört man: „Ach, Wladimir Putin kann man nicht trauen.“ Wenn man sich
anschaut, was er gesagt hat und was andere gesagt haben, würde ich sagen, daß
Frankreich und Deutschland mehr Vereinbarungen gebrochen haben als er. Jeder hat
Zusagen gebrochen, aber in diesem Fall handelt es sich meiner Meinung nach einen
Versuch, Rußland einzudämmen und seinen Einfluß zu begrenzen. Natürlich ist es
schwächer als die Vereinigten Staaten, aber Tatsache ist, daß wir – wie unser
ehemaliger Verteidigungsminister sagte – mit dem Versuch, Rußland zu schwächen,
die Welt eher spalten und uns und der gesamten Menschheit mehr Probleme
bereiten.
Die antikolonialen Wurzeln der Vereinigten Staaten
Zepp-LaRouche: Ich glaube, daß auch die Vereinigten Staaten in
einer Krise stecken. Auf der Konferenz von Bandung, der ersten
asiatisch-afrikanischen Konferenz der Bewegung der Blockfreien Staaten, sprachen
die Präsidenten Sukarno und Nehru darüber, daß der Unabhängigkeitskrieg der
Vereinigten Staaten der erste antikoloniale Krieg eines Landes war. Ich denke,
es wäre gut, wenn die Menschen in den Vereinigten Staaten einfach mal auf ihre
eigene Geschichte zurückblicken würden, um zu sehen, was die Intention der
amerikanischen Republik von Benjamin Franklin und den Gründervätern war, und von
John Quincy Adams, der bekanntlich sagte, es sei nicht der Zweck der Vereinigten
Staaten, „im Ausland nach Ungeheuern zu suchen“. Alexander Hamilton hat das
Amerikanische Wirtschaftssystem geschaffen.
Das war eine Zeit, in der viele Menschen überall auf der Welt die
Amerikanische Revolution als einen Wendepunkt der Geschichte betrachteten, denn
Europa wurde immer noch von Monarchien und Oligarchien beherrscht, während
Amerika eine Republik sein sollte. Sie sollte dem Gemeinwohl dienen, und zwar
nicht nur dem der Menschen heute, sondern auch dem zukünftiger Generationen, wie
es in der Präambel der Verfassung heißt.
Und dann ist da noch die Unabhängigkeitserklärung. Als ich vor 41 Jahren das
Schiller-Institut gründete, suchte ich nach einem Dokument, das als Grundlage
für das Statut des Schiller-Instituts dienen könnte. Und ich fand, daß die
Unabhängigkeitserklärung dem, was wir erreichen wollten, am nächsten kam. Ich
habe nur sechs Wörter geändert. Zum Beispiel sagte ich „Entwicklungsländer“
statt „amerikanische Kolonien“; statt „Kolonialherr“ sagte ich
„Finanzkreditsystem“ oder Finanzkontrolle des Systems. Indem ich nur fünf oder
sechs Wörter änderte, machte ich es auf die ganze Welt anwendbar. Ich wollte,
daß die Amerikaner sich auf ihre eigene stolze Tradition besinnen, und ich
wollte, daß die Amerikaner auch sehen, daß andere Länder die gleichen Rechte
haben wie sie; und daß andere Länder sehen, was der bessere Geist der
Vereinigten Staaten ist.
Was wäre Ihrer Meinung nach notwendig, um diese stolze Tradition Amerikas
wiederzubeleben und sich dem Griff des Britischen Empire zu entziehen?
Matlock: Ich glaube, am Ende des Kalten Krieges haben die
Amerikaner und unsere westeuropäischen Verbündeten einfach eine falsche Doktrin
übernommen. Es scheint so, als hätten wir diese alte sowjetische Vorstellung,
daß der Kommunismus durch eine Revolution die Welt erobern würde und es daher
ihre historische Pflicht wäre, Revolutionen in allen möglichen Ländern zu
unterstützen, mit geringfügigen Änderungen übernommen.
