Afghanistans Transformation durch regionale Konnektivität
Von Stephan Ossenkopp
Ich möchte mich erst mal vorstellen: Stephan Ossenkopp. Ich bin
Direktkandidat der Bürgerrechtsbewegung Solidarität (BüSo) im Bezirk Pankow, und
meine Beobachtung ist, daß das Thema Afghanistan im deutschen
Bundestagswahlkampf nur eine marginale Rolle spielt, wenn überhaupt, dann
vielleicht als sicherheitspolitisches Thema. Aber angesichts der Tatsache, daß
die deutsche Bundeswehr 20 Jahre lang auch im Rahmen von NATO-Einsätzen dort in
Afghanistan gewesen ist, gebührt dem Land Afghanistan im Wahlkampf und überhaupt
in der deutschen politischen Diskussion ein viel größerer Raum. Wie haben
Milliarden von Euro ausgegeben und haben versprochen, das Land in irgendeiner
Weise so zu entwickeln, daß es hinterher besser dasteht als vorher. Aber das
kann man ja heute überhaupt nicht sagen. Anstatt dieses Thema produktiv
anzugehen, wird das Land mit einem Bann belegt, mit einem absoluten Tabu, und
jeder Kontakt mit den dortigen Regierungsstellen ist ein absolutes No-Go.
Das kann natürlich so nicht bleiben. Hier in Deutschland leben ja auch viele
Deutsch-Afghanen, viele, viele Tausend. Wir haben ja auch heute einige hier, die
sprechen werden, die sind gut integriert, gut vernetzt, die auch weltweit gut
integriert und vernetzt sind. Und sie alle wollen, daß ihr Land aufgebaut wird.
Da liegt also ein unglaubliches Potential, das wir auch ausschöpfen müssen,
anstatt jetzt im Rahmen dieser Diskussion von Sicherheit und Flüchtlingen und
Abschiebungen usw. alles in einen Topf zu werfen.
Die viel bessere Diskussion in diesem Zusammenhang wäre eine über die
wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans als einzig funktionierende und
humanistische vertretbare Form der Verhinderung weiterer Flüchtlingsbewegungen.
Das wäre auch eine angemessenere Aufarbeitung unserer 20 Jahre währenden
Besatzung Afghanistans. Und deshalb haben wir von der BüSo entschieden,
Afghanistan-Experten einzuladen, um über das Land zu informieren, Optionen
aufzuzeigen, wie man anders über eine Lösung nachdenken kann.
Infrastruktur als das Grundgerüst für jeden weiteren Schritt
Ich möchte vor allen Dingen über das Thema „Konnektivität und Afghanistan“
sprechen. Mit Konnektivität ist gemeint: der Aufbau von Infrastruktur als das
Gerüst jedes weiteren Schritts der Industrialisierung und jeder mechanisierten
Landwirtschaft. Natürlich geht es dabei um Straßen, Schienenwege, es geht um
städtische Infrastruktur; es geht natürlich auch um die Wasserwege, Pipelines,
Stromleitungen und vieles mehr.
Ich möchte mich hier aber auf die nationale und überregionale
Verkehrsinfrastruktur konzentrieren, vor allem auf Eisenbahnprojekte. Denn diese
werden die Anbindung Afghanistans an die regionalen Nachbarländer beschleunigen
und damit den Import und Export von Gütern drastisch ankurbeln können.
Gleichzeitig entstehen dadurch im Landesinneren potentiell
Sonderwirtschaftszonen, regionale Landwirtschaftszentren und immer mehr
Ausbildungsplätze für Facharbeiter in der Landwirtschaft und in der Industrie,
was natürlich extrem wichtig ist, um neue Ingenieure, Fach- und Bauarbeiter zu
gewinnen.
Dies wird die Grundlage sein, um hochwertige Produkte sowohl für den
Verbrauch der Haushalte in Afghanistan als auch für den internationalen Handel
zu produzieren.
