Jan Øberg ist ein unabhängiger Friedens- und Zukunftsforscher,
Kunstfotograf, Kolumnist, Kommentator und Mediator aus Dänemark. Er hat einen
Doktortitel in Soziologie von der Universität Lund in Schweden und war
Gastprofessor an etwa zehn internationalen Universitäten. Er ist Mitbegründer
und Direktor der Transnationalen Stiftung für Friedens- und Zukunftsforschung
(TFF), die 1986 „als unabhängige Denkfabrik gegründet wurde, als ein
globales Netzwerk, das sich zum Ziel gesetzt hat, mit friedlichen Mitteln
Frieden zu schaffen. Sie weckt die Leidenschaft für den Frieden von der Basis
bis in die Machtzentren.“ Michelle Rasmussen vom dänischen Schiller-Institut
interviewte Øberg am 20. Februar 2025. Das Transkript wurde leicht überarbeitet
und gekürzt und aus dem Englischen übersetzt, Zwischenüberschriften sind
hinzugefügt. Das Interview ist auch als Video
verfügbar.
Michelle Rasmussen: Vielen Dank für die Gelegenheit,
Sie in diesen turbulenten, welthistorischen Tagen zu interviewen. Wie beurteilen
Sie die aktuelle Weltlage vor dem Hintergrund des Übergangs von einer
Weltordnung zu einer anderen?
Jan Øberg: Danke, daß ich hier sein darf. Dieser Übergang verläuft für
den Großteil der Welt, für 85% oder mehr, sehr gut, nicht zuletzt dank Chinas
Initiativen für Sicherheit und eine gemeinsame Zukunft der Menschheit im Rahmen
der Gürtel- und Straßen-Initiative etc. Aber die Menschen im Westen haben nichts
von dieser Wende verstanden, und wenn doch, dann wollen sie nicht akzeptieren,
daß sie nicht mehr dominieren.
Das ist natürlich das Ende des Westens: Man kann sich entweder dem Rest der
Welt anschließen oder man kann sich isolieren und selbstzerstörerisch werden.
Und es schmerzt mich sehr, sagen zu müssen, daß der Westen heute
selbstzerstörerisch ist. Niemand will den Westen zerstören oder die USA besetzen
oder Europa erobern oder so etwas. Dennoch fühlen wir im Westen uns bedroht,
weil es nach 300, 400 oder mehr Jahren diese Situation gibt, wo der Westen nicht
mehr herrschen, entscheiden und der einzige Eigentümer sein kann, der den Rest
der Welt regiert.
Sie erinnern sich an die frühere Unterscheidung zwischen der Ersten Welt, der
Zweiten, Dritten und Vierten Welt. Jetzt steigen die Vierte, Dritte und Zweite
Welt auf und die Erste Welt steigt ab. Das tut natürlich weh! Es tut weh, alt
und gebrechlich zu werden, sozusagen auf dem Sterbebett zu liegen, aber es gibt
keinen Grund, so aggressiv zu sein. Und diese Aggression, dieser Militarismus
erfaßt die gesamte westliche Welt, besonders in Europa.
Aber warten Sie ab, auch was Trump anrichtet, ist selbstzerstörerisch. Denn
man kann nicht wirtschaftliche Entwicklung und Wohlstand haben, einen
Sozialstaat, kulturelle Kreativität, technische Innovation usw., wenn man
gleichzeitig horrende Summen für das Militär verschwendet. Man denkt darüber
nach, wie man den nächsten Krieg führen kann, anstatt darüber, wie man eine gute
Gesellschaft aufbauen kann.
Ich zweifle nicht daran, daß dieses Selbstzerstörerische noch einige Jahre
andauern wird, bis auch dem Westen klar ist, daß er im Niedergang begriffen ist.
Es wird einen „Pravda-Moment“ geben, wie ich es genannt habe, wenn die
Menschen merken, daß die meisten Mainstream-Medien uns über die „Bedrohungen“
ständig belogen haben...