Tatsache ist natürlich, daß diese Revolutionen nicht den Sozialismus
hervorbrachten, den Marx beschrieben hatte. Sie haben totalitäre Systeme
hervorgebracht. Aber es gab eine andere Annahme: Wenn man „sozialistisch“ war,
also von der Sowjetunion beherrscht wurde, dann war man befreundet. Natürlich
ging es um die sowjetische Vorherrschaft. Aber dann haben sich andere Länder wie
das marxistische Jugoslawien, Albanien und China unter Mao Zedong zurückgezogen.
Die Vorstellung, daß das die Zukunft der Welt wär, war also schlicht falsch.
Als die Sowjetunion zusammenbrach, sagten unsere Philosophen, das sei das
Ende der Geschichte. In einer verzerrten Anlehnung an Hegel sagten sie, diesmal
würden die Demokratie und der Kapitalismus die Welt erobern. Und es sei die
Pflicht der Vereinigten Staaten, als führendes demokratisches und
kapitalistisches Land die Demokratie in der übrigen Welt zu verbreiten.
Daran ist einiges falsch. Eine Sache, die sicher nicht stimmt, ist, daß man
Freunde sein wird, nur weil man die gleiche Regierungsform hat. Ob man Freund
ist oder nicht, hängt von vielen Dingen ab.
Zweitens kann ein Land keine Demokratie in einem anderen Land errichten. Wie
Lincoln einmal sagte: „eine Regierung des Volkes, durch das Volk und für das
Volk“. Wie kann die dann ein anderer schaffen? Wenn sich andere Länder in die
Innenpolitik einmischen, schaden sie eher den Menschen, denen sie helfen
wollen.
Sie haben John Quincy Adams sehr treffend zitiert, denn als er warnte und
sagte: „Amerika geht nicht ins Ausland, um Ungeheuer zu vernichten“. Und in
seiner sehr blumigen Sprache sagte er auch: Wenn die Vereinigten Staaten sich in
die Auseinandersetzungen in Europa einmischen und die eine oder andere Seite in
diesen Auseinandersetzungen unterstützen, dann wird Amerika selbst zu einem
Imperium. Davor hat er gewarnt.
Jetzt haben wir einen Präsidenten, der Präsident McKinley sehr bewundert. Das
war die Zeit, in der die Vereinigten Staaten offen imperialistisch wurden. Die
amerikanische Außenpolitik schwankte in vielerlei Hinsicht. Aber daß wir
anfingen, außerhalb Nordamerikas zu expandieren, das passierte unter McKinley.
McKinley scheint Präsident Trumps Idol zu sein. Er zitiert ihn oft, und er
wollte sogar den Berg in Alaska wieder in Mount McKinley umbenennen, anstatt in
Denali, wie die Menschen dort ihn ursprünglich nannten. Das ist eines unserer
Probleme: Es scheint, daß Trump zu einer Zeit zurückkehren will, die langfristig
nicht besonders erfolgreich war.
Ich würde aber sagen, die amerikanische Politik schwankt, das war schon immer
so. Sie war nie geradlinig. Ich denke, was wir erleben werden, ist in vielerlei
Hinsicht ein Scheitern der gegenwärtigen Politik und sicherlich der
gegenwärtigen kriegerischen Art und Weise, in der Zölle eingesetzt werden. Wir
heizen die Kriege im Nahen Osten weiter an, wir liefern die Waffen für einen
eindeutig völkermörderischen Krieg gegen Gaza und so weiter. Ich fürchte, es
wird noch viele Dinge geben, die nicht gut ausgehen.
