Israel und Palästina: der Tag danach
Von Odile Mojon
Odile Mojon ist Kandidatin von Solidarité et Progrès für die
französische Parlamentswahl im 10. Auslandswahlkreis, der große Teile Afrikas
und Südwestasiens umfaßt. Im zweiten Abschnitt der Pariser Konferenz der
Solidarité et Progrès (S&P) und des Schiller-Instituts am 8. November sagte
sie folgendes. (Übersetzung aus dem Französischen.)
I. Die Kontaminierung stoppen
Die Beweise für den Völkermord, den Israel in Gaza begangen hat, stehen außer
Zweifel.
Zusätzlich zu den Tausenden von Zeugenaussagen – Berichten, Videoaufnahmen,
Audioaufnahmen, Fotos etc. –, die ihn ohne den geringsten Zweifel dokumentieren,
wurden die Tatsachen auch vom Internationalen Strafgerichtshof bestätigt, der
Haftbefehle gegen [Ministerpräsident] Netanjahu und [den früheren
Verteidigungsminister] Gallant wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit
erlassen hat, sowie vom Internationalen Gerichtshof und von der Unabhängigen
Internationalen Untersuchungskommission der Vereinten Nationen, die zu dem
Schluß gekommen ist, daß die Handlungen Israels gegen die palästinensische
Bevölkerung in Gaza der rechtlichen Definition von Völkermord entsprechen.
Insoweit es von diesen Rechtsinstanzen noch nicht berücksichtigt wurde, muß
irgendwann auch die Komplizenschaft und aktive Unterstützung der westlichen
Länder – sowohl in politischer Hinsicht durch ihre Untätigkeit als auch in
finanzieller und technologischer Hinsicht – untersucht werden. Denn mit Ausnahme
bestimmter Länder wie Irland oder Spanien ist die westliche Welt (mit ihren
Verbündeten in der arabischen Welt) zu ihrem kolonialen Laster zurückgekehrt,
das auf der Tradition bösartiger geopolitischer Berechnung und dem Recht des
Stärkeren basiert, dessen unvermeidliche Folge ein ewiger Krieg ist.
Aber wie Celsio Amorim, Berater des brasilianischen Präsidenten Lula da
Silva, vor einigen Tagen in einem Interview mit der Tageszeitung O Globo
sagte: „Frieden ist unteilbar.“
Er sprach von der Gefahr eines Krieges, der Venezuela droht, und sagte: „Man
kann sich nicht Frieden in der Ukraine und gleichzeitig einen Krieg oder
irgendeinen Angriff in Südamerika vorstellen. Alles hängt zusammen, alles
kontaminiert sich gegenseitig.“
Das ist das richtige Wort: „kontaminieren“, wie die derzeitige Kontamination
der Köpfe in einer Gesellschaft, die von der Kultur des Krieges überrollt wurde
und die den anderen nur noch als Freund oder Feind wahrnehmen kann.
Man betrachte nur den Niedergang der öffentlichen Debatte unter dem Einfluß
der Medien und, allgemeiner gesagt, einer Kultur der Gewalt, sogar in den
Beziehungen zwischen Menschen. Es ist ein Symptom für die Spaltung in einander
fremde Gemeinschaften und den Zerfall des „Wunsches, friedlich zusammenzuleben“.
Im Extremfall kann diese Ablehnung die klinische Form der Apartheid annehmen
oder die Illusion, daß „meine Existenz nur durch die Auslöschung des anderen
erreicht werden kann“, oder beides gleichzeitig, wie in Gaza.
Die Tatsache, daß Ende Dezember 2023 von allen Staaten, die es hätten tun
können, ausgerechnet Südafrika den Internationalen Gerichtshof (IGH) anrief, war
besonders wichtig. Israel wurde aufgefordert, jede Handlung zu unterlassen, die
einem „Völkermord“ gleichkommt, vor der „realen und unmittelbaren Gefahr“ eines
„irreparablen Schadens“ für die Palästinenser in Gaza gewarnt und aufgefordert,
die Lieferung humanitärer Hilfe sicherzustellen.
In seiner Antwort vom 19. Juli 2024 entschied der IGH jedoch nicht nur, daß
die Besetzung Palästinas durch Israel illegal sei, sondern auch, daß der
israelische Staat dort eine Politik der Apartheid betreibe. Der IGH erklärte
weiter, Israel müsse seine Siedlungsaktivitäten einstellen, seine Siedler
zurückziehen und den Palästinensern vollständige Wiedergutmachung leisten. Die
Stellungnahme des IGH wurde am 18. September 2024 durch eine Resolution der
Generalversammlung der Vereinten Nationen bestätigt, in der Israel aufgefordert
wurde, seine rechtswidrige Präsenz in den besetzten palästinensischen Gebieten
unverzüglich zu beenden.