Alle Imperien steigen auf und gehen wieder unter. Es gibt kein Imperium, das
ewig Bestand hat, das ist ein Naturgesetz. Und je mehr man versucht, dagegen
anzukämpfen, desto schneller ist der Niedergang.
Ich sage das schweren Herzens. Ich war nie antiwestlich oder antiamerikanisch
eingestellt. Die westliche Welt hat der Welt viel Gutes gebracht: Kultur,
Innovationen, Lebensweisen, Produkte, gute Ideen wie Redefreiheit, freie Medien
usw. und eine bestimmte Art von Demokratie – obwohl es im Westen nirgendwo mehr
eine Demokratie ist, aber früher war es eine. Die Theorien waren gut. Und jetzt
wurde im Grunde das alles zerstört. Alle Werte des Westens werden jetzt
untergraben, nicht von anderen, sondern vom Westen selbst. Es ist also eine sehr
traurige Situation für den Westen. Dem Rest der Welt geht es gut.
Rasmussen: Wir rufen Europa und die Vereinigten Staaten auf, sich mit
den BRICS-Plus-Ländern, dem Globalen Süden zu verbünden, statt die
Konfrontationspolitik fortzusetzen.
Øberg: Dem stimme ich voll und ganz zu. Aber ich glaube nicht, daß
diese Leute etwas anderes als Konfrontation kennen. Nehmen wir die dänische
Regierung: Sie ist völlig emotional, ihre Politik ist empörend und eine riesige
Geldverschwendung. Dänemark wird sehr bald den Bach runtergehen, und das ist nur
ein Beispiel von vielen.
Wie Sie wissen, bin ich in Dänemark geboren. Dänemark war eine friedliche
Gesellschaft. Dänemark, das war Hans Christian Andersen, Sozialstaat,
Kierkegaard, Volkshochschulen, Gleichstellung der Frauen, geringere
Einkommensunterschiede, die Fähigkeit und der Wille, der Welt auf
unterschiedliche Weise zu helfen, es war stark – wie Schweden, wie die neutralen
Staaten zu dieser Zeit. Schweden war ein Land, in dem man sich auf die
Einhaltung des Völkerrechts, die Vereinten Nationen und die gemeinsame
Friedenssicherung verlassen konnte.
All diese guten Werte sind verschwunden! Das einzige, worüber die dänische
Ministerpräsidentin [Mette Frederiksen] spricht, ist Krieg! Die hat jetzt eine
Art irrationale Störung, pathologisch, würde ich sagen, und sie spielt ständig
Machtspiele. Dahinter steckt keine Substanz. Und das gilt auch für alle anderen
europäischen Länder.
Meine Frage lautet: Kann mir jemand ein Szenario nennen, in dem Rußland die
gesamte Ukraine erobert, dann weiter nach Polen und in die baltischen Republiken
vordringt, nach Finnland und Schweden und in 48 Stunden mit seinen Panzern in
Dänemark landet oder den Eiffelturm besetzt? Ein Land, das nur einen Bruchteil
der Militärausgaben der NATO hat und seit drei Jahren nicht in der Lage ist –
vielleicht absichtlich, ich bin kein Militärexperte –, mehr als 15-20% der
Ukraine einzunehmen? Wohlgemerkt, wer ganz Europa besetzt, muß es auch
verwalten, um es zu behalten. Als ob Rußland nicht schon genug Probleme hätte.
Das sind doch Hirngespinste! Das sind Konstrukte in den Köpfen von Menschen, die
emotional und irrational sind – und verdammt gefährlich! So wächst ihr Glaube,
daß sie „den Westen stark machen“, aber tatsächlich beschleunigen sie den
Niedergang...