Aber ich würde auch sagen, daß es sehr schnell zu unerwarteten Wendungen
kommen kann. Als ich Präsident Reagan am Ende des Kalten Krieges beriet, konnten
wir innerhalb von drei Jahren eine sehr angespannte Situation umdrehen. Ich
glaube also, daß Unerwartetes passieren kann. Aber eines ist sicher: Die
Vorstellung, daß es eine Zukunft gibt, in der man versucht, die Welt in Ost und
West aufzuteilen und militärische Mittel einzusetzen, ist meiner Meinung nach
für alle katastrophal. Je schneller wir davon wegkommen, desto besser für
alle.
Andere Kulturen tolerieren
Zepp-LaRouche: Ich bin seit langem der Meinung, daß wir an
einem Punkt in der Geschichte der Menschheit angelangt sind, an dem wir ein
neues Kapitel aufschlagen müssen. Wir brauchen ein neues Paradigma, das sich
ebensosehr von der Gegenwart unterscheiden muß wie die Neuzeit vom
Mittelalter.
Im 14. Jahrhundert, zur Zeit des Schwarzen Todes, herrschten Aberglauben und
Hexenglauben; die Peripatetiker diskutierten darüber, wie viele Engel auf einer
Nadelspitze sitzen könnten. Das war alles sehr rückständig.
Dann kam die italienische Renaissance und die Neuzeit begann; die
Urbanisierung spielte eine größere Rolle. Die Rolle des Individuums wurde
deutlicher; Wissenschaft und Technologie trugen zur Verbesserung des
Lebensstandards der Menschen bei; es gab den Buchdruck. Die heutige Zeit hat
ganz andere Axiome, was das Menschenbild und die Natur des Universums
betrifft.
Ich glaube, wir haben einen Punkt in der Geschichte erreicht, an dem wir
wirklich über das neue Paradigma nachdenken müssen. Lassen wir den
Imperialismus, den Oligarchismus und die Habgier, die wir heute erleben, hinter
uns und denken wir darüber nach, was uns als Menschheit auf eine ganz andere
Ebene bringt.
Denn von allen Lebewesen, die es im Universum gibt, ist der Mensch die
einzige schöpferische Gattung. Wir können immer Lösungen für Probleme finden.
Wir können wissenschaftliche Entdeckungen machen, die unsere Lebensweise völlig
verändern und die Lebenserwartung und den Lebensstandard von immer mehr Menschen
verbessern. Ich glaube, daß wir jetzt wirklich herausgefordert sind, eine
Ordnung zu schaffen, die das Überleben aller Nationen auf diesem Planeten
ermöglicht und dabei die Interessen jeder Nation auf diesem Planeten
berücksichtigt. So wie es der Westfälische Friede zum ersten Mal getan hat. Ich
glaube, daß man wirklich die Interessen aller berücksichtigen muß, denn sonst
werden die Interessen von niemandem berücksichtigt.
Ich hoffe, daß einige führende Persönlichkeiten in der Welt auf die Idee
kommen, ein neues Paradigma zu schaffen, eine neue Sicherheits- und
Entwicklungsarchitektur, die genau das tut. Würden Sie mir freundlicherweise
sagen, was Sie von einer solchen Idee halten?
Matlock: Ich denke, Sie haben Recht: Wir müssen einen Weg zu
einer Weltordnung finden, die unterschiedliche Kulturen toleriert. Wir müssen
erkennen, daß es, so wichtig einige Ideen der westlichen Renaissance und die
Entwicklung des Völkerrechts sind, auch andere Zeiten gab. Während des finsteren
Mittelalters in Westeuropa waren Byzanz und der Orient weitaus erfolgreicher.
Sogar im frühen Mittelalter waren viele Aspekte der muslimischen Gesellschaft,
insbesondere in Spanien, liberaler und vernünftiger als die vorherrschenden
westlichen Ideen. Der Aufstieg Europas und seine zeitweilige Vormachtstellung
über den Rest der Welt waren also nur vorübergehend, und sie brachten die Last
eines impliziten Rassenwahns mit sich, einer Vormachtstellung über die Kolonien
anderswo. Wir sehen immer noch Entwicklungen, die daraus erwachsen.