II. Von Südafrika nach Gaza
Mit der Initiative, die Angelegenheit auf Anregung der damaligen Ministerin
für internationale Beziehungen und Zusammenarbeit, Naledi Pandor, an den
Weltgerichtshof zu verweisen, knüpfte Südafrika an die historische Dynamik an,
die es ihm ermöglicht hatte, sich von der Geißel der Apartheid zu befreien.
Dieser Prozeß begann kurz gesagt mit dem Widerstand der
Anti-Apartheid-Bewegungen, von denen die bekannteste Nelson Mandelas ANC
(Afrikanischer Nationalkongreß) ist.
Um 1985, als das Regime von Pieter Botha mit einer Wirtschaftskrise und
zunehmender Opposition konfrontiert war, wurden dann geheime Kontakte zwischen
der Regierung und dem Exil-ANC aufgenommen (einschließlich Nelson Mandela, der
noch immer inhaftiert war).
1989 leitete der neue Präsident Frederik de Klerk eine Reformpolitik ein, die
zur schrittweisen Abschaffung der Apartheid führte.
Am 11. Februar 1990 wurde Nelson Mandela nach 27 Jahren Haft
freigelassen.
Einige Tage zuvor waren die Anti-Apartheid-Bewegung und die seit den 1960er
Jahren verbotene Kommunistische Partei Südafrikas legalisiert und die
wichtigsten Apartheidgesetze aufgehoben worden. In der Folge wurde eine
Konvention für ein demokratisches Südafrika ins Leben gerufen, um Verhandlungen
zwischen der Regierung und den politischen Parteien aufzunehmen.
Im April 1994 führten die ersten freien und multiethnischen Wahlen in
Südafrika zum Sieg des ANC, und Nelson Mandela wurde zum Präsidenten gewählt.
Eine neue Verfassung wurde verabschiedet und eine Versöhnungskommission
eingerichtet.
Unterdessen wurden Nelson Mandela und Frederik de Klerk 1993 gemeinsam für
ihre Rolle beim friedlichen Übergang mit dem Friedensnobelpreis
ausgezeichnet.
III. Den Stillstand überwinden
Der für den Gazastreifen nach dem Waffenstillstand vom 10. Oktober
vorgesehene Übergangsprozeß verläuft derzeit in eine Richtung, die derjenigen,
die das Ende der Apartheid in Südafrika ermöglichte, diametral entgegensteht,
denn um Frieden zu schaffen, reicht es nicht aus, ihn einfach nur zu wollen,
dazu gehören immer zwei.
Angesichts Israels völliger Leugnung der palästinensischen Realität wäre es
die Aufgabe von Donald Trump gewesen, den Dialog zu eröffnen, indem er die
Palästinenser in die Waffenstillstandsverhandlungen einbezieht. Das hat er nicht
getan.
Schlimmer noch, in seinem Zwanzig-Punkte-Plan schlägt er vor, Gaza unter die
„vorübergehende Übergangsverwaltung eines technokratischen und unpolitischen
palästinensischen Komitees” in einer Institution namens Gaza International
Transitional Authority (GITA) zu stellen. Den Vorsitz könnte der berüchtigte
[britische Ex-Premier] Tony Blair übernehmen, obwohl sein Name zum jetzigen
Zeitpunkt in dem von Haaretz veröffentlichten Entwurf des vertraulichen
Plans nicht auftaucht. Es wurden jedoch die Namen einiger Milliardäre bekannt,
die als Leiter des Gremiums in Betracht kommen: Marc Rowan, ein Milliardär, der
eine der größten amerikanischen Private-Equity-Firmen besitzt; Naguib Sawiris,
ein ägyptischer Milliardär aus dem Telekommunikations- und Technologiesektor;
und Aryeh Lightstone, Geschäftsführer des Abraham Accords Peace Institute. Es
ist keine Überraschung, daß diese Milliardäre alle mit den Zielen der
israelischen Regierung übereinstimmen, aber Lightstone sticht dadurch hervor,
daß er auch an der Gründung der höchst umstrittenen Gaza Humanitarian Foundation
beteiligt war.
Darüber hinaus besteht die Gefahr, daß sogar die Einstellung der
Bombardierungen gegen Gaza nach der Umsetzung des Waffenstillstands, die Trumps
Plan einen Anschein von Glaubwürdigkeit verleihen würde, nur eine Erinnerung
bleibt, wenn Israel weiter wiederholt gegen den Waffenstillstand verstößt. Mit
dem Tod von etwa 200 Palästinensern seit dem 10. Oktober hat Israel gezeigt, daß
es nicht die Absicht hat, den Völkermord zu beenden.