Eine neue Sicherheits-und Entwicklungsarchitektur
Rasmussen: Unser erstes Interview1 war am 21. Februar 2022,
nur drei Tage, bevor das russische Militär in die Ukraine einmarschierte. Die
Vorsitzende des Schiller-Instituts, Helga Zepp-LaRouche, hat daraufhin eine neue
internationale Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur2 gefordert,
in der die Sicherheitsinteressen aller Nationen berücksichtigt werden und das
Prinzip „die eine Menschheit zuerst“ gilt. Sie haben dann im Mai des Jahres auf
dem Online-Seminar3 des Schiller-Instituts in Dänemark dazu
gesprochen. Was wären wichtige Aspekte einer solchen Sicherheits- und
Entwicklungsarchitektur?
Øberg: Intellektuell und in Bezug auf die Grundwerte ist das sehr
einfach. Das Problem ist, wie man es mit der derzeitigen politischen Führung
umsetzen kann, deren Denken völlig militaristisch ist.
Es ist einfach: starke, reformierte Vereinte Nationen, mit viel höheren
Budgets, und viel effizienter. Darüber sollten wir reden, wir reden zu wenig
über die Zukunft, denn man kann die Zukunft nicht gestalten, wenn man nur in der
Gegenwart lebt oder an der Vergangenheit hängt. So wie man mit dem Auto nicht
ans Ziel kommt, wenn man nur in den Rückspiegel schaut. Das ist es, was die
westliche Welt tut. China blickt nach vorn, um zu sehen, wohin wir in den
nächsten 40 Jahren gehen werden. Zukunftsdenken ist also wichtig.
[Zweitens] Gemeinsame Sicherheit ist die einzige relevante theoretische oder
konzeptionelle Sichtweise. Wir können auf diesem Globus nur zusammenleben, wenn
wir gemeinsame Sicherheit haben: Das heißt, wir leben sicher mit den anderen,
wenn die anderen sicher mit uns leben. Das war die nicht sehr kreative, aber
wichtige Idee der Palme-Kommission von Olof Palme, dem schwedische
Ministerpräsidenten, der kurz darauf ermordet wurde: die Idee, daß Sicherheit
nicht gegen jemanden gerichtet ist. Einander so zu verstehen, daß wir
Mißverständnisse vermeiden, die Gewalt auslösen können.
Drittens bedeutet es globale Regierungsführung, d.h. etwas für die Demokratie
oder die politische Entscheidungsfindung zu tun. Die ist heute im wesentlichen
national, während sie im wirtschaftlichen und militärischen Sektor global ist.
Diese Sektoren sind, wenn man so will, intellektuell weiter fortgeschritten,
weil sie den ganzen Globus als ein System betrachten: Interkontinentalraketen,
Interventionen und all das und der Aufbau von Imperien. Auch die Leute im
Finanz- und Unternehmenssektor denken global – während wir in einer Demokratie
nur unsere Regierung und unsere Gemeindevertreter wählen können. Das ist
grotesk!
Ich wünsche mir eine globale Demokratie. Beispielsweise, daß wir die
Vertreter unserer Länder in internationale Gremien wählen, seien es NATO oder
EU, Vereinte Nationen oder OECD. Wir könnten auch global über globale Themen
abstimmen. Wenn man per SMS für ein Lied beim Eurovision Song Contest stimmen
kann, warum dann nicht auch das? Ich weiß, ganz so einfach ist es nicht, aber
warum dürfen wir nur unseren Premierminister wählen, dessen Amt immer weniger
Einfluß auf die Zukunft der Welt und des Landes hat, weil immer mehr
Entscheidungen international getroffen werden, von der Weltbank, der NATO oder
wem auch immer.
Viertens würde es defensive Verteidigung bedeuten. Die „Abschreckung“ muß
aufhören. Abschreckung ist eine kranke Idee. Niemand weiß, was das ist, obwohl
alle darüber reden. Abschreckung bedeutet, daß ich dir eine Pistole an den Kopf
halte und sage: „Ich kann dich töten, wo du bist, und sei es 5000 km entfernt.