Die Transafghanische Eisenbahn
Das erste und wie ich finde, fast sogar das wichtigste große Eisenbahnprojekt
ist die sogenannte Transafghanische Eisenbahn. Sie ist zwar schon lange im
Gespräch gewesen, aber es gab jetzt gerade am Ende des vergangenen Jahres, 2024,
ein großes Experten- und Fachleutetreffen in der usbekischen Hauptstadt
Taschkent, und dort hat man eben auch über die Wirtschaftszusammenarbeit mit
seinen Nachbarstaaten diskutiert.
Der usbekische Verkehrsminister, Herr Machkamow, sagte, daß er das Projekt
des Transafghanischen Eisenbahnkorridors vorantreiben will, sodaß im kommenden
Jahr – also in diesem Jahr – schon der erste Spatenstich getan werden kann. Es
geht um fünf Jahre Bauzeit, und ich werde gleich eine Karte des Projekts
zeigen.
© Jawad Niksad
© Railcop.pk (via Instagram)
Abb. 1: Impressionen von der Ibn-Sina-Konferenz
Abb. 2: Karte des Transafghanischen Eisenbahnkorridors
Das hier (Abbildung 1) sind sechs Impressionen von einer
Ibn-Sina-Konferenz im November 2023, an der Fachleute teilgenommen haben, auch
von uns vom Schiller-Institut, und hier unten in der Mitte bin auch ich. Das ist
ein Roundtable, ein Runder Tisch von Verkehrs- und Infrastrukturexperten, Leute
von NGOs, Bildungseinrichtungen waren mit dabei. Ich will damit nur belegen, daß
wir mit diesem Projekt Ibn Sina auf jeden Fall schon dabei sind.
Hier (Abbildung 2) sehen wir Afghanistan, man
kann erkennen, wo die Stadt Termiz liegt, wo die Bahn beginnt – das ist im Süden
von Usbekistan –, und dann wird diese Eisenbahnlinie durch Masar-i-Scharif bis
nach Kabul und dann weiter bis nach Peschawar in Pakistan geleitet:
das ist der sogenannte Transafghanische
Eisenbahnkorridor. Es können dann Güter von Usbekistan über afghanisches
Territorium nach Pakistan transportiert werden, und die Transportzeit kann von
derzeit 35 Tagen auf nur 3-5 Tage verkürzt werden. Das bedeutet natürlich, daß
die Kosten für Standardcontainer massiv sinken und das Frachtvolumen massiv
ansteigen kann, geschätzt auf jährlich über 10 Millionen Tonnen.
Das ist ein 650-km-Eisenbahnprojekt, das von Termiz
über Masar-i-Scharif bis zur pakistanischen Grenze führt, und dann in Pakistan
angebunden werden kann an eines der Prestigeprojekte der Neuen
Seidenstraße, der Belt and Road Initiative (BRI), nämlich den
China-Pakistan-Wirtschaftskorridor, der dann an die Küsten Pakistans führt und
es ermöglicht, daß Güter von dem landeingeschlossenen Afghanistan, Usbeki-
stan oder auch Kasachstan, das ja auch landeingeschlossen
ist, bis zu den Häfen ans Arabische Meer transportiert werden können. Jedenfalls
wird diese Transafghanische Eisenbahn zu völlig neuen Beziehungen zwischen
Zentralasien, Afghanistan, Pakistan, aber auch Iran und China führen – Iran im
Westen von Afghanistan und China im Osten von Afghanistan.
Der Iran hat beispielsweise schon seit 20 Jahren eine Strategie, die sich
„Blick nach Osten“ nennt. Damit wollen sie auch die Zusammenarbeit mit
Afghanistan vorantreiben und z.B. in den Bergbausektor investieren. Aber auch
Länder wie Turkmenistan im Nordwesten von Afghanistan haben begonnen, als Teil
dieser Infrastrukturinitiative Gaspipelines zu bauen.