Was bleibt also zu tun?
Die Realität ist, daß Frieden heute direkt von der Freilassung des
palästinensischen Mandela, Marwan Barghuti, abhängt, der seit 23 Jahren in
israelischen Gefängnissen festgehalten wird. Um Le Monde vom 2. November
zu zitieren:
„Da er seit 2002 von Israel inhaftiert ist, blieb ihm der schlechte Ruf
erspart, der palästinensische Führer aller Couleur getroffen hat, sodaß er sogar
den Spitznamen ,palästinensischer Mandela‘ erhielt. Als langjähriger Befürworter
der Zwei-Staaten-Lösung ist er aufgrund seiner militanten Ausstrahlung in der
Lage, diese sowohl den Islamisten der Hamas als auch anderen Fraktionen
aufzuzwingen.
Als eine Säule der Fatah und der Palästinensischen Befreiungsorganisation,
der jedoch inhaftiert wurde, als Jassir Arafat noch ihr Führer war, könnte er
die Glaubwürdigkeit dieser beiden Bewegungen wiederherstellen, die durch Mahmud
Abbas, ihren derzeitigen über 90jährigen Präsidenten, ihrer Substanz beraubt
wurden. Und genau aus diesem Grund weigerte sich Netanjahu, Barghuti im Rahmen
des Austauschs mit der Hamas freizulassen, und verschloß damit diesen
,politischen Horizont‘, den der Trump-Plan so sehr herbeisehnt.”
IV. Nachdenken über den Tag danach – „Selbstreflexion“
Bei einer Veranstaltung in Paris, an der ich kürzlich teilnahm, wurden
inmitten eines Publikums von mehreren tausend Menschen zwei Journalistinnen,
eine Palästinenserin und eine Israelin, zu Wort gebeten.
Als die israelische Journalistin sprach, warf sie sofort die Frage nach dem
„Tag danach“ auf – danach, was passieren wird, wenn der Völkermord vorbei ist,
denn er wird zwangsläufig eines Tages enden.
Sie erwähnte ausdrücklich die unvermeidliche und unverzichtbare Aufgabe der
„Selbstreflexion“, der Introspektion, die für diejenigen notwendig sein wird,
die an diesem Völkermord beteiligt waren – ebenso wie für diejenigen, möchte ich
hinzufügen, die sich mitschuldig gemacht haben.
Mehrere Faktoren deuten jedoch darauf hin, daß wir gegenwärtig den Anbruch
dieses „Tages danach“ erleben. Ganz nachvollziehbar sind die ersten Anzeichen
dafür genau dort zu sehen, wo historisch die Unterstützung für die israelische
Politik am stärksten war: in den Vereinigten Staaten.
Kürzlich ergaben mehrere Umfragen, daß 60% der Amerikaner überzeugt sind, daß
Israel in Gaza Völkermord begeht. Eine weitere Umfrage der Washington
Post unter der jüdischen Bevölkerung ergab, daß 61% der amerikanischen Juden
glauben, daß Israel Kriegsverbrechen begeht, und 40% glauben, daß es Völkermord
begeht. Mit anderen Worten: Die Unterstützung für die pro-israelische Politik
der USA bricht zusammen.
Das andere Element ist die Wahl von Zohran Mamdani zum Bürgermeister von New
York, insbesondere dank der Stimmen junger Menschen, in einer Stadt, in der der
Anteil der Juden sehr hoch ist, was natürlich bedeutet, daß viele junge Juden
für ihn gestimmt haben.
Die langfristigen Auswirkungen für Israel und die Welt sind beträchtlich. In
Verbindung mit den bedeutenden Mobilisierungen gegen Völkermord auf der ganzen
Welt erleben wir die Entstehung eines Katalysators für radikale Veränderungen,
in einer Art globaler politischer Selbstreflexion, die zu einem bewußten
Engagement für konkrete Maßnahmen führt. In diesem Sinne hat der Chor der
„Patrioten und Weltbürger” im Namen der grundlegenden Prinzipien der
Menschlichkeit die Bühne betreten.
In einem solchen Kontext wird trotz aller Hindernisse die Freilassung von
Marwan Barghuti möglich und es kann die Zwei-Staaten-Lösung umgesetzt werden,
indem dieser Prozeß mit Lyndon LaRouches Oasenplan konkretisiert wird, den er,
wie wir uns erinnern, im Dialog mit irakischen und israelischen Vertretern
vorschlug.
Und die gute Nachricht ist: Es wird unser Engagement sein – das wohlüberlegte
und fundierte Engagement der Bürger –, das die führende Rolle dabei spielen
wird, Frieden zu schaffen.
|