Ich habe das nicht vor, aber wenn du nicht tust, was ich sage, oder tust, was
mir nicht gefällt, dann kann ich dich umbringen.“
Die naive, egozentrische Vorstellung der NATO etwa beruht auf dieser
abstrusen Idee, wir könnten die Russen davon überzeugen, daß wir keine bösen
Absichten haben und diese Waffen niemals einsetzen werden. „Wir haben Atomwaffen
nur zur Abschreckung.“ Das ist Schwachsinn! (Entschuldigen Sie meine
Ausdrucksweise.) Denn wenn beide Parteien wissen, daß Atomwaffen niemals
eingesetzt werden, dann gibt es auch keine Abschreckung. Also besteht immer die
Möglichkeit, daß man sie einsetzt.
Wir haben keine schlechten Absichten? Wir haben die NATO einfach erweitert,
entgegen allen Zusagen an Michail Gorbatschow. Wir haben das auch mit der
Ukraine versucht, obwohl wir uns niemals in diesem Land hätten einmischen
dürfen. Wie um alles in der Welt kann irgend jemand glauben, daß die andere
Seite das als „friedlich“ akzeptiert?
Defensive Verteidigung bedeutet: defensives Militär. Das bedeutet weniger
Zerstörungskapazität, keine Atomwaffen, nur Kurzstreckenwaffen; Hubschrauber zum
Schutz der Grenzen statt Kampfflugzeuge und Interkontinentalraketen. Die
defensivste Verteidigung in der Geschichte war die Chinesische Mauer: Es ist
sehr schwierig, sie zu überwinden, wenn jemand versucht, einzudringen, aber sie
bedroht niemanden. Es gibt viel moderne Technologie, womit man das erreichen
kann. Das brauchen wir.
Schließlich brauchen wir die Vereinten Nationen von Europa. Weil wir diese
lange konfrontative Situation haben, den ersten Kalten Krieg und jetzt den viel
schlimmeren zweiten Kalten Krieg in Europa. Deshalb brauchen wir, wie
Gorbatschow sagte, ein „gemeinsames europäisches Haus“, ein Diskussionsforum für
Konfliktmanagement, einen Europäischen Sicherheitsrat mit Rußland, in dem wir
über Dinge reden, bevor sie in Gewalt ausarten. Wir müssen lernen, von den
Bäumen herabzusteigen und den militärisch-industriellen-medialen-akademischen
Komplex zu stoppen, und uns mit dem Problem befassen, statt nur damit, wer Recht
und wer Unrecht hat! Das ist krank! In der Ukraine geht es um einen Konflikt
zwischen der NATO mit ihrer Expansion und Rußland mit seinem Wiederaufstieg,
nachdem es am Boden lag. Beide stehen sich gegenüber und mißbrauchen die Ukraine
für ihre Zwecke.
Konfliktlösung ist Problemlösung, und das geht nicht ohne Kreativität, denn
es geht darum, eine bessere Zukunft vorauszusehen und etwas vorzuschlagen, mit
dem alle Parteien leben können. Vielleicht nicht zu 100% glücklich, aber sie
könnten damit leben und sagen: „Nun ja, diese Idee für die nächsten 10 oder 20
Jahre ist für mein Land besser, als den Krieg fortzusetzen.“
Trump hat das nicht verstanden. Er ist nicht für Konfliktlösung. Er will den
Krieg beenden, das ist meiner Meinung nach das Positive. Aber diese
„Kakistokratie“, mit der wir in Europa leben, sagt: „Nein, wir sind beleidigt,
weil wir nicht mit am Tisch sitzen.“ Drei Jahre lang hätten die europäischen
Politiker zum Telefonhörer greifen und mit Putin sprechen können, so wie Trump
es tut. Aber diese Narren haben es nicht getan! Sie waren sich so sicher, daß
sie „gewinnen“ würden! Und jetzt haben sie den Salat. Sie bleiben jetzt völlig
außen vor. Europa macht sich in der Weltgesellschaft zum Narren! Und das ist
schade. Europa ist selbst im Vergleich zu Trump ein Narr. Der tut nur das, was
er die ganze Zeit gesagt hat.