Der Wachan-Korridor
© Wikimedia Commons/Chaccard/cc-by-sa 4.0
Abb. 3: Der Wachan-Korridor im Nordosten Afghanistans
Interessanterweise haben wir erst Ende Januar von einem Projekt erfahren, daß
es jetzt vorangetrieben wird (Abbildung 3). Feldstudien werden
vorangetrieben für einen Wirtschaftskorridor entlang der sogenannten
Wachan-Straße, das ist dieser 100 km breite und 350 km lange Korridor im Osten
von Afghanistan. Jetzt sind nach Feldstudien die Bauarbeiten an dieser neuen
Transitroute begonnen worden, und auch hier werden die Transitkosten für Güter
massiv gesenkt. In der Presse war zu lesen, daß der Preis für einen Container
mit Pinienkernen – ein Produkt, für das Afghanistan wegen seiner Qualität
besonders bekannt ist – beim Export nach China von ehemals 65.000 Dollar über
den Luftweg auf nunmehr 5.000 Dollar über den Landweg sinken wird. Man kann
natürlich auch eine ganze Reihe anderer afghanischer Produkte nach China
exportieren, den größten Markt der Welt, aber auch Waren aus anderen Ländern,
die über den Transit durch Afghanistan nach China gelangen und auf demselben
Landkorridor natürlich auch in umgekehrter Richtung von China nach Afghanistan
exportiert werden können, zu wesentlich günstigeren Bedingungen. Auch dieses
Projekt ist sehr wichtig.
Die Afghanische Ringbahn
© Afghanisches Eisenbahnamt
Abb. 4: Eisenbahnprojekte in Afghanistan
Dann sieht man hier (Abbildung 4) eine mittelblaue oder
Lapislazuli-blaue Streckenführung. Dort verläuft die sehr wichtige und sehr
zentrale Ringstraße, eine vierspurige Landstraße. Aber hier will man den Bau des
größten inländischen Eisenbahnnetzes vorantreiben. Das wird zwar schon seit
einigen Jahren diskutiert. Aber es betrifft viele Projekte, den Wachan-Korridor,
Transafghanistan, aber eben auch dieses Ringeisenbahnnetz – die Regierung in
Kabul forciert derzeit deren Umsetzung. Es ist schon merkwürdig, daß die vom
Westen unterstützten Vorgängerregierungen zwar auch zahlreiche Konferenzen
abgehalten und viele Arbeitspapiere zu diesen Themen erstellt haben, es aber nie
wirklich zu einem Spatenstich, geschweige denn zur Vollendung dieser Projekte
gekommen ist.
Das ändert sich jetzt gerade, und darin liegen auch die Chancen für die
deutsche Industrie, für den deutschen Export, entweder direkt in Afghanistan
oder über Drittländer – z.B. China, Usbekistan – an der Entwicklung dieser
Projekte mitzuwirken und damit eine Win-Win-Situation, einen doppelten Nutzen zu
erzielen.
Jetzt ist also dieses Eisenbahnprojekt geplant, das entlang dieser Ringstraße
verläuft, von Masar-i-Scharif, das ist im Norden, dann geht es nach Westen nach
Herat, und hier erfolgt dann eine Anbindung an den Iran. Dann gibt es eine
weitere Strecke, die in den Süden führt, nach Kandahar, womit eine weitere
Anbindung an Pakistan möglich ist. Das Projekt soll in zwei Phasen realisiert
werden, Phase 1 umfaßt 657 Kilometer und Phase 2 hat etwa 811 Kilometer.
Jetzt gerade, am 8. Februar, also vor einer Woche, war in den regionalen
Zeitungen zu lesen, daß eine Machbarkeitsstudie für die Eisenbahnlinie
Herat-Kandahar beginnen soll. Der zuständige Minister für öffentliche Arbeiten
unterzeichnete fünf Verträge im Wert von 264 Millionen Afghani mit Vertretern
von fünf in- und ausländischen Unternehmen, und nach der Detailplanung sollen
die Arbeiten innerhalb von acht Monaten abgeschlossen sein – dann kann der Bau
dieser Eisenbahn beginnen. Es wird berichtet, daß das Islamische Emirat
überhaupt den Bau eines großen Schienennetzes anstrebt, um die regionale
Erreichbarkeit zu verbessern und den regionalen Transit und Transfer durch das
Land zu erhöhen.