Aber ich denke, wenn wir uns heute Sorgen über den „chinesischen Einfluß“
machen, dann sehe ich, daß dieser Einfluß durch die chinesische
Wirtschaftspolitik, durch chinesische Investitionen und Verkäufe in
verschiedenen Ländern entsteht. Soweit ich weiß, hat China mit Ausnahme einiger
umstrittener Inseln im Südchinesischen Meer keine Militärstützpunkte außerhalb
seiner Grenzen, während die USA über 80 Stützpunkte in mehr als 80 Ländern
unterhalten. Von einer militärischen Bedrohung durch China zu sprechen, halte
ich für lächerlich.
Natürlich hat China die Anwendung von Gewalt gegen Taiwan nicht
ausgeschlossen, aber Gott bewahre, daß wir deswegen in einen Krieg geraten. Wenn
es dazu käme, ist es keineswegs sicher, daß China sich nicht durchsetzen würde.
Ich glaube, daß die Idee, den Export von Dingen wie hochentwickelten Chips zu
verbieten, dazu führen wird, daß China die Vereinigten Staaten in einigen dieser
Technologiebereiche einfach überholen wird. Ich glaube, das hat man nicht
erkannt. Aber hinter vielen Dingen in den Vereinigten Staaten steckt das, was
ich den Militär-Industrie-Kongreß-Komplex nenne. Scheinbar müssen wir immer
irgendwelche Gegner finden, um ein immer größeres sogenanntes
Verteidigungsbudget zu finanzieren – eine „Verteidigung“, die immer offensiver
wird. Ich glaube nicht, daß das im Interesse des amerikanischen Volkes ist, und
ich glaube nicht, daß das im Interesse der übrigen Welt ist.
Zepp-LaRouche: Herr Botschafter, es ist wirklich eine Wohltat,
Ihnen zuzuhören, denn ich spreche in diesen Tagen hauptsächlich mit Europäern,
und was Sie sagen, ist so viel vernünftiger und aufgeklärter. Wären Sie so
freundlich, am Ende unseres Gesprächs auch eine Warnung an unsere Zuhörer
auszusprechen, wenn man sieht, was Ursula von der Leyen macht und daß wir
demnächst in Deutschland eine neue Regierung unter Herrn Merz haben werden? Sie
wollen alle aufrüsten, sie wollen Deutschland kriegstüchtig machen. Können Sie
aus Ihrer Erfahrung den Deutschen und den Europäern sagen, wie sie in diesen
Fragen umdenken sollten?
Matlock: Ich glaube, daß insbesondere Deutschland, aber auch
das übrige Europa, ohne die Zusammenarbeit mit Rußland und dem Osten nicht in
der Lage sein wird, sein volles Potential auszuschöpfen. Rußland ist einfach zu
groß, es hat so viele Ressourcen. Und natürlich hat es eine Kultur, die
europäisch ist, eine der wichtigsten Kulturen für Europa. Mein Eindruck ist, daß
Deutschland keinen Wohlstand haben kann, wenn es von Rußland abgeschnitten ist.
Schließlich wird die gesamte Energieversorgung durch Rußland billiger. Die
deutsche Industrie ist stark davon abhängig. Die jetzigen Zölle der USA, wenn
sie denn bleiben, halte ich wirklich für katastrophal. So zu tun, als sei
Rußland eine Bedrohung für Deutschland, halte ich für eine sehr gefährliche
Illusion.
Zepp-LaRouche: Vielen Dank! Erlauben Sie mir, Ihnen meinen Dank
auszusprechen und Ihnen spontan zu sagen, daß Sie ein phantastischer Mensch
sind; und ich hoffe, daß Sie uns auch in Zukunft Freude bereiten werden. Vielen
Dank.
Matlock: Vielen Dank für die Komplimente und für das Privileg,
in Ihrer Sendung sein zu dürfen.
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