Zurück zu der Frage, wie wir endlich eine sicherere Weltstruktur schaffen
können: Ich würde sagen, wir brauchen Friedenserziehung, wir müssen eine
Friedenskultur pflegen. Gebt den Menschen die Möglichkeit, statt Militärdienst
Friedensdienst zu leisten. Baut diesen Komplex von Militär, Industrie, Medien
und „Experten“ zurück. Das ist ein Bereich, der sich der demokratischen
Kontrolle entzieht. Präsident Eisenhower sagte in seiner Abschiedsrede 1961, daß
es einen „Militärisch-Industriellen Komplex“ gibt, der sich der Kontrolle
entzieht und auf lange Sicht eine Gefahr für die amerikanische Gesellschaft
darstellen kann. Niemand hat dagegen etwas unternommen. Dieser Komplex ist
überall Teil des Tiefen Staats, nicht nur in den USA.
Wir müssen also einige dieser militärischen Strukturen abreißen, die eine
schreckliche Welt und eine schreckliche Verschwendung schaffen. Und dann etwas
Neues aufbauen, wie gesagt: defensive Verteidigung, globale Regierung, stärkere
Vereinten Nationen, eine Europa-UNO usw. usf. Mit etwas Kreativität können wir
das alles erreichen, aber in der Politik gibt es heute keine Kreativität mehr,
keine Vision! Fragen Sie irgendeinen europäischen Politiker: „Wo möchten Sie Ihr
Land in 40 Jahren sehen?“ Die werden Ihnen nichts sagen, jedenfalls nichts, was
Sie gerne hören.
Die Perspektive der wirtschaftlichen Entwicklung
Rasmussen: Wie können eine wirtschaftliche Entwicklungsperspektive und
Chinas Neue Seidenstraße zum Frieden beitragen?
Øberg: Das ist keine einfache Theorie, aber man kann sagen: Wenn man
mit der anderen Seite kooperiert, häufige Kontakte zu ihr hat, dann baut man
kooperative Strukturen auf, man hat ein gemeinsames Projekt. Wenn das
ausbeuterisch ist, so wie es der Westen gegenüber der Dritten Welt war, dann
funktioniert es nicht. Aber wenn alle Parteien sehen: „Hey, ich gewinne etwas
dabei“, dann ist es eine Win-Win-Situation, wie die Chinesen es nennen, eine
kooperative Struktur, dann verringert man das Risiko eines Krieges. Es ist viel
schwieriger, Menschen zu töten, die man kennt, von denen man abhängig ist oder
die einem Vorteile verschaffen.
Wenn man Menschen hingegen nicht kennt, wenn man sie ausbeutet oder
ausgebeutet wird, kommt irgendwann Haß auf, das Gefühl ungerechter Behandlung.
Das Gefühl, daß sich meine Position immer weiter verschlechtert, führt zu
Aufruhr. Man kann also Frieden in Strukturen einbauen, in den Handel einbauen,
in Investitionen, in ein mehrere Jahrzehnte umfassendes Makroprojekt wie die
Gürtel-und-Straßen-Initiative, an der sich jetzt, glaube ich, 140 Länder
beteiligen. Nur die NATO und die EU sind außen vor, so dumm wie sie sind:
Anstatt uns am größten und visionärsten Kooperationsprojekt der Menschheit zu
beteiligen, isolieren wir uns selbst, wie ich schon sagte.
Man könnte so viel tun, wenn man eine Vision hat. Wenn es in der Politik
darum ginge, gute Ideen an den Mann zu bringen, wenn man Kulturschaffende,
Intellektuelle, normale Bürger und ihre zivilgesellschaftlichen Organisationen
einbezieht und sie um Rat fragt. Die Zeit ist vorbei, in der Politiker
Menschen um Rat fragten. Sie glauben, daß sie alles selbst wissen, und treiben
unsere Gesellschaften in die Hölle. Diese Engstirnigkeit macht mir Angst.