Die Tabus durchbrechen
Wer jetzt fragt, wie soll denn das alles passieren, es gibt keine
diplomatische Beziehungen zu den Taliban, es gibt Sanktionen? Das stimmt alles,
und das sind alles Hürden auf dem Weg zu einer Normalisierung der Beziehungen.
Aber die Regierung in Kabul ist keineswegs vollkommen isoliert, sie ist es im
Gegenteil immer weniger.
So hat z.B. die Russische Föderation die Taliban von der Liste
terroristischer Gruppen heruntergenommen, Kasachstan hat das auch getan. Der
Präsident von Kasachstan, Tokajew, sagte, daß die Anwesenheit der
Taliban-Regierung in Kabul nun mal eine Tatsache ist, die man nicht
hinwegdiskutieren kann, und im Juli 2024 nahm auch erstmals eine afghanische
Delegation am Sankt Petersburger Wirtschaftsforum teil, einem riesigen
Wirtschaftsforum in Rußland.
Im September des Jahres davor, 2023, gab es auch schon eine Akkreditierung
eines chinesischen Botschafters in Kabul, und kurz danach, im Oktober 2023, hat
eine Delegation aus Kabul an dem Seidenstraßen-Forum in Peking teilgenommen.
Es gibt eigentlich keinen Grund, warum Deutschland nicht diese Hürde
überbrücken und zumindestens die ersten diplomatischen Kontakte mit Kabul
aufbauen sollte. Auch der Ausbau der Straßeninfrastruktur ist für Deutschland
eine wichtige Exportchance oder eine Chance, Memoranden zur Kooperation zu
unterzeichnen.
Natürlich ist Afghanistan aufgrund seiner langjährigen Kriege, der Besatzung
und der Sanktionen, der Isolation, eines der ärmsten Länder, und es ist, wie
gesagt, landeingeschlossen, und diese 2200 km lange zweispurige Ringstraße ist
eine der Hauptverkehrsadern. Aber man kann einen Großteil des Straßennetzes in
Afghanistan modernisieren, man kann es ausbauen. Es ist sicher ein großes
Unterfangen, entlegene Städte und Dörfer, ländliche Gebiete, miteinander zu
vernetzen, aber das ist extrem wichtig, um entsprechend auch in den Regionen
Unternehmen anzusiedeln, landwirtschaftliche Infrastruktur aufzubauen usw.
Es gab natürlich Konferenzen des Westens, die Afghanistan als Thema hatten,
in Doha z.B. gab es einige UNO-Konferenzen, aber die sind eigentlich alle im
Sande verlaufen, denn dort hat man es erst im Juni 2024 geschafft, überhaupt
eine Taliban-Delegation mit hineinzubringen, und das wurde dann auch gleich von
britischen und amerikanischen, westlichen NGOs mit großem Geschrei belegt. Das
ist natürlich keine Lösung.
Die Grundlage für die eigenständige nationale Wirtschaft Afghanistans kann
jetzt geschaffen werden. Es ist extrem wichtig, daß ausländische Investoren und
Technologieunternehmen technologische Güter usw. dorthin liefern. Und das ist
für Deutschland, das jetzt schon im dritten Jahr seiner Rezession ist, ein
extrem wichtiges Unterfangen. Gerade weil sich Afghanistan in der Region sehr
vernetzt, sollte das durchaus auch ein Thema sein, auch für den Wahlkampf
hier.
Das sind eigentlich, wie ich denke – wenn man sich mit dem Land mal jenseits
der Nachrichtensperre und des Tabus beschäftigt – doch viele gute Nachrichten,
was sich dort alles tut. Und ich hoffe, daß ich mit diesen Eisenbahnprojekten,
die ich gerade vorgestellt habe, vielleicht ein bißchen Licht ins Dunkel habe
bringen können.
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