Ich bin so alt, ich saß in den 1980er Jahren in der dänischen Kommission für
Sicherheit und Abrüstung, ich habe mit meinen Kollegen an der Universität Lund
in Schweden ständig an Papieren für das Außenministerium geschrieben, fuhr oft
nach Stockholm und diskutierte den ganzen Tag über Texte: „Was bedeutet
Abschreckung? Wie schreibt man das auf Seite 2? Wie verhält es sich damit im
Vergleich zu dem, was man auf Seite 10 sagt?“ Es waren Intellektuelle, die
Entscheidungen trafen und Reden schrieben!
Doch heute verwende ich für die politische Führung das Wort „Kakistokratie“:
Das ist das Gegenteil von Aristokratie, die ich auch nicht gut finde, aber
Kakistokratie bedeutet, daß die Unfähigsten und Schlechtesten regieren. Der
Mangel an Wissen bei den Leuten, die in der westlichen Welt mit einem Atomkrieg
spielen, macht mir große Angst! Die Waffen waren schon immer da. Waffen sind
eine kranke Idee. Es scheint, als ob Menschen in allen Kulturen Waffen wollen.
Man sieht auch überall Atomwaffen, sie zu besitzen ist völlig unmoralisch,
unethisch und nutzlos, sie sind durch nichts zu rechtfertigen, außer daß die
anderen sie auch haben.
Es gibt einen großen Mangel an Wissen, eine Unfähigkeit, mit komplexen
Problemen rational umzugehen – die Fähigkeit zu sehen, was passiert, wenn wir
ein Signal senden. Es macht mich krank, wenn ich das höre: „Wir senden Signale.“
Die senden keine Signale, die verschlimmern die Lage!
Diese Menschen sind gefährlich, und Menschen sind viel gefährlicher als die
Waffen. Wenn man schreckliche Waffen in die Hände von Menschen legt, die nicht
wissen, was sie tun, und die vom Gruppendenken beherrscht sind, dann kommt es
irgendwann zur Katastrophe. Im Moment gibt es niemanden, der zu den tauben und
blinden Politikern im Westen durchdringt und sagen kann: „Sie sind auf dem
falschen Weg, aus folgenden Gründen. Frau Premierministerin, es gibt keine
Bedrohung durch Rußland – aber Sie können sie so provozieren, daß es gefährlich
wird. Es gibt keine Bedrohung, Sie brauchen all dieses Militär nicht. Tun Sie
etwas Konstruktiveres mit dem Geld.“ Man kann nicht zu ihr durchdringen. Diese
Art Demokratie läßt die Menschen nicht mehr zur politischen Führung
durchdringen, die will sie nicht beraten lassen…
Das sind Dinge, bei denen wir in der westlichen Welt sehr vorsichtig sein
sollten – von rechts bis links: Militarismus ist jetzt die Antwort auf alles. Es
gibt nicht einmal mehr eine Linke! Es gibt keine Sozialdemokratie mehr! Denken
Sie an die Tradition von Willy Brandt, Urho Kekkonen, Bruno Kreisky, Olof Palme,
Anker Jørgensen. Diese Menschen hatten erstens ein Gespür dafür, was Krieg ist,
und zweitens waren sie im Vergleich zu den heutigen Politikern Intellektuelle.
Es ist gefährlich, ich sage es immer wieder: „Wacht auf, Freunde im Westen“,
denn was passiert sonst? „Wer in der Demokratie einschläft, kann in der Diktatur
aufwachen.“ Das ist ein berühmtes Zitat eines deutschen Autors [Otto
Gritschneder]. Der Westen ist auf dem Weg dahin.
Rasmussen: Das Schiller-Institut hat viele wirtschaftliche
Entwicklungsprogramme auf der ganzen Welt vorgeschlagen, darunter einen
Oasenplan4 für den Nahen Osten, und das sind Visionen einer Zukunft,
auf die wir hinarbeiten können. Kürzlich haben Sie in einem Interview George
Bernard Shaw zitiert, den auch Robert F. Kennedy sen. sehr treffend zitierte:
„Du siehst Dinge und fragst: ‚Warum?‘ Aber ich träume von Dingen, die es noch
nie gab, und frage: ‚Warum nicht?‘“ (Aus: Zurück zu Methusalem) Warum ist
es also wichtig, Zukunftsvisionen zu entwickeln, um Menschen zu inspirieren?
Øberg: Ich freue mich, daß Sie dieses schöne Zitat von George Bernard
Shaw verwenden. Sie werden es wahrscheinlich seit 45 bis 50 Jahren in meinen
Schriften finden, und ich glaube nicht, daß ich jemals eine öffentliche Rede
beendet habe, ohne es zu zitieren. Ich glaube fest daran, und das liegt daran,
daß einer meiner Mentoren der [norwegische Politikwissenschaftler] Johan Galtung
war, der immer sagte, man hat seine Arbeit als Wissenschaftler erst dann getan,
wenn man: 1. eine empirische Analyse der Realität durchgeführt hat, 2. anhand
einiger Maßstäbe kritisiert hat, was daran nicht gut genug ist, und 3.
Vorschläge gemacht hat, was getan werden sollte. Das umfangreichste Werk über
die Auflösung Jugoslawiens etwa haben drei Friedensforscher verfaßt – ich, Johan
Galtung und Håkan Wiberg, „Jugoslawien – was hätte man tun sollen?“, das sind
2000 Seiten online.5
Und darum geht es in der Friedensforschung und bei einer Friedensbewegung.
Eine Friedensbewegung, die nur Waffen kritisiert, ist eine antimilitaristische
Bewegung, was zwar gut und wichtig ist, aber es ist keine Friedensbewegung. Und
im Grunde haben wir heute nirgendwo eine Friedensbewegung, weil die Menschen
nicht darüber nachdenken, wie man Probleme lösen kann. Sie kritisieren, was
schlecht ist, aber sie fragen nicht, wie die Welt sein könnte nach diesem Motto:
„Warum nicht?“ Und das ist es, was ich als meine Aufgabe als Intellektueller
betrachte; zusammen mit meinen Kollegen in der Transnationalen Stiftung haben
wir das immer getan.
Die Welt ist viel zu komplex und schwierig und in gewisser Hinsicht
gefährlich, als daß man den Politikern die Entscheidung überlassen könnte, was
zu tun ist. Man kann nicht eine kritische Studie über etwas erstellen und dann
erwarten, daß Politiker die Welt verbessern. Diese Zeiten sind vorbei, das war
einmal. Wir hatten gute Staatsführer. Heute haben wir keine
Führungspersönlichkeiten mehr, oder wenn überhaupt, dann nur schlechte. In der
westlichen Welt mag es ein paar Ausnahmen geben – ich kann mich irren –, aber um
Himmels willen, jeder Frieden ist daraus verschwunden! Es gibt keine
Friedensforschung mehr, keine Friedensdiskussion! Das Wort Frieden wird in den
Medien nie erwähnt! Ich habe in letzter Zeit keinen Politiker mehr „Frieden“
sagen hören, außer wenn Verrückte wie [der ehemalige NATO-Generalsekretär]
Stoltenberg sagen: „Der Weg zum Frieden führt über Waffen und Krieg“! Orwell
wäre neidisch.
Deshalb sind Visionen aller Art so wichtig, Debatten über Ideen. Man darf das
nicht mit dem Argument „das ist unrealistisch“ abtun, denn das Unrealistischste
ist das, was die westliche Welt heute tut, und meint, daß sie selbst oder die
Welt mit einem solchen Westen überleben kann. Denn dafür haben wir noch viel zu
viele Waffen und falsches Denken.
Deshalb würde ich sagen, wir brauchen überall einen Aufstand der Menschen.
Protest, aber mit positiven Visionen, wie: „Ihr Narren, man könnte alles ganz
anders machen, und wir würden alle davon profitieren. Warum tut ihr nicht etwas
Gutes für die Menschheit? Warum tut ihr nur Schlechtes für euer eigenes Volk und
für die Menschheit?“
Wir brauchen einen intellektuellen, moralischen und kulturellen Anstoß. Ich
bin es leid, über Geopolitik zu diskutieren – wer dies tut und wer das tut! Denn
das führt mit wenigen Ausnahmen nie zu mehr als nur Kommentaren über den
Wahnsinn! Und zur Interpretation des Wahnsinns! Das brauchen wir nicht mehr!
Rasmussen: Was ist Ihr Rat als Experte für Konfliktlösung an die
Regierungen, die jetzt zum Nahen Osten und zur Ukraine verhandeln?
Øberg: Beziehen Sie alle Parteien ein, reden Sie nicht nur mit einer
oder zwei oder drei. Zweitens: Finden Sie heraus, welche Konflikte es zwischen
ihnen gibt, welche Probleme sie miteinander haben. Sprechen Sie nicht darüber,
wer Recht hat und gut ist und wer Unrecht hat und schlecht ist. Drittens: Folgen
Sie Ihrer Vision, wenn Sie eine haben, oder fragen Sie Menschen aus der Kultur
und andere nach einer Vision. Bei Israel und Palästina geht es um den gesamten
Nahen Osten.
Johan Galtung, mein Mentor und mehr als 50 Jahre lang ein guter Freund, der
vor einem Jahr verstorben ist, hat den bisher besten Plan für den Nahen Osten
gemacht, ich glaube, das war 1973. Er war dort überall und hat mit den Menschen
auf allen Seiten gesprochen, und dann wandte er die Idee an, daß es Teil eines
Ganzen sein muß: Israel, Palästina, das muß man im größeren regionalen Kontext
sehen. Wie kann man eine Art Wirtschaftsgemeinschaft schaffen, von der alle
profitieren? Wie kann man nach all dem, was geschehen ist, Versöhnung und
Traumabewältigung erreichen? Wie kann man das mit einer völlig anderen Art von
Sicherheit und dem Verbot von Massenvernichtungswaffen in der Region verbinden?
usw. usw. Er hat einen sehr komplexen Friedensplan vorgeschlagen, er ist auf der
Website der Transnational Foundation zu finden. Das ist viel besser als alles,
was seitdem von Politikern vorgeschlagen wurde, die glauben, alles zu wissen –
was sie nicht tun.
Der Ansatz dabei ist, und das ist eine sehr wichtige abschließende Bemerkung:
Vermitteln kann nur jemand, der nicht am Konflikt beteiligt ist. Ich meine,
Trump versucht jetzt, die Situation in der Ukraine zu schlichten, obwohl die
Vereinigten Staaten der Hauptgrund dafür sind, daß es dort einen Krieg gibt:
Obamas Regimewechsel in Kiew 2014, die Aufrüstung der Ukraine und die Tötung von
Russen, die NATO-Osterweiterung, all das ist natürlich das Werk der USA, mit
Hilfe der NATO-Verbündeten.
Anmerkungen
1. Interview med freds- og fremtidsforsker Jan Øberg:
Om Ukraine-Rusland-USA-NATO krisen, Danmarks forhandlinger
om amerikanske soldater i Danmark, og Xinjiang spørgsmålet, den 21. februar 2022, Interview in dänischer Sprache.
2. Zehn Prinzipien för eine neue internationale Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur, Helga Zepp-LaRouche, Schiller-Institut.
3. We Need a New Security And Development Architecture for All Nations, Not a Strengthening of Geopolitical Blocs,
Video-Konferenz des Schiller-Instituts in Dänemark und Schweden, 25.05.2022, in englischer Sprache.
4. Der Oasenplan: LaRouches Vision für Südwestasien, Video, Schiller-Institut.
5. Yugoslavia – What Should Have Been Done, „Jugoslawien – was hätte man tun sollen?”, Blog über die Auflösung Jugoslawiens, von Johan Galtung, Jan Øberg and Håkan Wiberg, in englischer Sprache.
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